Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → SOZIALES


ARTIKEL/538: Psychische Gesundheit - Erwachsen mit AD(H)S (megafon)


megafon - Die Zeitschrift aus der Reitschule | Bern | N° 484 | Oktober 2022

Psychische Gesundheit
Erwachsen mit AD(H)S

von Jaël L'Eplattenier


AD(H)S (Aufmerksamkeitsdefizid-/Hyperaktivitätsstörung) ist eine Neurodiversität, die meist Kindern zugeschrieben wird. Viele Menschen stellen sich AD(H)S als "der Zappelphillip" aus der Klasse vor. Ich habe mit Lou über AD(H)S gesprochen. Sie hat ein diagnostiziertes AD(H)S. Sie erzählt mir, wie es sich anfühlt, wie sie damit umgeht und wie die Gesellschaft darauf reagiert. Wir sind beide 15 Minuten zu spät zum Interview erschienen. Ich selbst habe auch ein AD(H)S.

m*: Was bedeutet AD(H)S für dich und wie wirkt es sich bei dir aus?

Lou: Als ich die Diagnose bekommen habe, ist mir ein Licht aufgegangen. Ich habe oft Konzentrationsschwierigkeiten und schiebe alltägliche Dinge, die ich machen will und muss, auf. Das kann sehr frustrierend sein. Lange habe ich nicht verstanden, wieso ich die Dinge nicht einfach erledigen kann. Auf die Dauer hat das eine Depression bei mir ausgelöst. Ich merke auch, dass ich mich von der Norm unterscheide und das oft zu verstecken versuche. Ich habe eher keine Hyperaktivität, sondern mehr Impulsivität und Konzentrationsschwäche. Das bedeutet, ich komme oft zu spät, habe Mühe mit der Zeiteinteilung. Wenn ich Pläne habe, halte ich mich nicht daran. Ich muss aufpassen, dass ich den Leuten nicht immer ins Wort falle. Ich vergesse Termine, wenn ich sie mir nicht aufschreibe. Meistens fällt mir erst später ein, dass ich verabredet war. Das ist mühsam für mich und für die anderen Personen.

Was war nochmals die Frage?

m*: Wie wirkt sich das AD(H)S bei dir aus?

Lou: Ach ja, zudem das ich AD(H)S habe bin ich auch noch perfektionistisch. Andere Leute mit der Diagnose AD(H)S schaffen es oft nicht, Dinge zu beenden. Durch das perfektionistische Verhalten bringe ich Sachen immer zu Ende, sonst bin ich nicht zufrieden damit. Das bringt viel Stress und Druck mit sich. Ich muss beides kombinieren. Aber es funktioniert, ich habe sehr gute Noten in meinem Studium. Wenn ich es mal geschafft habe, mit dem Arbeiten zu beginnen, dann arbeite ich sehr schnell und präzise. Das erzähle ich aber nicht immer, weil sonst die Leute plötzlich erwarten, dass ich immer in diesem Hyperfokus (extreme Konzentration auf ein Thema, das die Person interessiert) arbeite, was nicht stimmt.

m*: Wie alt warst du als du deine Diagnose bekamst?

Lou: Ich bekam sie vor einem halben Jahr. Da war ich 25 Jahre alt. Das erste Mal wurde das AD(H)S schon ein Jahr zuvor, von meiner Psychologin bemerkt. Danach begann der Diagnoseprozess. Zudem wurde ich bereits als Kind diagnostiziert, doch daran kann ich mich nicht mehr erinnern.

m*: Hat sich dein engstes Umfeld verändert, seit du die Diagnose hast?

Lou: Für manche Dinge ist mehr Verständnis da. Sie wissen nun, dass ich es nicht absichtlich mache.

m*: Hast du noch andere Diagnosen erhalten? Wenn ja, kannst du die Symptome unterscheiden?

Lou: Ja, ich habe auch noch eine Posttraumatische Belastungsstörung und eine Androphobie (übersteigerte Angst vor Männern) durch Gewalt, die ich in der Kindheit erlebt habe. Es ist oft nicht möglich zu unterscheiden, was vom AD(H)S und was vom Trauma kommt.

m*: Was sagst du dazu, dass viele schon im Schulkindalter die Diagnose erhalten?

Lou: Ich als Lehrperson finde das nicht unbedingt schlecht. Ich finde eine Diagnose etwas Gutes, weil sie helfen kann zu verstehen, wie das Kind funktioniert und was es braucht. Das bedeutet nicht unbedingt, dass es eine Therapie oder Medikamente braucht. Es geht darum, den Leidensdruck des Kindes ernst zu nehmen und keine Dinge von ihm zu erwarten, die es nicht kann. Das kann sonst zum Beispiel dazu führen, dass das Kind schlechtere Noten hat, obwohl es sehr intelligent ist.

m*: Siehst du AD(H)S als eine Krankheit an?

Lou: Bis jetzt nein. Für mich ist AD(H)S eine Neurodiversität. Ich funktioniere einfach anders als die Mehrheit der Gesellschaft. Es hat aber auch viel Gutes an sich, so zum Beispiel den Hyperfokus (ein Schub von hoher Konzentration bei Dingen, für die man sich interessiert). Durch ihn kann ich viel kognitive Arbeit in kurzer Zeit leisten. Ich habe dann schnell kreative Ideen.

m*: Welche Vorurteile bekommst du zu spüren?

