Securvital 4/22 - Oktober-Dezember 2022
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen
MEDIENKONSUM
Digitale Balance
von Astrid Froese
Mit dem Smartphone haben wir Zugriff aufs Internet und damit auf eine ungeheure Fülle an Inhalten. Doch der gesunde Umgang mit der permanenten Verfügbarkeit will gelernt sein.
Gut sieht sie aus, die Freundin, wie sie dasitzt und von ihrem
neuen Job schwärmt, der Stadt und den interessanten Kollegen. Sie
lacht und es ist schön, sie strahlen zu sehen - auch wenn sie in
diesem Moment Hunderte Kilometer entfernt ist. Dass wir mit Freunden
und Familie stundenlang telefonieren und uns dabei sehen können, egal
wo wir sind, gehört zu den unbestreitbaren Vorteilen der
Digitalisierung. Wir können Tickets bequem von zu Hause aus buchen,
ohne uns lange anstellen zu müssen. Wir können Kontostände abfragen,
fotografieren, Musik hören und Nachrichten verschicken. Das Smartphone
bietet uns Zugriff aufs Internet und damit auf eine kaum noch zu
überschauende Menge an Informationen - abrufbar zu jeder Zeit und von
fast jedem Ort aus.
Doch so groß diese Errungenschaften sind, so wichtig ist der Blick auf die Risiken, die mit dieser Fülle einhergehen. Denn sowohl die Menge als auch die ständige Verfügbarkeit bergen die Gefahr der Überforderung. "Der Mensch ist ein zutiefst rhythmisches Wesen", erläutert Prof. Harald Krauß, Chefarzt der Klinik für Seelische Gesundheit am Marien Hospital Dortmund. Aktivität und Ruhe. Genuss und Verzicht. Natürliche Rhythmen sind für die Gesundheit des Menschen von großer Bedeutung. Viele Faktoren der digitalen Welt arbeiten gegen diese natürlichen Rhythmen an. Wenn es nach Konzernen wie Meta oder Amazon ginge, würden Menschen gar nicht mehr schlafen. "Die Entrhythmisierung spielt eine große Rolle, wenn Menschen seelisch krank werden", sagt Krauß. Und verweist als Beispiel auf das Suchtpotenzial von Serien, die nicht nur zu bestimmten Zeiten im TV, sondern über Streamingdienste und Mediatheken permanent verfügbar sind. Die ständige Verfügbarkeit ist also Fluch und Segen zugleich.
Eltern können viel dazu beitragen, dass Kinder lernen, Medien gezielt und kompetent zu nutzen - indem sie den Nachwuchs langsam heranführen und indem sie selbst Vorbilder sind.
Ob online einkaufen, chatten oder Serien schauen: Seit Jahren steigt die Bildschirmzeit beständig an. 136 Minuten pro Tag war die Bevölkerung ab 14 Jahren in Deutschland laut ARD/ZDF-Onlinestudie zuletzt im Netz im Schnitt unterwegs. Darunter ganz extrem die 16- bis 18-Jährigen. Sie verbrachten mit allen Geräten laut Postbank-Jugend-Digitalstudie 2021 im Schnitt 70,4 Stunden pro Woche online - gut 10 Stunden pro Tag. Diese Zahlen alarmieren. "Aus unseren Leben mit ein bisschen Onlinesein ist ein Onlineleben geworden", schreibt Anna Miller, Gründerin des Digital Balance Lab in Zürich. Die Autorin und Psychologin plädiert für mehr digitale Auszeiten, um wieder mehr Fokus, Ruhe und Souveränität im Umgang mit dem Internet zugewinnen.
Dabei sind nicht die technischen Errungenschaften das Problem, sondern ihre Folgen für den Menschen. Nicht die Möglichkeit, Mails rund um die Uhr verschicken und empfangen zu können. Sondern der empfundene Druck, auf eine spät am Abend eintreffende Nachricht des Chefs sofort antworten zu müssen. Nicht die zunehmende Fülle immer kürzerer Inhalte im Netz. Sondern die nachweislich abnehmende Aufmerksamkeitsspanne der Nutzer. Internet und soziale Medien verändern, wie Menschen Informationen verarbeiten und wie sie miteinander kommunizieren.
Die permanente Befeuerung mit medialen Reizen führt zu Erschöpfung und Muskelverspannungen. Sie führt zu einer Abnahme der Gedächtnisleistung und der Konzentrationsfähigkeit. Eine viel zitierte Studie von Microsoft Kanada ergab, dass die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne eines Menschen im Jahr 2000 bei 12 Sekunden lag, 2015 nur noch bei 8 Sekunden - und damit unter der eines Goldfischs (9 Sekunden). Menschen, die sich immer mehr auf das Wissen im Netz verlassen, würden mit der Zeit verlernen, über komplexe Probleme selbst nachzudenken, warnt der Neurobiologe Martin Korte. Und "dass man das Wichtige von Unwichtigem nicht mehr auseinanderhalten kann, das ist das Merkmal der digitalen Medien", urteilt der Hirnforscher Gerald Hüther.
Ein gesunder Umgang mit digitalen Technologien ist also vor allem ein bewusster. Welche Angebote sollen zu welchem Zweck genutzt werden? Und wie lange? Nicht jede intensive Mediennutzung ist gleich eine krankhafte Sucht und nicht jedes Ballerspiel führt zu einem Amoklauf. Da gilt es, genau hinzugucken.
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Fluch und Segen
Digitale Technologien haben erheblich zum gesellschaftlichen
Fortschritt beigetragen. Virtuelle Meetings und onlinebasierte
Lernplattformen erlauben es Menschen, weltweit zusammenzuarbeiten und
sich jederzeit weiterzubilden. Dank großer Datensammlungen sind
Medikamentenhersteller in der Lage, neue Wirkstoffe schneller zu
testen. Gleichzeitig hat der Siegeszug der digitalen Technologien den
Tech-Konzernen eine gefährliche, bislang politisch unregulierte
Machtfülle verschafft. Soziale Netzwerke belohnen radikale Positionen,
beeinflussen Wahlen und können Demokratien gefährden. Gleichzeitig
ermöglichen sie Organisationen wie Fridays for Future, Millionen
Jugendliche für die Klimabewegung zu mobilisieren.
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Zur Sucht wird die Nutzung dann, wenn Internet, Handy oder Videospiele den größten Teil der Freizeit beanspruchen und die Nutzungszeiten ausufern. Wenn es schwerfällt, den Konsum zu reduzieren und sich die Gedanken um nichts anderes mehr drehen. Wenn sich Entzugserscheinungen einstellen, sobald das Gerät nicht verfügbar ist, und das Ausmaß der Nutzung heruntergespielt oder gar verheimlicht wird. Mediensucht betrifft Frauen wie Männer gleichermaßen. Wie auch stoffgebundene Süchte aktiviert sie bestimmte Areale im Gehirn und erzeugt vergleichbare Entzugserscheinungen wie Schwitzen und Hektik, wenn die Betroffenen vom Suchtmittel getrennt sind. Hinweise auf eine Mediensucht bei Kindern und Jugendlichen können unterschiedlich sein: Während manche eine stärkere Gewaltbereitschaft infolge des Konsums entsprechender Inhalte zeigen, verschlechtern sich bei anderen die Leistungen in der Schule, wieder andere haben Schlafprobleme. In ernsten Fällen kommt es zu depressiven Verstimmungen, Angst- oder Essstörungen.
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Medienfreie Zonen schaffen
Wer feststellt, dass seine Zeit am Smartphone oder Computer
überhandnimmt, dem empfiehlt die Psychologin Anna Miller vom Digital
Balance Lab kleine konkrete Verhaltensänderungen. Schon mehr physische
Distanz zu den elektronischen Geräten helfe. So sollten Computer und
Smartphone z. B. nicht mit ins Schlafzimmer genommen werden. Auch ein
analoger Wecker sei sinnvoll, um nicht direkt nach dem Aufwachen Zeit
im Netz zu verbringen. Überhaupt sollten Zeiten und Unternehmungen
eingeplant werden, in denen PC und Handy aus bleiben. Nicht jede
E-Mail muss sofort beantwortet werden. Vielmehr seien feste
Zeitfenster sinnvoll, in denen digitale Aktivitäten gebündelt würden.
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Besonders soziale Netzwerke wie Instagram, TikTok oder Youtube können das Körperbild Heranwachsender negativ beeinflussen. Wie in Teilen von Instagram zum Beispiel Magersucht glorifiziert wird, hat die Initiative Reset untersucht. Ihre Studie ergab: Bereits ein Fake-Account mit sechs Fotos eines abgemagerten Mädchens reichte aus, um 900 Follower zu gewinnen und zudem Männer anzuziehen, die sich als "Coaches" anboten, in Wirklichkeit aber noch mehr Fotos von dem Mädchen wollten. Das Fazit der Forscher: Besonders verletzliche Teenager würden von der Betreiberplattform nicht angemessen geschützt. Inhalte, die Essstörungen verharmlosen oder verherrlichen, würden nicht ausreichend entfernt. Zudem verschärfe die Empfehlungslogik der Plattform das Problem. Wer nur einer Handvoll Profilen der "Thinfluencer"-Szene folge, bekomme automatisch immer mehr entsprechende Inhalte vorgeschlagen, die übermäßigen Gewichtsverlust glorifizieren.
Besonders Mädchen sind gefährdet, aufgrund von Vorbildern aus sozialen Netzwerken ein gestörtes Verhältnis zu ihrem Körper zu entwickeln.
Aktuellen Analysen zufolge ist die Zahl der Jugendlichen mit starkem Untergewicht während der Coronapandemie um Auszeiten vom Handy sind wichtig, um bewusst Zeit mit der Familie und Freunden zu verbringen. mehr als ein Drittel gestiegen - also in der Zeit, in der auch die Mediennutzung bei Jugendlichen noch einmal zugenommen hat. Obwohl immer mehr Essstörungen in Kliniken behandelt werden, ist nicht jede Therapie erfolgreich. Zwischen 5 und 15 Prozent der Patientinnen sterben laut der Deutschen Gesellschaft für Ess-Störungen (DGESS), nur 50 Prozent der Betroffenen werden wieder ganz gesund. Damit ist Magersucht die mit Abstand gefährlichste psychiatrische Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen.
Gerade soziale Netzwerke bergen noch weitere Gefahren. Viele Nutzer fühlen sich hinterher leer und isoliert - trotz Hunderter Kontakte. Globale Verbundenheit hatte Facebook-Gründer Mark Zuckerberg prophezeit, doch die Folgen sind andere. Forschungen belegen, dass eine intensive Nutzung dazu führt, dass sich Menschen immer einsamer fühlen. Hinzu kommt, dass die ständige, für alle einsehbare Bewertung der Aktivitäten durch Likes und Kommentare auf Dauer krank machende Gefühle der Minderwertigkeit auslösen kann.
Mit zahlreichen Kniffen versuchen die Tech-Konzerne, Nutzer möglichst lange auf ihren Portalen zu halten, um ihnen möglichst viel Werbung zu zeigen. Ein endloser Strom an Nachrichten und Kontaktmöglichkeiten triggert beim Nutzer das Gefühl, etwas zu verpassen, sollte er sich ausloggen. Fear of missing out, kurz FOMO, nennt sich das Phänomen, das es Menschen immer schwerer macht, sich auszuklinken.
Doch wer nur noch über den Bildschirm das Leben anderer verfolgt, verpasst darüber das eigene. Menschen sehnen sich nach Lebendigkeit, nach Erfahrungen und echtem Austausch mit ihrer Umwelt. "Wenn wir mal wieder 6 Stunden im Regen wandern waren, dann spüren wir uns wieder, weil wir uns etwas ausgesetzt haben", sagt Anna Miller. Und betont, dass die Körperlichkeit im durchdigitalisierten Leben zu kurz komme. Kopf und Körper übers reale Erleben wieder zusammenzuführen, sei daher äußerst wichtig. Ein Spaziergang ohne Smartphone ist da doch ein guter Anfang.
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Medienkompetenz vermitteln
Der beste Weg, um zu verhindern, dass Kinder und Jugendliche eine
problematische Mediennutzung entwickeln, ist eine bewusste
Medienerziehung. Dazu gehören vor allem klare altersgerechte
Vereinbarungen in der Familie. Ein generelles Medienverbot berge laut
Experten die Gefahr, dass wichtige Kompetenzen nicht gelernt würden.
Auf der Website www.ins-netz-gehen.info hat die Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung eine Reihe hilfreicher Tipps und Hinweise
für Eltern, Lehr- und Fachkräfte zusammengestellt. Dort findet sich
auch der Selbsttest "Check dich selbst", der jungen Menschen dabei
hilft, ihre Mediennutzung eigenständig zu überprüfen. Zudem bietet das
Portal eine kostenlose E-Mail-Beratung durch Experten sowie eine
Datenbank mit Beratungsstellen.
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Quelle:
Securvital 4/22 - Oktober-Dezember 2022, Seite 6-10
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen
Herausgeber: SECURVITA Gesellschaft zur Entwicklung alternativer Versicherungskonzepte mbH
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Internet: www.securvita.de
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 9. Dezember 2022
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