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ARTIKEL/536: Gegner*innen sexueller und reproduktiver Rechte - Die Anti-Choice-Bewegung in Deutschland (pro familia)


pro familia magazin 1/2020
Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung e.V.

Die Anti-Choice-Bewegung in Deutschland

von Johanna Özogul


Wie sind die Gegner*innen sexueller und reproduktiver Rechte organisiert? Wie arbeiten sie, und welche Bilder verwenden sie? Der folgende Beitrag gibt einen Überblick.

Die gesellschaftliche Kontroverse rund um das Thema Schwangerschaftsabbruch ist in den USA schon lange im alltäglichen Leben sichtbar: Demonstrationen vor Kliniken, bei denen blutige Bilder von Embryos hochgehalten werden. Religiöse fundamentalistische Gruppen, die am Straßenrand für "getötete Kinder" beten. Streichungen von Fördergeldern für Beratungsstellen, je nach Regierungspartei. Medizinische Versorgungsnotstände und bundesstaatsweite Verbote. Anschläge auf Ärzt*innen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Aber auch: Gegendemonstrationen und Aktionen von Menschen, die sich für Wahlfreiheit und reproduktive Rechte bei Schwangerschaftsabbrüchen einsetzen.

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"Die Stimmung in Deutschland hat sich verändert."
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Eine solche gesellschaftlich aufgeheizte Stimmung mit Bezug auf Schwangerschaftsabbrüche war für Deutschland lange undenkbar. Nur wenige Personen konnten sich hier so deutlich wie die Amerikaner*innen in der Debatte positionieren. Nach der Wiedervereinigung schienen sich die meisten Menschen mit der Fristenlösung mit Beratungspflicht arrangiert zu haben. Teilweise fehlte das Bewusstsein dafür, dass Schwangerschaftsabbrüche immer noch im Strafgesetzbuch verankert sind. Abtreibungsgegner*innen wirkten oft wie eine verschrobene Minderheit, zu der es auch keine größere Gegenbewegung gab.

Doch seit einigen Jahren rückt die Diskussion auch im deutschsprachigen Raum wieder in die Öffentlichkeit. Das prominenteste Beispiel dafür ist die Berichterstattung über die Anklage der Ärztin Kristina Hänel und die nachfolgende Erörterung des sogenannten Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche.

Sicherlich sind im Gegensatz zu den USA zahlreiche Zwischentöne zu hören, seltener findet hier eine solche Schwarzweißmalerei statt wie auf der anderen Seite des Atlantiks. Aber die Stimmung in Deutschland hat sich verändert, und immer mehr Menschen positionieren sich zu Schwangerschaftsabbrüchen sowie damit verbundenen Themenbereichen, die über Pränataldiagnostik bis zu sexueller Bildung reichen können. Sowohl Abtreibungsgegner*innen als auch Aktivist*innen von Gegenbewegungen erhalten Zulauf, nehmen an Aktionen und Protesten teil und machen so die zugrundeliegende Kontroverse wieder sichtbar.

Der vorliegende Artikel erläutert beispielhaft die Strukturen, Aktions- und Argumentationsmuster der Anti-Choice-Bewegung in Deutschland. Auf Grundlage der Beschreibungen erfolgt eine ideologische Charakterisierung und Einordnung der Bewegung, die insbesondere antifeministische, sexualrestriktive und rassistische Verstrickungen hervorhebt.


"Anti-Choice": Was bedeutet das?

Weit bekannt ist der Begriff "Pro-Life", der aus dem Amerikanischen stammt und übersetzt "für das Leben" bedeutet. Es handelt sich dabei um eine stark wertende Selbstbeschreibung der Bewegung, die impliziert, dass die Gegenseite gegen das Leben sei. In der deutschen Forschungsliteratur wird auch oft von der "Lebensschutz"-Bewegung oder von "Lebensrechtsgruppen" gesprochen; diese Begriffe zeigen aufgrund ihrer ebenfalls wertenden Ausrichtungen aber ähnliche Schwierigkeiten auf.

Der vorliegende Artikel wird zur Beschreibung von Personen, die den Schwangerschaftsabbruch ablehnen, deshalb ausschließlich mit dem Begriff "Anti-Choice" arbeiten. "Anti-Choice", ebenfalls aus dem Amerikanischen stammend, bedeutet "gegen Wahlfreiheit" und wertet somit in einer Form, die den Grundüberzeugungen von pro familia für eine selbstbestimmte Sexualität und Familienplanung entspricht.


Ziele der Anti-Choice-Bewegung

Die Anti-Choice-Bewegung ist eine soziale Bewegung, die sich gegen legale Zugänge zu Schwangerschaftsabbrüchen einsetzt. Oft sind hierfür keinerlei Ausnahmen vorgesehen, einige Ausrichtungen bewerten aber bestimmte Situationen wie Gefahren für die Gesundheit der Schwangeren oder Fälle von Vergewaltigung als zulässige Ausnahmen.

Die Anti-Choice-Bewegung ist an sich nicht neu, sondern begleitete schon immer die Kontroverse um Schwangerschaftsabbrüche und die Frage, ab wann menschliches Leben beginnt. Innerhalb der Bewegung wird üblicherweise das Lebensrecht des Embryos oder Fötus über das Selbstbestimmungsrecht der schwangeren Frau erhoben.

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"Fundamentalistische Haltung gegen die Wahlfreiheit von Frauen."
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In der Vergangenheit wurde die Anti-Choice-Bewegung oft als Ein-Punkt-Bewegung beschrieben. Dies trifft heutzutage nicht mehr zu, denn das Themenspektrum hat sich inhaltlich um zahlreiche andere Punkte erweitert. So gehören beispielsweise die Ablehnung von Sterbehilfe, der Umgang mit Pränataldiagnostik und Fertilisationsmedizin sowie Stammzellen- und Embryonenforschung zum Themenkatalog. Auch zeigen sich Überschneidungen mit weiteren Positionierungen, zum Beispiel mit der Ablehnung von sexueller Bildung. Diese Überschneidungen werden im Folgenden noch genauer herausgearbeitet.


Wer gehört zur Bewegung?

Schwangerschaftsabbrüche abzulehnen kann eine individuelle und persönliche Meinung sein. Innerhalb der Anti-Choice-Bewegung ist diese Meinung aber oftmals institutionalisiert oder wird in Interessensgemeinschaften gebündelt. Am deutlichsten ist das bei speziell zu diesem Zweck gegründeten Organisationen wie dem Bundesverband Lebensrecht oder der Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA). Explizite Anti-Choice-Organisationen können nach außen zwar unterschiedlich auftreten und wirken je nach Ausrichtung weltoffener oder extremer, verfolgen letztendlich aber identische Ziele und sind überwiegend in einem christlich-fundamentalistischen Hintergrund verortet. Ebenfalls eindeutig positioniert und aktiv sind einige christlich-fundamentalistische Organisationen wie die Deutsche Evangelische Allianz oder die Piusbruderschaft. Auch die kathlische Kirche an sich spricht sich gegen Schwangerschaftsabbrüche aus. In einer Predigt aus dem Jahr 2018 wich Papst Franziskus von seinem ursprünglichen Text ab und verglich, wie zahlreiche große deutsche Zeitungen berichteten, Schwangerschaftsabbrüche mit Auftragsmord: "Einen Menschen zu beseitigen ist wie die Inanspruchnahme eines Auftragsmörders, um ein Problem zu lösen."

Aber auch politische Parteien wie fundamentalistische Kleinstparteien, Teile der CDU/CSU und die AfD lehnen in Deutschland Schwangerschaftsabbrüche deutlich ab und fordern eine dementsprechend verschärfte Gesetzgebung.

Die Auflistung dieser unterschiedlichen Anti-Choice-Akteure zeigt, dass eine Positionierung gegen Schwangerschaftsabbrüche keinesfalls ein Randphänomen ist, sondern von größeren Bevölkerungsteilen zumindest mitgetragen wird. Die Bewegung zeigt in Deutschland ein sehr heterogenes Bild.


Aktionen der Anti-Choice-Bewegung

Deutschlandweit finden zahlreiche kleine und große Aktionen der Bewegung statt. Eine der bekanntesten Protestformen ist der sogenannte Marsch für das Leben, der jährlich in Berlin stattfindet und sowohl tausende Besucher*innen als auch Gegendemonstrant*innen auf die Straßen holt. Es handelt sich um einen Schweigemarsch, aber auch Gebete und Gesänge können derartige Anti-Choice-Aktionen begleiten. Typisch ist auch die Verteilung oder Verschickung von Embryomodellen oder einschlägigem "Informationsmaterial", das oft eine falsche Vorstellung von Größe und Entwicklung eines Embryos oder Fötus vermittelt. Falschinformationen über die physischen und psychischen Auswirkungen von Schwangerschaftsabbrüchen sind ebenfalls im Umlauf. pro familia Beratungsstellen sind aber auf verschiedenen Wegen noch direkter von Aktionen der Bewegung betroffen. Dabei geht es vor allem um juristische Klagen, Einschüchterungen, Demonstrationen vor Beratungsstellen und um zum Verwechseln ähnliche, ungekennzeichnete Anti-Choice-Beratungsangebote.

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"Oft wird eine falsche Vorstellung von Größe und Entwicklung eines Embryos oder Fötus vermittelt."
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(Juristischer) Druck und Einschüchterungen

Die juristische Anklage von Ärzt*innen, Kliniken und Beratungsstellen durch Anti-Choice-Anhänger*innen ist an sich nicht neu, scheint in den letzten Jahren aber zugenommen zu haben. Solche Fälle werden mittlerweile eingehender in den Medien und der Öffentlichkeit diskutiert, wie dies auch bei Kristina Hänel der Fall ist.

Auch wenn Anti-Choice-Webseiten Namen von Einzelpersonen wie Ärzt*innen oder Berater*innen im Internet nennen, kann dies einschüchternd wirken. Einige Berater*innen und Schlüsselpersonen im Feld sind deshalb besonders vorsichtig im Umgang mit sozialen Medien geworden oder verzichten auf die Veröffentlichung von Namen und Fotos der Teams. Zudem erhalten Professionelle im Handlungsfeld auch Post mit drohenden Inhalten. Dazu gehören fälschliche Hinweise auf die Illegalität ihrer Arbeit, die Androhung von Klagen oder bildstarkes Material wie blutige Fotos von Föten. Mit diesen Aktionen wird in Beratungsstellen insbesondere bei Berufseinsteiger*innen die Unsicherheit darüber, was laut Gesetz rechtmäßig ist, erhöht.

Ein Punkt, der dies deutlich macht, ist die unter Berater*innen verbreitete Sorge, dass eine von ihnen durchgeführte Schwangerschaftskonfliktberatung von Personen aus der Anti-Choice-Bewegung besucht, kontrolliert oder aufgenommen wird - auch wenn es für ein solches Vorgehen aus der Anti-Choice-Bewegung derzeit keinerlei Hinweise gibt.


Gehsteig-"Beratungen" und Mahnwachen

Ein weiteres Handlungsfeld, welches sich die Bewegung erschlossen hat, sind sogenannte Mahnwachen vor Einrichtungen oder Organisationen, die eine selbstbestimmte Sexualität und Familienplanung befürworten. Dies können sowohl Kliniken und Arztpraxen sein als auch Beratungsstellen, die Beratungsbescheinigungen ausstellen. Dabei werden Frauen und Paare teilweise direkt angesprochen und bedrängt, ein Vorgehen, was die Bewegung selbst "Gehsteigberatung" nennt. Üblicherweise sind diese Mahnwachen auch von eindeutiger Symbolik (Kreuze, Bilder von Embryonen, Föten und Babys) begleitet, es wird laut gebetet und gesungen. Bei pro familia waren beispielsweise Beratungsstellen in München und in Hessen von solchen Protesten betroffen. Im Rahmen der aus den USA stammenden Initiative 40 Tage für das Leben wird meist zweimal pro Jahr für eine Dauer von 40 Tagen demonstriert. Erst seit August 2019 wurden die Klient*innen und Beratenden in Hessen durch einen Erlass für eine Schutzzone vor dem unmittelbaren Kontakt mit den Demonstrierenden geschützt.


Anti-Choice-Beratungsstellen

Beratungen von schwangeren Frauen finden durch Anti-Choice-Organisationen sowohl online und telefonisch als auch in eigenen Räumlichkeiten statt. Dabei ist die gesetzlich verankerte ergebnisoffene Beratung nicht möglich, da die Organisationen nicht staatlich anerkannt sind und keine Beratungsbescheinigungen nach §219 StGB ausstellen. Dies ist für Frauen und Paare auf der Suche nach Beratung aber oft nicht klar ersichtlich. Denn auf ihren Webseiten präsentieren sich die Anti-Choice-Beratungsstellen äußerst professionell und neutral. Meist scheint auch an einer Suchmaschinenoptimierung gearbeitet worden zu sein, um entsprechende Webseiten möglichst hoch in den Ergebnissen von Google anzuzeigen. Dieses gezielte Vorgehen lässt eine entsprechende Planung und übergeordnete Ziele innerhalb der Bewegung vermuten. Auf solch eine Zielsetzung weist auch die Veröffentlichung "Restoring the Natural Order" hin (siehe pro familia magazin Nr. 1/2020, Seite 11.)


Exkurs pro femina: zum Verwechseln ähnlich

Der prominenteste Anti-Choice-Beratungsstellenverein pro femina zeigt nicht nur in seinem Namen Ähnlichkeiten mit pro familia auf, sondern verfügt auch über eine verblüffend ähnlich gestaltete Homepage. Sowohl beim Aufbau der Seite als auch beim Bildmaterial besteht für Laien zunächst Verwechslungsgefahr.

pro femina betreibt neben einem umfassenden Online- und Telefonangebot mittlerweile in München, Heidelberg und Berlin Beratungsstellen. Zuletzt sorgte pro femina in Gießen für Aufsehen, weil Werbung für den Verein auf den Bussen des städtischen Verkehrsbetriebs geschaltet wurde. Neutral und ergebnisoffen wirkend fragen die großflächigen Aufdrucke "Ungewollt schwanger? Hilfe für eine gute Einscheidung". Diese Werbung wurde von der Evangelischen Allianz Gießen beauftragt und bezahlt. Finanziert und unterstützt werden pro femina sowie ähnliche Einrichtungen meistens durch Spenden.

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"Die Psychologisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ist zentrales Element der Argumentation."
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Neben Beratungen zur Entscheidungsfindung bei Schwangerschaftskonflikten, die im Ernstfall durch Verzögerungen eine staatlich anerkannte Beratung nach Fristenregelung verhindern, werden oft auch Beratungen nach Abbrüchen angeboten. Dies geschieht entgegen wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Annahme, dass ein Schwangerschaftsabbruch als traumatisches Ereignis einen Großteil der Betroffenen psychisch dauerhaft schädigt.


Argumentationsmuster der Anti-Choice-Bewegung

Die Argumente der Anti-Choice-Bewegung für ein weitgehendes Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen folgen oft wiederkehrenden Mustern, und es wird eine ähnliche Rhetorik verwendet.


Das Post-Abortion-Syndrom

Die Existenz eines Post-Abortion-Syndroms, also einer typischerweise auftretenden psychischen Erkrankung nach einem Schwangerschaftsabbruch, ist wissenschaftlich widerlegt. Die Psychologisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ist aber ein Zentralargument der aktuellen Bewegung, die sich selbst gerne als frauenfreundlich und unterstützend ansieht. Dass der Glaube an die Existenz einer solchen Erkrankung gesellschaftlich anerkannt ist, zeigt die unhinterfragte Erwähnung des Syndroms in der bei ARTE ausgestrahlten Dokumentation "Tabu Abtreibung" (2014) ebenso wie die ursprünglich zu diesem Thema von Gesundheitsminister Jens Spahn in Auftrag gegebene millionenschwere Forschungsstudie (2019).


Emotionalisierung und Moralisierung

Die Verwendung emotionalisierender Sprache mit Begrifflichkeiten wie "Kindstötung" oder "Mord" wird in der Bewegung überlicherweise benutzt, um das Vorgehen bei Schwangerschaftsabbrüchen zu beschreiben. Bei extremeren Ausrichtungen werden auch Holocaust-Vergleiche angestellt.

Ein in diesem Zusammenhang ebenfalls typischer Argumentationsstrang geht von der Annahme aus, dass die Ermöglichung von Schwangerschaftsabbrüchen der Beginn eines moralischen Untergangs der Gesellschaft sei, auf den dann noch andere Verfehlungen folgen würden.


Das Demografie-Argument

Eine weitere Annahme der Bewegung ist, dass die demografische Entwicklung der (deutschen) Gesellschaft aufgrund von Schwangerschaftsabbrüchen gefährdet sei. Wegen der legalen Möglichkeiten für Schwangerschaftsabbrüche, so die Behauptung, werden zu wenig Kinder geboren, und die Gesellschaft überaltert.


Einordnung der Bewegung - rassistisch, heteronormativ und sexualrestriktiv

Bei näherer Betrachtung der Aktions- und Argumentationsmuster der Anti-Choice-Bewegung tritt eine drastische Weltanschauung zutage.

So werden beispielsweise mit dem Demografie-Argument mehr Geburten gefordert. Die Erfüllung solcher Ziele durch Einwanderung steht aber außer Frage, denn gleichzeitig erfährt die Bewegung durch zunehmende nationalistische Tendenzen Aufschwung. Die AfD und Medienangebote wie zahlreiche einschlägige Artikel der, auch als Sprachrohr der Neuen Rechten bezeichneten, Wochenzeitung "Junge Freiheit" sprechen für rassistische Anteile innerhalb der Bewegung.

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"In diesem Weltbild hat sexuelle und reproduktive Vielfalt keinen Platz."
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Gleichzeitig liegt der Bewegung ein bestimmtes Frauenbild zugrunde. Gerade die weltoffeneren Angebote positionieren sich als Einsätze für das Wohlbefinden und die Rechte von Frauen. Es herrscht die Meinung vor, dass ein Schwangerschaftsabbruch gegen die Natur von Frauen sei, dementsprechend auch das Post-Abortion-Syndrom ausgelöst werde und somit nur äußere Umstände zu einem solchen Entschluss führen könnten.

Im Umkehrschluss bedeutet diese Annahme aber, dass die ursprüngliche Bestimmung von Frauen das Muttersein ist. Wie die konservativen und fundamentalistischen Strömungen der Bewegung unterstreichen, ist dafür die Ehe der richtige Ort. In diesem heteronormativen Weltbild hat sexuelle und reproduktive Vielfalt keinen Platz. Die Nähe und Überschneidungen zu Gruppen wie den "besorgten Eltern", die gegen die selbst diagnostizierte "Frühsexualisierung" kämpfen, sind somit nicht verwunderlich. Eine Verfolgung der Anti-Choice-Überzeugungen führt also zu einer restriktiven Sexualmoral und einer Einschränkung von sexueller Selbstbestimmung - sowohl beim Thema Schwangerschaftsabbruch als auch in allen anderen angrenzenden Bereichen. Folglich sind nicht nur Konfliktberatungen, sondern auch der Bereich der sexuellen Bildung in pro familia Beratungsstellen von der Bewegung direkt betroffen.

Es sind sicherlich nicht nur die Gegner*innen der reproduktiven Selbstbestimmung, die in Deutschland den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen und sexueller Bildung erschweren. Allein die ärztliche Unterversorgung auf dem Land (auch in anderen medizinischen Bereichen) oder steigende Mieten und fehlende Räumlichkeiten für Beratungsstellen in den Städten behindern aktuell die reproduktive Selbstbestimmung zahlreicher Menschen. Auch diese Themenbereiche benötigen erhöhte Aufmerksamkeit, und es besteht ebenfalls Handlungsbedarf, um solche strukturellen Probleme anzugehen. Aber gleichzeitig lässt sich auch feststellen: Die Anti-Choice-Bewegung hat sich professionalisiert, nutzt das bestehende politische Klima und strukturelle Schwierigkeiten teilweise gezielt aus und verfolgt absichtsvoll und organisiert die Durchsetzung ihrer Ziele.


Über die Autorin:
Johanna Özogul promoviert an der RuhrUniversität Bochum zu dem Thema "Diskurse zum Schwangerschaftsabbruch" und beschäftigt sich mit der Anti-Choice-Bewegung.

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Quelle:
pro familia magazin Nr. 01/2020, S. 6 - 10
Herausgeber und Redaktion:
pro familia Deutsche Gesellschaft für Familienplanung,
Sexualpädagogik und Sexualberatung e.V., Bundesverband
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Das pro familia magazin erscheint vierteljährlich.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juni 2020

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