Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → SOZIALES


MENSCHENRECHTE/040: Wenn das Menschenrecht auf Verhütung am Geld scheitert (pro familia)


pro familia magazin 3/2015
Deutsche Gesellschaft für Familienplanung,
Sexualpädagogik + Sexualberatung e.V.

Erfahrungen einer Schwangerenberaterin
Wenn das Menschenrecht auf Verhütung am Geld scheitert

Von Simone Hartig


Seit 1976 bin ich in der Beratung nach § 219 in der pro familia Beratungsstelle Flensburg tätig. In diesen fast 40 Jahren habe ich Einblicke in eine große Anzahl unterschiedlichster Lebenssituationen erhalten, in denen Frauen und Männer sich damit auseinandersetzen, ein Kind zu bekommen oder sich für einen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden.

Familienplanung ist immer Thema in den Beratungen. Die Frage "Was ist schief gegangen?" wird meist sehr offen beantwortet. "Das Kondom war wohl kaputt." - "In den letzten Jahren haben wir aufgepasst und es ist immer gut gegangen." - "Eigentlich wollte ich mich schon lange sterilisieren lassen, aber das kostet so viel und es kam finanziell immer wieder was dazwischen."

Untersuchungen, die belegen, dass Menschen mit geringem Einkommen zunehmend unsicher verhüten, weil sie sich nachhaltige und besonders sichere Verhütung nicht leisten können, kann ich aus der Praxis eindeutig bestätigen. Vor Einführung der Hartz IV-Gesetze und des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes bestand die Möglichkeit für EmpfängerInnen von Sozialhilfe, die Kosten über das Sozialamt abzurechnen. Eine Sterilisation wurde früher für Frauen und Männer von den Krankenkassen bezahlt. Beide Möglichkeiten gibt es heute nicht mehr.

Für die Beratung bedeuten diese Veränderungen, dass ich über die Verhütungsmittel zwar informiere, sie zeige, Befürchtungen nehme und Fragen beantworte, es aber oft schon klar ist, dass eine Umsetzung aus finanziellen Gründen nicht möglich ist. Das Menschenrecht auf Zugang zu Verhütung ist nicht mehr gegeben. Ein - wie ich finde - unhaltbarer Zustand!

Keine individuelle Wahl möglich

Zumal die individuelle Wahl eine Grundlage dafür ist, dass die Familienplanung funktioniert. Ein gutes Beispiel ist hier eine 22-jährige alleinerziehende Frau, nennen wir sie Frau Meyer. Sie kam mit dem Entschluss für einen Schwangerschaftsabbruch in die Beratung, weil sie es sich nicht vorstellen konnte, in ihrer Situation die Verantwortung für ein weiteres Kind zu übernehmen. Frau Meyer nahm an einer Maßnahme des Jobcenters teil, brachte ihr Kind in die Kita, regelte den Haushalt und die Finanzen. Eigentlich hatte sie sich von ihrem Freund getrennt, weil er sie nicht unterstützte und sie viel stritten. Wegen des Kindes sahen sie sich aber mehr oder weniger regelmäßig. Die gegenseitige Anziehungskraft war immer noch da. Im Nachhinein ärgerte sie sich zwar, dass sie nicht "standhaft" geblieben war, andererseits hatte sie die Nähe und die Sexualität genossen. Besonders ärgerte sie sich über sich selber, weil sie es nicht geschafft hatte, die Pille regelmäßig zu nehmen, aber sie war einfach mit zu vielem beschäftigt. Wie sie es mit der Verhütung zukünftig regeln sollte, wusste sie nicht. Ich informierte sie über Alternativen, erklärte und zeigte ihr zum Beispiel den Nuva Ring und Spiralen. Die Hormonspirale stellte sich als die für sie geeignetste Methode heraus. Hätte sie in einem der umliegenden Kreise gewohnt, wäre die Beratung zur Familienplanung hier zu Ende gewesen. Denn die nötigen 300 bis 400 Euro konnte sie nicht aufbringen.