Lou: Da sind meine Eltern ein gutes Beispiel. Für die Diagnosestellung sollten sie Formulare zu meiner Persönlichkeit ausfüllen, da sie mich schon lange kennen. Sie hatten jedoch Angst, dass ich mit einer Diagnose als Invalide gelte und keinen Job mehr kriege. Da ich aber im Sozialbereich arbeite, erlebe ich in meinem Berufsleben keine starke Stigmatisierung. Dort werden diese Dinge etwas anders gesehen und die Leute kennen sich auch besser mit dem Thema aus. Beim Dating bin ich auch schon stigmatisiert wörden. Ich habe von meinem AD(H)S erzählt und wurde dann über meine Zuverlässigkeit ausgefragt. Einige haben auch gedacht, dass ich ohne meine Medikamente ein ganz anderer Mensch bin. Das stimmt natürlich nicht.

m*: Denkst du, dass viele Menschen Angst vor psychischen Krankheiten und Psychopharmaka (Medikamente für die Psyche) haben?

Lou: Psychopharmaka werden schon oft verteufelt. Bei mir wurde sehr genau geschaut welches Medikament zu mir passt. Jedoch wollte mir die Krankenkasse das nicht verschreiben, bevor ich nicht ein anderes ausprobiert habe. Dieses andere Medikament hätte jedoch wieder eine Depression bei mir auslösen können. Ich weigerte mich. Die Psychopharmaka sind also nicht das eigentliche Problem, sondern der Kapitalismus und Preisabsprachen.

m*: Wie reagieren Menschen darauf, dass du im Erwachsenenalter AD(H)S diagnostiziert bekommen hast?

Lou: Viele Leute in meinem Umfeld hatten Mühe, mir zu glauben, weil ich hohe akademische Leistungen erbringe. Die meisten haben aber gut darauf reagiert. Es war eine Erklärung für mein Verhalten. Mittlerweile haben sich viele daran gewöhnt, dass AD(H)S existiert. Manche Menschen halten es jedoch für eine Modekrankheit. Das finde ich ignorant.

m*: Nimmst du Medikamente?

Lou: Ja, nehme ich und bin sehr zufrieden damit. Wir haben es ganz langsam aufdosiert und geschaut, ab welchem Punkt ich Nebenwirkungen spüre. Mögliche Nebenwirkungen können Appetitverlust, Übelkeit und Schwindel sein. Nun bin ich auf einer Dosis, bei der ich keine Nebenwirkungen spüre. Sie müssen ganz genau abgemessen werden, damit die allfälligen Nebenwirkungen besser kontrolliert werden können. Bei pflanzlichen Medikamenten ist das sehr schwer, da sie manchmal unkontrollierbare Nebenwirkungen auslösen. Wichtig zu wissen ist jedoch, dass diese Medikamente für Menschen ohne AD(H)S gefährlich sein können. Bevor ich es verschrieben bekam, musste ich mein Herz überprüfen lassen. Wenn also Menschen, die nicht wissen, ob sie ein gesundes Herz haben, es einnehmen, dann kann das ziemlich gefährlich sein.

m*: Hast du die Aufklärung über AD(H)S und die Medikamente als hilfreich empfunden?

Lou: Ja. Ich war sehr froh, als ich die Diagnose bekam. Mir hat es geholfen, mich selbst zu verstehen. Ich weiss nun, an was ich arbeiten kann, und was zu meiner Persönlichkeit gehört und was zu AD(H)S. Ich habe ein Screening (Zuordnung von Symptomen zu Krankheitsbildern) gemacht. Das würde ich jedoch nicht allen empfehlen. Es kann deprimierend sein zu sehen, was man alles für Symptome hat. Man muss das wirklich wollen und dann auch entsprechend an sich arbeiten.

m*: Was ist das Schwierigste für dich an AD(H)S?

Lou: Es war schwierig zu entscheiden, ob ich Medikamente nehmen soll oder nicht. Ich fragte mich, ob ich das nur mache, um in die Gesellschaft hineinzupassen. Schlussendlich habe ich mich aber dafür entscheiden, weil ich einen hohen Leidensdruck hatte.

m*: Was können die Gesellschaft und auch Einzelpersonen machen, damit sich Menschen mit AD(H)S wohler fühlen?

Lou: Das ist eine gute Frage. Vielleicht Verständnis haben, dass nicht alle Menschen gleich sind. Es gibt verschiedene Art und Weisen, wie jemand etwas angehen kann. Und seid nicht enttäuscht, wenn ich nicht sofort auf Nachrichten antworte - wir Menschen mit AD(H)S funktionieren mit Druck. Habt Geduld mit uns. Macht uns jedoch nicht zu viel Druck, lasst uns Zeit und Platz für Kreativität.

*

Quelle:
megafon - Die Zeitschrift aus der Reitschule | Bern | N° 484 |
Oktober 2022, Seite 5
Anschrift der Redaktion:
AG megafon | Neubrückstr. 8, Postfach, CH-3001 Bern
Telefon: 0041-(0)31 / 306 69 66
E-Mail: megafon@reitschule.ch
Internet: https://www.megafon.ch/
megafon erscheint monatlich, Auflage ca. 1500 Ex.
Einzelausgabe: 6,- CHF
Jahresabo: 72,- Schweizer Franken
oder ein bisschen mehr für ein Förderabo

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 29. September 2023

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang