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BERICHT/004: Hirntod im Handel - Innovative Legitimation etablierter Entnahmepraxis (SB)


Paradigmenwechsel beim Bioethikrat des US-Präsidenten

Forum Bioethik: Hirntod und Organentnahme am 21. März 2012 in Berlin


Ankündigung des Themas der Veranstaltung - Foto: © 2012 by Schattenblick

Der Start einer überfälligen Debatte?
Foto: © 2012 by Schattenblick

Ohne das Hirntodkonzept wäre die Transplantationsmedizin zwar nicht am Ende, doch in der Breite ihrer Anwendbarkeit wie der Zahl und Qualität der verpflanzten Organe erheblich eingeschränkt. Was seit 1968, als das Ad Hoc Committee der Harvard Medical School den traditionellen Herz-Kreislauftod durch ein Hirntodkonzept relativierte, gängige Praxis bei der Todesfeststellung von Patienten mit schwerer Hirnschädigung wurde, ist nicht nur aufgrund unterschiedlicher diagnostischer Kriterien in verschiedenen Ländern bei der Vorverlagerung des Todeszeitpunkts in sich widersprüchlich. Bis heute erheben zahlreiche Experten wie Laien Einspruch gegen die Behauptung, daß es sich bei den Lebenszeichen des künstlich beatmeten Körpers eines als hirntot diagnostizierten Menschen lediglich um irreführende Simulationen organischen Lebens handelt.

Dennoch wurde die Debatte um die Validität einer Todesdefinition, die die Entnahme "lebendfrischer" Organe bei angeblich verstorbenen, nach Ansicht der Kritiker jedoch in einem intensivmedizinisch verlängerten Sterbeprozeß befindlichen Menschen ermöglicht, immer nur in Kreisen besonders interessierter Gegner und Befürworter des Hirntodkonzeptes geführt. Das ist auch jetzt der Fall, obwohl mit dem Gesetzesentwurf zur Entscheidungslösung erstmals nach der Verabschiedung des Transplantationsgesetzes (TPG) 1997 aller Anlaß zur Revision des Hirntodkonzeptes bestände. Statt dessen beherrscht der moralische Imperativ, mehr Bereitschaft zur Organspende zu zeigen, das politische und mediale Feld. Opposition gegen den nur vorgeblich ergebnisoffenen, erklärtermaßen auf die Erhöhung der Spendebereitschaft abzielenden Gesetzesentwurf aller Fraktionen des Bundestages wird fast nur in Datenschutzfragen geübt, während die etablierte klinische Praxis der Organentnahme bis auf wenige Ausnahmen unter Parlamentariern und Journalisten sakrosankt zu sein scheint.

Dabei gibt es, wie die jüngere Entwicklung der bioethischen Diskussion in den USA zeigt, objektiven Bedarf an einer Neubestimmung der bisher zur Anwendung gelangten Explantationskriterien. Der Deutsche Ethikrat trug dem insofern Rechnung, als daß er einen der maßgeblichen US-amerikanischen Kritiker des Hirntodkonzeptes, den Neurologen Alan Shewmon, zu einer Veranstaltung seiner Reihe "Forum Bioethik" am Vorabend der ersten Lesung der Gesetzesnovelle im Bundestag lud. Vor vollem Haus gingen in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften acht Mediziner und Philosophen unter dem Titel "Hirntod und Organentnahme" der Frage nach, ob es "neue Erkenntnisse zum Ende des menschlichen Lebens" gibt. Ausgemachte Kritiker der Transplantationsmedizin befanden sich nicht unter den Referenten und Disputanten, doch wurde mit dem eigens zu diesem Zweck von Los Angeles nach Berlin gereisten Neurologen immerhin ein zentraler Akteur der bioethischen Debatte in den USA aufgeboten.

Alan Shewmon im Vortrag  - Foto: © 2012 by Schattenblick

Alan Shewmon
Foto: © 2012 by Schattenblick


Alan Shewmon - vom Hirntodbefürworter zum Hirntodkritiker

Wie Alan Shewmon berichtete, wurde er nach dem Ende seiner Ausbildung zum Neurologen 1981 häufig zur Hirntoddiagnose herangezogen und war stets ein Verfechter der Gültigkeit dieser Todesdefinition. Erste Zweifel kamen ihm 1989, als er mit an Hydranenzephalie leidenden Kindern in Kontakt kam, die aufgrund der bei dieser seltenen neurologischen Fehlbildung kaum vorhandenen Großhirnrinde keinerlei Bewußtseinsleistung zeigen dürften, dies aber tun. 1992 wurde er zu dem Fall eines 14jährigen Jungen konsultiert, der nach einem Schädel-Hirn-Trauma als hirntot diagnostiziert worden war, was seine Eltern nicht akzeptieren konnten. Um unter Beweis zu stellen, daß der Herztod des Jungen unmittelbar bevorsteht, kamen die Ärzte mit den Eltern überein, seine Versorgung 48 Stunden lang auf die künstliche Beatmung und die Flüssigkeitszufuhr zu reduzieren, um der Natur ihren Lauf zu lassen.

Tatsächlich überlebte der Junge und wurde, obwohl er in Kalifornien rechtlich gesehen bereits tot war, in ein Pflegeheim überstellt. Dort bat man Shewmon um eine zweite Diagnose, und er gelangte erneut zu dem Ergebnis, daß der Junge hirntot sei. Er verstarb erst 63 Tage später an einer unbehandelten Lungenentzündung, was Shewmons Glauben an das baldige Eintreten des Herztodes nach Ausfall des Gehirns vollends erschütterte. Ein weiteres Motiv, diese Todesdefinition in Frage zu stellen, war die Entdeckung, daß die somatische Pathophysiologie schwerwiegender, im Halswirbelbereich erfolgter Querschnittslähmungen praktisch identisch ist mit der von Hirntodpatienten. Im Unterschied zu letzteren bleibt jedoch das Bewußtsein bei der Durchtrennung des Rückenmarks erhalten, was den Neurologen in seinen Zweifeln, den Hirntod als Tod des ganzen Organismus zu akzeptieren, bekräftigte.

1998 dokumentierte Shewmon 175 Fälle, bei denen als hirntot diagnostizierte Patienten länger als eine Woche mit intensivmedizinischer Betreuung überlebten, in einem Fall sogar über 14 Jahre. Insgesamt wiesen diese Patienten erstaunliche Entwicklungen bei der Wiederherstellung normaler Körperfunktionen oder der Erholung von Krankheiten auf, sie bedurften zum Teil so geringer Betreuung, daß sie mit Hauspflege auskamen. Dieser empirische Befund bildete die Grundlage seines 2001 im Journal of Medicine and Philosophy veröffentlichten Essays "The Brain and Somatic Integration: Insights Into the Standard Rationale for Equating 'Brain Death' With Death." Um seine dort aufgestellte These zu belegen, daß das Gehirn nicht die zentrale Integrationsinstanz des Körpers ist und sein Ausfall damit auch nicht den Tod des ganzen Menschen bedeuten könne, verweist er unter anderem darauf, daß bei als hirntot diagnostizierten Patienten zentrale somatische Funktionen aufrechterhalten bleiben. Die Regulierung der Körpertemperatur wie des Wasser- und Mineralhaushaltes, das Herz-Kreislauf- und das Verdauungssystem, die Infektionsabwehr und Wundheilung, das Körperwachstum und die Geschlechtsreifung bei hirntoten Kindern, das Wachstum eines Fötus im Körper einer hirntoten Mutter oder kardiovaskuläre wie hormonelle Reaktionen bei chirurgischen Eingriffen, die ohne Betäubung vorgenommen werden - diese und andere Vitalfunktionen sind bei einer Leiche nicht festzustellen. Es bedarf einer erheblichen Abstraktionsleistung, um diese Menschen aufgrund der fehlenden Spontanatmung und eines nicht mehr vorhandenen personalen Bewußtseins, um zwei zentrale Hirntodkriterien zu nennen, dennoch für tot zu erklären.

Alan Shewmon im Vortrag  - Foto: © 2012 by Schattenblick

Neurologische Erkenntnisse im Schnelldurchgang
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Das Gehirn ... als zentrale Integrationsinstanz des Körpers überschätzt

In dem bis auf den letzten Platz besetzten, um einen weiteren Raum mit Videoübertragung ergänzten Auditorium wurde die Veranstaltung durch ein Grußwort des Vorsitzenden des deutschen Ethikrats, den ehemaligen Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jortzig, eröffnet. Sein Verweis darauf, daß das Transplantationsgesetz keine verbindliche Todesdefinition enthält, ließ das Unbehagen ahnen, das insbesondere Juristen wie er angesichts der etablierten Praxis der Organentnahme verspüren müßten. Vorgestellt durch den Moderator Volker Gerhardt vom Ethikrat stieg Alan Shewmon, ohne große Umschweife zu machen, in einen inhaltlich stark komprimierten, zudem auf Englisch gehaltenen Vortrag ein, dessen Inhalt sich vielen Anwesenden nicht ohne weiteres erschlossen haben dürfte. Zwar präsentierte Shewmon seine Thesen und Positionen auf Schaubildern, und wer des Englischen nicht mächtig war, konnte mit Kopfhörern einer Simultanübersetzung lauschen. In der späteren Debatte wurde jedoch kaum auf die Thesen Shewmons eingegangen, und so wirkte ihre Präsentation im Gesamtkonzept des Abends eher wie eine aus Gründen der Vollständigkeit notwendige, inhaltlich aber unverknüpft bleibende Pflichtübung.

Auf den zweiten Blick allerdings war zu bemerken, daß das Hirntodkonzept inzwischen nicht mehr nur von den einschlägig bekannten Kritikern - Angehörige von Unfallopfern, christliche Lebensschützern, linke Biomedizinkritiker, dissidente Ärzte - in Frage gestellt wird, sondern auch von ausgemachten Befürwortern der Organverpflanzung. So ist Shewmon keineswegs ein prinzipieller Gegner der Transplantationsmedizin. Er will lediglich in der Kohärenz und Konsequenz wissenschaftlicher Analyse ernstgenommen werden und ist so gewissenhaft, daß er Zweifeln an eigenen Überzeugungen auch dann nachgeht, wenn ihn dies in eine Außenseiterposition manövriert. Diese ist argumentativ allerdings so gut ausgebaut, daß der nationale Ethikrat der USA, der President's Council on Bioethics (PCBE), dem Professor für Pädiatrische Neurologie am UCLA Medical Center in dem Dezember 2008 veröffentlichten White Paper "Controversies in the Determination of Death" den prominenten Platz des maßgeblichen Kritikers des Hirntodkonzeptes einräumte.

Ausgehend von dem Anspruch, daß der Tod bei unwiderruflicher Beendigung der Funktionen des Organismus als Ganzes festzustellen sei, ist der Verlust der integrativen Einheit des Organismus für Shewmon das zentrale Kriterium der Todesfeststellung. In der strukturellen und ontologischen Ausdifferenzierung dieser Integrationsleistung weist der Neurologe den konstitutiven Bedingungen des Lebens primäre Bedeutung zu. Im Unterschied zu unbelebten Dingen trete der aktive körpereigene Widerstand gegen den entropischen Zerfall des Organismus als Merkmal dieser Integrationsleistung in Erscheinung, was Shewmon mit dem Bild einer "Blase von Anti-Entropie in einem Ozean der Entropie" illustriert. Diese Anti-Entropie werde durch das Zusammenwirken zahlreicher biochemischer Prozesse gewährleistet.

Demgegenüber sei die gesundheitserhaltende und überlebensfördernde Integration auf die Aufrechterhaltung vitaler Funktionen beschränkt. Im Unterschied zu den konstitutiven Bedingungen des Lebens, die essentiell auf den Funktionen der Zelle, der Organe oder des Organismus beruhen und nicht auf medizinische oder technische Weise zu substituieren sind, zeichne sich diese Form der Integration durch ihre relative Ersetzbarkeit etwa durch prothetische oder pharmakologische Hilfen aus.

Dem Gehirn weist Shewmon im Unterschied zu den Befürwortern des Hirntodkonzepts, die seine Funktionsfähigkeit mit der Integration der Physis gleichsetzen, nur relative Bedeutung für das menschliche Leben zu. Die von ihm ausgehende zentralnervöse Regulation des Körpers betreffe zwar gesundheitserhaltende und überlebensfördernde, nicht aber konstitutive Integrationsleistungen. Das Gehirn steuere den Körper auf zweierlei Weise, entweder durch direkte neurale Kontrolle über das Rückenmark und periphere Nervensystem, oder durch die von Hypophyse und Hypothalamus ausgeübte endokrine Kontrolle.

Wie also kann die somatische Integration ohne diese Steuerinstanzen erfolgen, fragt Shewmon und beantwortet dies damit, daß Nervensystem, endokrines System und Herz-Kreislaufsystem in ihrer Funktionalität nicht allein auf die höheren Hirnanteile angewiesen seien. So sei das Rückenmark nicht nur eine passive Vermittlungsstelle für Nervenimpulse des Gehirns, sondern eine eigenständig agierende Instanz der Integration. Zwar stelle das Rückenmark unterhalb einer Stelle, an der eine akute Durchtrennung der neuronalen Verbindung erfolgt, seine regulative Tätigkeit ein. Doch kehrten diese Funktionen wie etwa die Steuerung des Blutdrucks allmählich zurück und würden quasi autonom vom unzerstört gebliebenen Teil des Rückenmarks übernommen. So sei auch die relative Stabilität der seltenen Fälle von chronischem, nicht nach wenigen Tagen durch Versagen des Herz-Kreislaufsystems eintretendem Hirntod teilweise auf die Integrationsleistung des Rückenmarks zurückzuführen.

Shewmon weist zudem auf die ihrerseits weitgehend autonom agierenden Nervenzentren des Herzens, das die Kontraktionen dieses zentralen Organs auch ohne Gehirnbeteiligung auslösen kann, und des Magen-Darm-Traktes hin. In letzterem Fall handelt es sich um ein System von 100 Millionen Neuronen, das aufgrund seiner komplexen Arbeitsweise bisweilen als "zweites Gehirn" bezeichnet wird.

Insgesamt seien die hochdifferenzierten Steuerungsfunktionen des Gehirns auf die Aufrechterhaltung somatischer Funktionen aller Art ausgerichtet, allerdings seien sie nicht für den konstitutiven Charakter menschlichen Lebens verantwortlich. Das gelte auch für die Hirnstammreflexe, die bei der Hirntoddiagnose auf ihren Totalausfall hin überprüft werden. Für Shewmon liegt der qualitative Unterschied zum Hirntodkonzept darin, daß etwa der Ausfall der Spontanatmung durch künstliche Beatmung ersetzt werden kann und damit nicht das Ende einer konstitutiven Integrationsleistung bedeutet. Der Hirntod müßte die Desintegration der Physis zwingend zur Folge haben, wenn es sich um den Tod des ganzen Menschen handelte. Unabhängig davon, ob das Gehirn oder die Nervenbahnen, über die Reize und Reizantworten transportiert werden, zerstört sind, müßten die davon betroffenen Regionen des Körpers jeglicher Integrationsleistung verlustig gehen, wenn der Hirntod mit der klassischen Todesdefinition des Herz-Kreislauf-Stillstandes qualitativ gleichzusetzen wäre.

Das Kriterium der Unumkehrbarkeit des Todes ist für Shewmon ein starkes Argument gegen die Gültigkeit des Hirntodkonzepts. Der mit einer schweren Hirnschädigung verbundene Niedergang anderer Organfunktionen kann zum einen Folge der Schädigung anderer Organsysteme sein und ist auch bei längerfristigem Hirnausfall reversibel. Da ein befristeter Hirnausfall nicht als Todeszustand betrachtet wird, obwohl er desintegrative Auswirkungen haben müßte, liegt für Shewmon die Schlußfolgerung nahe, daß die somatischen Integrationsleistungen des Gehirns gänzlich von das Überleben fördernder und die Gesundheit erhaltender Art sind, jedoch keinen konstitutiven, also nicht zu substituierenden Charakter haben. Weitere Ausführungen Shewmons zu den integrativen Leistungen des endokrinen und Herz-Kreislaufsystems komplettierten das Bild vom diagnostizierten Hirntod prinzipiell davon unbeeinträchtigt bleibender Integrationsleistungen des Körpers, die die These vom Gehirn als unersetzbarem Steuerorgan widerlegen.

Vortragsfolie Alan Shewmon - Foto: 2012 by Schattenblick

Bioethisches Fazit auf einen Blick
Foto: 2012 by Schattenblick

Zum Ende seines Vortrags beim Deutschen Ethikrat vergleicht Shewmon den prototypischen Fall eines chronischen Hirntoten, der sich in einem stabilen Zustand ohne medikamentöse Kreislaufunterstützung am Beatmungsgerät unter relativ geringem Pflegeaufwand befindet, mit dem eines komatösen Krebspatienten im Endstadium. Dessen Zustand verschlechtert sich unter umfassender intensivmedizinischer Betreuung, also unter Gabe kreislaufunterstützender Medikamente und künstlicher Beatmung, angesichts eines akuten Ausfalls der Leber und der Nieren rapide. Dieser Sterbende ist noch nicht tot, dabei ist sein körperlicher Zustand weit schlechter als der eines chronischen Hirntoten. Auch ein Unfallopfer, bei dem der Hirntod diagnostiziert wird und dessen Organe explantiert werden sollen, kann durchaus in einem weit besseren körperlichen Zustand sein als ein Krebspatient im Endstadium seiner Krankheit. Dennoch wird das Unfallopfer für tot erklärt, während bei dem todkranken Krebspatienten diese Feststellung erst nach Ausfall des Herz-Kreislaufsystems gemacht würde.

So gelangt Shewmon aufgrund seiner Untersuchungen zu der Schlußfolgerung, daß als hirntot diagnostizierte Patienten zwar in ihren Lebensfunktionen schwerwiegend eingeschränkt und vollständig auf äußere Hilfe angewiesen sind, daß ihr Organismus jedoch keineswegs für tot erklärt werden kann. Der President's Council on Bioethics (PCBE) ging in seinem White Paper vom Dezember 2008 [1] zwar nicht so weit, gestand jedoch unter ausführlicher Bezugnahme auf Shewmons Forschungen zu, daß das von ihm bislang zur Verifikation des Hirntods in Anspruch genommene Konzept des Gehirns als unersetzbare Integrationsinstanz körperlicher Funktionen nicht aufrechtzuerhalten sei.

Shewmon erläutert seine Erkenntnisse - Foto: © 2012 by Schattenblick

Volker Gerhardt, Ralf Stoecker, Michael Quante, Alan Shewmon, Stefanie Förderreuther
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Mit dem US-Ethikrat auf zu neuen Ufern der Unbestimmtheit

Unterzieht man die Stellungnahme des US-amerikanischen Ethikrats einer genaueren Betrachtung, dann wird schnell deutlich, wieso man in der Bundesrepublik bei allem Interesse an der Ausweitung der Transplantationsmedizin nicht umhin kommt, der dort geführten Debatte zumindest randläufige Beachtung zu schenken. Hierzulande haben insbesondere die Psychiaterin Sabine Müller [2] und die Kulturwissenschaftlerin Anna Bergmann [3] mit ihren Beiträgen zur Wochenschrift Aus Politik und Zeitgeschichte dazu beigetragen, daß das interessierte Publikum nicht in jenem "Tal der Ahnungslosen" verbleibt, in dem landläufiger Ansicht nach nur die Opfer autokratischer Regierungen in Unwissen gehalten werden, sondern die weitreichenden Entwicklungen in der internationalen Hirntoddebatte zu Kenntnis nimmt.

So schlägt der PCBE vor, anstelle des Begriffs "Brain Death" künftig von "Total Brain Failure" zu sprechen [4]. Zwar ist im klinischen Sinn mit letzterem nichts anderes als das Ergebnis einer konventionellen Hirntoddiagnostik gemeint, doch ziehen es die US-Bioethiker vor, sich der terminologischen Bestimmtheit dieser Todesdefinition in Anbetracht anwachsender Einsprüche gegen ihre Gültigkeit zu entziehen.

Auch geht der PCBE deutlich auf Distanz zu der grundlegenden, bislang unangefochtenen Definition des Körpers eines hirntot diagnostizierten Menschen als einer "Gruppe künstlich aufrechterhaltener Subsysteme". Shewmon bediente sich dieser vor rund 30 Jahren aufgestellten, vor allem auf den einflußreichen Neurologen James Bernat zurückgehenden Definition denn auch mehrmals in seinem Vortrag, um die Haltlosigkeit der Vorstellung, der Körper als Ganzes könne seine Lebensfunktionen nur mit Hilfe des Gehirns aufrechterhalten, zu demonstrieren. Demgegenüber stärkt der PCBE Shewmons Auffassung, daß Integration eine "emergente Eigenschaft des ganzen Organismus" sei. Erhellend ist auch die Feststellung, daß Aussagen zur Überlebensfrist als hirntot diagnostizierter und künstlich beatmeter Menschen kaum möglich wären, weil diese Patienten entweder bei der Organentnahme den Herztod erlitten oder die Beatmung abgestellt würde. Da entsprechende Langzeitstudien aus moralischen, finanziellen und rechtlichen Gründen nicht durchgeführt würden, läuft die Aussage des absehbaren Herztods nach Feststellung des Gehirnversagens vielmehr auf eine "selbsterfüllende Prophezeiung" hinaus [5].

In der ein ganzes Kapitel des White Paper einnehmenden Gegenüberstellung der Position Shewmons mit derjenigen der Verfechter einer "neurologischen" Todesdefinition wird zwar den Advokaten der dritten Auffassung, der Mensch könne als Person gestorben sein, während sein Körper noch lebt, in Sicht auf die potentielle Entuferung der Organentnahme auf Komapatienten und anenzephale Babys eine Absage erteilt. Zwar könne man die Auffassung vom Gehirn als zentralem Integrationsorgan nicht länger aufrechterhalten, auch gesteht man zu, daß es jenseits des Ermessens in der klinischen Praxis erworbener Erkenntnisse liegt, unerschütterliches Wissen über die Tatsachen von Leben und Tod zu erlangen. Dennoch gehen die US-Bioethiker mit der bisherigen Praxis konform, daß die Organentnahme bei als hirntot diagnostizierten Patienten legitim und legal sei.

Wesentlich für die Argumentation, mit der bisherigen Praxis der Organentnahme fortzufahren, ist der Begriff der "Ganzheit". Wo Shewmon die hierarchische Konzeption des menschlichen Körpers als eines vom Gehirn als zentrales Steuerorgan und oberste Kontrollinstanz administrierten Organismus erfolgreich dekonstruiert, führt der Ethikrat diese über die Erweiterung des Begriffs vom menschlichen Leben auf die Interaktion zwischen Körper und Umwelt wieder ein. Die "fundamentale Arbeit" eines Organismus bestehe im Unterschied zu unbelebten Objekten darin, daß er im Austausch mit seiner Umgebung stehe. Er empfange von dort Reize und Signale und sei so der Welt gegenüber offen, er wirke willkürlich und selektiv auf die Welt ein und entspreche damit der empfundenen Notwendigkeit, seine Bedürfnisse zu befriedigen.

Weil all dies bei einem Menschen mit "totalem Gehirnversagen" entfalle, solle er für tot erklärt werden, auch wenn die künstliche Beatmung die Gegenwart des Todes maskiere, so die Lesart der Stellungnahme des BCPE. Im Unterschied zu der Position, die diesen Zustand als Abwesenheit von personalem Bewußtsein interpretiert, argumentiert der Ethikrat zugunsten des Lebensrechts von sogenannten Wachkomapatienten mit apallischem Syndrom, daß diese durchaus eine vitale Offenheit zur Welt zeigten. Auch wenn dies unbewußt erfolge, könnten Patienten mit einem "persistent vegetative state" (PVS) daher nicht für tot erklärt und zur Organentnahme freigegeben werden. [6]

Anhand dieses Konstrukts sollen die "newly dead", wie die Opfer einer schweren Gehirnschädigung angesichts ihres mit intensivmedizinischen Mitteln funktionsfähig erhaltenem Organismus auch genannt werden, weiterhin für die Organentnahme zur Verfügung stehen. Vor die Wahl gestellt, die Tote-Spender-Regel (Dead-Donor-Rule) gänzlich aufzugeben, wie in den USA insbesondere von dem Bioethiker Franklin Miller und dem Kinderintensivmediziner Robert Truog gefordert, oder sich gänzlich auf die Organentnahme nach dem Herz-Kreislauf-Tod zu verlegen und die dementsprechenden Einbußen in der Verfügbarkeit hochwertiger Ersatzorgane in Kauf zu nehmen, optiert der PCBE für die von ihm vorgeschlagene Neudefinition von Leben und Tod. [7]

Argumentativ verstärkt wird diese Definition durch einen Exkurs in die britische Praxis der Hirntodfeststellung, die auf den Ausfall des Stammhirns beschränkt ist und damit gar nicht erst untersucht, ob die Aktivitäten höherer Gehirnanteile erloschen sind. Zwar wird das Argument des britischen Neurologen Christopher Pallis, laut dem die Todesfeststellung im soziologischen Kontext der judäisch-christlichen Kultur mit dem Ausfall der Spontanatmung und des Bewußtseins hinreichend untermauert sei, dahingehend verworfen, daß sie kulturell und diagnostisch zu eingeschränkt wäre. Der PCBE attestiert dieser Position allerdings eine Verwandtschaft zu der von ihm vorgenommenen Bestimmung des Lebens als einem durch die Interaktion mit der Umwelt qualifizierten Zustand aufgrund des reduzierten, wenn auch im britischen Standard erklärtermaßen gefährlichen Charakters dieser Todesfeststellung. [6]

Auditorium Leibniz-Saal - Foto: © 2012 by Schattenblick

Entscheidungsfragen vor antiker Kulisse
Foto: © 2012 by Schattenblick


Ressource Leben als moralischer Tauschwert

So sehr zu begrüßen ist, daß sich der nationale Ethikrat der USA gegen die vollständige Entkopplung von Todesfeststellung und Organentnahme ausspricht, so wenig kann diese philosophische Neudefinition von Leben und Tod von etwas anderem überzeugen als dem Versuch, der Transplantationsmedizin keine weiteren Hindernisse in den Weg zu legen. Es liegt auf der Hand, daß ein derartiger Paradigmenwechsel in einer jahrtausendealten anthropologischen Grundkonstanten Folgen für Leib und Leben eines jeden Menschen von höchst bedrohlicher Art zeitigen kann. Schon jetzt hat der Primat der technischen Machbarkeit mit der künstlichen Entgrenzung des Sterbeprozesses bei gleichzeitiger Vorverlagerung der Todesfeststellung eine Zone der Unbestimmtheit geschaffen, in der unabschätzbare Schrecken lauern, während sie den Angehörigen, dem medizinischen Personal wie den Organempfängern zur Negation der Relevanz ihrer Sinne und Empathie Abstraktionsleistungen abverlangt, die einer gefährlichen Irrationalität Vorschub leistet.

Die demgegenüber aufgebotene Moral, man dürfe potentiellen Organempfängern keine zweite Chance vorenthalten, hingegen bricht an ihrer immanenten Widersprüchlichkeit: Millionen Menschen gehen am Mangel medizinischer Basisleistungen zugrunde, ohne daß zur Behebung dieses Mißstandes entsprechende Anstrengungen unternommen würden; das ungestörte Zusammensein von Sterbenden und Angehörigen und ein Lebensende ohne die Einwirkung fremdnütziger Interessen wird in diesen Fällen unmöglich gemacht; die Organernte setzt Organproduzenten voraus, die vor ihrem fatalen Ende zu schützen kein Thema zu sein scheint; das Leben ohne Dialyse ist zwar billiger für die Gesundheitsökonomie, aber für die Empfänger einer neuen Niere nicht notwendigerweise qualitativ hochwertiger; der primären Vermeidung lebensbedrohlicher Erkrankungen wird unter Einbeziehung aller sozioökonomischen und psychosozialen Belastungen, denen das immer umfassender fremdbestimmte und verfügbar gemachte Subjekt der Arbeitsgesellschaft ausgesetzt ist, desto weniger Aufmerksamkeit geschenkt, als sich eine den kapitalistischen Warencharakter reproduzierende Ersatzteilmedizin durchsetzt; die Forderung, dem kriminellen Organhandel durch eine stärkere Kommodifizierung der Organspende entgegenzuwirken, erhält der dominanten Logik marktwirtschaftlicher Regulation gemäß immer mehr Fürsprecher.

Es gibt also viele, hier nur exemplarisch genannte schlechte Gründe, die Gültigkeit des Hirntodkonzepts nicht zum Gegenstand einer breiten gesellschaftlichen Debatte zu machen, sondern dieser mit dem Imperativ der unausgesprochen wie ein Elefant im Raum gesellschaftlicher Konsensbildung stehenden Bezichtigung einen Riegel vorzuschieben, daß die Verweigerung der Organspende von der Schuld egoistischer Vorteilsnahme befleckt sei. Wie eklatant die Verweigerung solidarischen Handelns in der materiell extrem polarisierten Gesellschaft der Bundesrepublik auch immer sein mag, ihre selektive Einforderung in einem Bereich, in dem der medizinisch-industrielle Komplex neue Verwertungschancen sucht, wird mit desto größerem Furor betrieben, als die Ahnung um sich greift, daß der Versuch, den Menschen in seiner Leiblichkeit zur Ressource von Produktion und Reproduktion zu degradieren, Einfallstore zu neuen Formen seiner Unterwerfung aufstößt.

Fußnoten:

[1] http://bioethics.georgetown.edu/pcbe/reports/death/index.html

[2] http://www.bpb.de/apuz/33311/wie-tot-sind-hirntote-alte-frage-neue-antworten

[3] http://www.bpb.de/apuz/33313/organspende-toedliches-dilemma-oder-ethische-pflicht-essay

[4] http://bioethics.georgetown.edu/pcbe/reports/death/chapter2.html

[5] http://bioethics.georgetown.edu/pcbe/reports/death/chapter3.html

[6] http://bioethics.georgetown.edu/pcbe/reports/death/chapter4.html

[7] http://bioethics.georgetown.edu/pcbe/reports/death/chapter5.html

Dokumentation der Veranstaltung des Deutschen Ethikrates:

http://www.ethikrat.org/veranstaltungen/forum-bioethik/hirntod-und-organentnahme

(wird fortgesetzt)

30. März 2012