Regionales Angebot zur Kostenübernahme

Seit 2009 sind wir in Flensburg aber in der glücklichen Lage, dass Frauen und Männer mit geringem Einkommen über unsere Beratungsstelle einen Antrag auf Kostenübernahme von Verhütungsmitteln, so auch der Spirale, stellen können. 25.000 Euro stellt die Stadt - trotz großer finanzieller Engpässe - aktuell als freiwillige Leistung hierfür in den Haushalt. Frau Meyer kam mit einem Kostenvoranschlag ihrer Gynäkologin und ihrem aktuellen Arbeitslosengeld II-Bescheid zu uns. Meine Kollegin prüfte die Berechtigung, Frau Meyer bekam einen Bewilligungsbescheid für die Praxis mit und wir bezahlten später deren Rechnung. Ein einfaches System, das sich bewährt hat. Nähere Informationen dazu sind auf unserer Homepage - www.profamilia-sh.de - unter der Beratungsstelle Flensburg zu finden.

Vormerkliste, weil Gelder nicht ausreichen

Leider reicht das Geld, das die Stadt zur Verfügung stellt, nicht aus. Die Probleme, die so entstehen, verdeutlicht ein weiterer Fall. Frau und Herr Müller erschienen kurz vor Jahresende zur Beratung, weil Frau Müller wieder schwanger war. Das Paar vermutete, dass mit dem Kondom etwas nicht in Ordnung gewesen war. Sie hatten es nach der Anwendung allerdings nicht überprüft. Herr Müller stand wegen der Kostenübernahme einer Sterilisation schon auf unserer Vormerkliste, konnte aber in diesem Jahr nicht mehr berücksichtigt werden, weil das Geld verplant war. Für Frau Müller kamen aus gesundheitlichen Gründen hormonelle Kontrazeptiva nicht in Frage. Auch dieses Paar - beide Anfang dreißig - entschied sich für einen Schwangerschaftsabbruch. Die Familienplanung war mit drei Kindern abgeschlossen. Der Verdienst des Mannes reichte nicht aus, deshalb erhielt die Familie ergänzend ALG II. Wir konnten die Kostenübernahme für die Sterilisation des Mannes bewilligen, als zu Beginn des nächsten Jahres wieder Geld zur Verfügung stand. Beide waren sehr froh über diese Lösung. Dieser Fall macht einerseits deutlich, wie positiv es ist, dass wir in Flensburg die Möglichkeit der Kostenübernahme haben. Andererseits wird klar, dass eine Regelung mit Rechtsanspruch und entsprechender finanzieller Ausgestaltung dringend notwendig ist.

Kostenübernahme darf nicht vom Wohnort abhängen

Wie wichtig eine bundesweite einheitliche Regelung ist, verdeutlicht ein anderer Fall. Eine Frau - Anfang Dreißig - kam mit der Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch in die Beratung. Sie bezeichnete sich selbst als psychisch angeschlagen und zu diesem Zeitpunkt wenig belastbar. Hintergrund war eine schwierige Trennung. Die Kinder waren beim Exmann geblieben. Kurz zuvor hatte sie hier im Norden mit einer Teilzeitarbeit und einer neuen Liebe einen Neuanfang gewagt. An einem Abend hatten ihr Freund und sie - auch im Zusammenhang mit Alkohol - nicht verhütet. Sie waren später davon ausgegangen, dass dieses "eine Mal" doch nicht zu einer Schwangerschaft führen konnte. Die Frau war ärgerlich auf sich selber und auch auf ihren Freund, bezeichnete sich als "eigentlich alt genug, um sich nicht so verantwortungslos zu verhalten". Sie und ihr Freund - Vater von zwei Kindern und unterhaltspflichtig - konnten sich nicht vorstellen, in ihrer Lebenssituation die Verantwortung für ein weiteres Kind zu übernehmen. Wichtig war ihr eine sichere Verhütung für die Zukunft. Die Pille kam für sie nicht in Frage, weil sie befürchtete, dass sie sie auf Grund ihrer Verfassung vergessen könnte. in Absprache mit ihrem Gynäkologen wollte sie die Dreimonatsspritze "versuchen", auch wenn sie dieser Methode eher kritisch gegenüber stand. Viel lieber hätte sie die Hormonspirale genommen, aber sie konnte sie sich von ihrem geringen Gehalt, das durch ALG II aufgestockt wurde, nicht leisten. Die Frau wohnte im Kreisgebiet von Flensburg und dort existiert keine Möglichkeit der Kostenübernahme. Dies ist eins von vielen Beispielen dafür, wie die finanzielle Situation die Wahl der Verhütungsmethode bestimmt.

In den vorgestellten Beispielen ging es um teurere und nachhaltige Verhütungsmittel. Aber auch die Bezahlung der Pille stellt Menschen vor Probleme. Die Einlösung eines Rezeptes für sechs Monate ist für viele eine zu große Summe. So wird das Rezept Monat für Monat eingelöst. Ergeben sich dann unvorhersehbare Kosten, zum Beispiel Material für die Schule, wird das Geld für die Pille "vorerst" hierfür genommen. Nach wie vor gehen erstaunlich viele Frauen und Männer davon aus, dass eine Schwangerschaft nach dem Absetzen der Pille nicht so schnell eintritt. Mit mehr als 700 Anträgen zur Kostenübernahme war die Pille von 2009 bis 2014 in unserer Beratungsstelle die am meisten nachgefragte Methode.

Insgesamt haben in diesen Jahren mehr als 900 Personen über 1.300 Anträge gestellt. 137mal wurde die Hormonspirale beantragt, 63mal die Kupferspirale, 48 Frauen und 33 Männer stellten Anträge zur Sterilisationen. Diese besonders nachhaltigen und teuren Methoden banden einen Großteil des zur Verfügung stehenden Geldes.

Motiviert durch die täglichen Erfahrungen in der Beratung setze ich mich seit inzwischen zehn Jahren für eine Regelung zur Kostenübernahme von Verhütung ein. Nachdem sich auf Landes- und Bundesebene keine Bewegung abzeichnete, wurden wir in unserer Stadt aktiv. Nach etlichen - durchaus kontroversen - Diskussionen erhielten und erhalten wir viel Unterstützung aus Verwaltung und Politik.

Inzwischen existieren nach unserem Vorbild Angebote der Kostenübernahme in einigen Kreisen und Städten in Schleswig-Holstein, weitere sind in Planung. Nachfragen zu unserer Regelung kommen aus ganz Deutschland: aus Beratungsstellen sowie von Politik und Verwaltung. Deutlich wird, dass überall mit viel Engagement versucht wird, das Menschenrecht auf Verhütung zumindest in Ansätzen umzusetzen. Allerdings sind diese Möglichkeiten sehr begrenzt.

Familienplanung ein Menschenrecht für alle

2013 organisierten wir deshalb gemeinsam mit der Landesarbeitsgemeinschaft der Gleichstellungsbeauftragten Schleswig-Holstein und dem Hebammenverband Schleswig-Holstein die Tagung "Familienplanung - ein Menschenrecht für alle". Sie fand - mit Unterstützung des Ministeriums für Soziales, Gesundheit, Familie und Gleichstellung des Landes Schleswig-Holstein - im Landeshaus in Kiel statt. Die in diesem Zusammenhang vorgestellte "Kieler Resolution" forderte "umgehend eine bundeseinheitliche Lösung zur Übernahme der Kosten ärztlich verordneter Kontrazeptiva für Frauen und Männer mit geringem Einkommen zu finden" (siehe auch pro familia magazin 1/2014, Seite 30). Sie fand bundesweit Beachtung und Unterstützung. 2014 übergaben wir sie im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Berlin. Im Gespräch wurde deutlich, dass das Bewusstsein für die Wichtigkeit und Ernsthaftigkeit des Themas bei den Verantwortlichen im Ministerium vorhanden ist. Ernüchterndes Ergebnis war aber, dass im Kontext der gesetzlichen und politischen Rahmenbedingungen eine konkrete Lösung äußerst schwierig ist. Informationen zur Tagung und zur Resolution sind eingestellt unter:
http://www.profamilia-shde/pages/verband/verhuetung-ein-menschenrecht/

Wir hoffen nun, dass die - durch den pro familia Landesverband Schleswig-Holstein angeregte und durch den Bundesverband durchgeführte - Bundestagspetition endlich dazu führt, dass das Menschenrecht auf Verhütung in Deutschland umgesetzt wird!


Simone Hartig, Erzieherin, Beraterin mit gestalttherapeutischer Zusatzubildung ist Leiterin von pro familia Flensburg und Dienstälteste im Landesverband Schleswig-Holstein.

*

Quelle:
pro familia magazin Nr. 03/2015, S. 19 - 21
Herausgeber und Redaktion:
pro familia Deutsche Gesellschaft für Familienplanung,
Sexualpädagogik und Sexualberatung e.V., Bundesverband
Stresemannallee 3, 60596 Frankfurt am Main
Telefon: 069 26 95 779-0, Fax: 069 26 95 779-30
E-Mail: info@profamilia.de
Internet: www.profamilia.de
 
Das pro familia magazin erscheint vierteljährlich.
Das Einzelheft kostet 5,10 Euro, ein Jahresabonnement 19,50 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Dezember 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang