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SUCHT/676: Suchtkranke Familien - "Mit acht Jahren habe ich das erste Mal meine Mutter geduscht" (SozPsy)


Soziale Psychiatrie Nr. 155 - Heft 1/17, Januar 2017
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Auf der Strasse ... Wohnungslosigkeit und Sucht
»Mit acht Jahren habe ich das erste Mal meine Mutter geduscht«

Von Petra Groh-Kankarowitsch und Darius Chahmoradi Tabatabai


Kinder aus suchtbelasteten Familien stehen unter einem enormen Druck und sind starken Belastungen ausgesetzt, denen sie oft nicht gewachsen sind. Die Behandlung und Begleitung suchtkranker Familien stellt Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Suchtkrankenhilfe wie in der Kinder- und Jugendhilfe häufig vor große Herausforderungen.


Mit acht Jahren habe ich das erste Mal meine Mutter geduscht, ihr Frühstück gemacht und auf Arbeit angerufen ...«, erzählt die 42-jährige Jenny auf dem Ehemaligentreffen der Entwöhnungsklinik. Jetzt lebt sie selbst seit zwei Jahren abstinent von Alkohol, seit einem Jahr wohnen ihre beiden Kinder Marc (sieben Jahre) und Christofer (zwölf Jahre) wieder bei ihr, und die Familienhelferin schaut zweimal in der Woche vorbei.

Was an unserem Beispiel vielleicht anfänglich betroffen macht, sich aber dann auch optimistisch anhört, ist das Ergebnis eines längeren Prozesses und womöglich einer veränderten Blickrichtung aller Beteiligten. Sucht und Elternschaft ist ein Thema, das häufig sehr emotionsgeladen Bilder von Verwahrlosung, Gewalt und Vernachlässigung entstehen lässt und zwischen mitleidig-angeekeltem Wegschauen, strafend-restriktiven Impulsen und Hilflosigkeit verschiedene Reaktionen auslöst. Tatsächlich leben gegenwärtig in Deutschland nach einer Untersuchung des Robert-Koch-Instituts (Bundesministerium für Gesundheit 2016) bis zu 6,6 Millionen Kinder bei einem Elternteil mit riskantem Alkoholkonsum bzw. 4,2 Millionen Kinder bei einem Elternteil mit regelmäßigem Rauschtrinken. Bei diesen Untersuchungen wurden aus methodischen Gründen Eltern mit riskantem Konsum bzw. regelmäßigem Rauschtrinken erfasst und damit eine alarmierend höhere Anzahl an betroffenen Kindern ermittelt als bei Studien, die nur auf elterlichen Alkoholmissbrauch oder Abhängigkeit ausgerichtet sind (z.B. Klein 2005). Jedes dritte Kind in einer suchtbelasteten Familie erfährt regelmäßig physische Gewalt, sei es als Zeuge oder als Opfer. Kinder suchtkranker Eltern stellen die größte Risikogruppe für die Entwicklung einer Substanzabhängigkeit dar; etwa 30 bis 40 Prozent von ihnen werden selbst wieder abhängig. Auch das Risiko für weitere psychische Störungen wie Angsterkrankungen und Depressionen ist erhöht.

Etwa 5 bis 6 Millionen erwachsene Kinder suchtkranker Eltern haben mit den Folgen der Abhängigkeit ihrer Eltern zu kämpfen. Alkoholbelastete Familien sind daher eine der wichtigsten Zielgruppen für unterstützende und präventiv wirkende Maßnahmen der unterschiedlichen Hilfesysteme (Klein 2005).

Wie erleben Kinder suchtkranker Eltern ihre familiäre Situation?

Die Abhängigkeitserkrankung eines oder sogar beider Elternteile prägt die gesamte Familienatmosphäre und stellt für viele Kinder ein einschneidendes Lebensereignis dar. Oft gelten unausgesprochene Regeln, die das Familiensystem nach außen starr abgrenzen (»Darüber wird mit niemandem gesprochen«, »Bei uns ist alles in Ordnung«). Soziale Kontakte sind häufig auf ein Minimum reduziert, unterstützende Netzwerke bestehen kaum. Alle Kraft wird in die Wahrung einer intakten Fassade gesteckt. Innerhalb der Familie sind die Grenzen oft diffus und die Rollenmuster verschoben. Das heißt, Kinder übernehmen häufig Verantwortung und Unterstützungsaufgaben für den abhängigen Elternteil, die sie stark überfordern. Gleichzeitig sind sie oft Konflikten, Spannungen und Gewalt ausgesetzt und leiden unter der emotionalen Unberechenbarkeit und krankheitsbedingten Verhaltensänderungen ihrer wichtigsten Bezugspersonen. Dies führt zu einer massiven eigenen Verunsicherung; Scham- und Schuldgefühle, Angst und Sorge um die Gesundheit der Eltern und ambivalente Gefühle zwischen Hass, Verachtung und Liebe für den trinkenden Elternteil belasten die Kinder. Aufgrund der oft chronischen Frustration kindlicher Grundbedürfnisse und Störungen in der Eltern-Kind-Beziehung sind die Kinder aus suchtbelasteten Familien einem höheren Entwicklungsrisiko ausgesetzt, und die Wahrscheinlichkeit, selbst eine Abhängigkeitserkrankung oder eine Verhaltens- und Erlebensstörung (z.B. Hyperaktivität, Angststörung, Depression) zu entwickeln, ist um ein Vielfaches höher als bei Kindern mit normalem familiären Hintergrund (Lenz 2009).

»Es hat keiner was gemerkt!« - Ängste und Befürchtungen suchtkranker Eltern

Die innerpsychische Erlebniswelt von suchtkranken Menschen ist meist gekennzeichnet von Minderwertigkeits- und Insuffizienzgefühlen, Selbstvorwürfe und Schuldgefühle lassen einen enormen inneren Druck entstehen. Äußeren Druck erlebt der suchtkranke Mensch häufig durch Angehörige und das weitere soziale Umfeld. Die Erziehung und Betreuung der Kinder wird nicht selten als zusätzliche Belastung erlebt (Lenz 2009). Trotzdem machen sich suchtkranke Eltern oft Vorwürfe, ihre Kinder nicht ausreichend versorgen zu können, und fühlen sich schuldig und verantwortlich für die Belastungen und Sorgen ihrer Kinder. Andererseits stellt aber oftmals die Versorgung der eigenen Kinder die einzige Stabilisierung ihres Selbstwerts und eine der wenigen Ressourcen im Leben dar (Arenz-Greiving 2012). Suchtkranke Menschen erleben sich häufig als minderwertig und selbstunsicher und haben unter Umständen Schwierigkeiten, eigene Gefühle und Bedürfnisse angemessen wahrzunehmen und auszudrücken. Diese krankheitsbedingten Schwierigkeiten können aber auch dazu führen, dass suchtkranke Eltern die Probleme ihrer Kinder nicht richtig erkennen können. Verdrängung und Verleugnung sind in der Dynamik der Sucht häufige unbewusste Abwehrmechanismen, die dazu dienen, heftige negative Affekte zu unterdrücken, z.B. massive Scham- und Schuldgefühle. Genau diese Scham vieler suchtkranker Eltern verhindert aber oft die frühzeitige Inanspruchnahme von fachspezifischen Hilfen für sich und ihre Kinder. »Es hat keiner was gemerkt, ich habe meine Kinder immer gut versorgt« sind Sätze, die auf der Entzugsstation auch von schwer kranken Vätern oder Müttern aus innerer Überzeugung geäußert werden. Gleichzeitig lassen sie aber auch Angst und Vorurteile vor institutionellen Hilfen, wie z.B. vom Jugendamt, spüren. Die Sorge der Eltern besteht häufig darin, bevormundet zu werden und das Sorgerecht für ihre Kinder zu verlieren, bzw. dass ihnen die Kinder »weggenommen« werden. Eine ernst zu nehmende Sorge, ist doch die Zahl der Fremdplatzierungen bei Kindern von alkoholabhängigen Eltern 13,3 Prozent höher als in der Normalbevölkerung (Lenz 2009). Es gilt also in erster Linie, die Zugangsschwellen zu geeigneten Hilfen für alle Beteiligten zu senken.

Von versäulten Hilfesystemen zu Netzwerken - Perspektivwechsel als Herausforderung und Ziel

»Soll sich doch das Jugendamt darum kümmern, wir haben Schweigepflicht«, »Frau M. kommt doch sonst nicht wieder, die bricht die Behandlung ab«, »Die brauchen doch die Kinder zur Stabilisierung« - das sind Sätze, die wohl nahezu jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter in Beratungsstelle, Entzugsstation oder Entwöhnungsklinik kennt, galt doch lange Zeit die Aufmerksamkeit in der professionellen Suchtkrankenhilfe nur dem einzelnen Klienten oder der einzelnen Patientin, ohne über die Erhebung der Familien- und Sozialanamnese hinaus auch das gesamte Familiensystem im Blick zu haben. Aus verschiedenen Befragungen von Suchtfachkräften geht hervor, dass sie in ihrem Arbeitsalltag oft diversen Befürchtungen unterliegen, z.B. dass Klienten aus Angst vor Kontrolle wegbleiben oder sich nur schwer eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung aufbauen lässt, wenn kritisch nach der Betreuung und Versorgung der Kinder gefragt wird. Aber auch die Sorge vor mangelnder eigener Kompetenz oder Konkurrenz zu anderen Fachgebieten, wie der Jugendhilfe, Sorge um Datenschutz und die Befürchtung von Mehrarbeit und Konflikten im Team, wenn verstärkt familienorientiert gearbeitet werden soll, beschäftigt viele Kollegen und Kolleginnen (Arenz-Greiving 2012).

Die Herausforderung für die künftige Arbeit mit Familien, in denen Abhängigkeitserkrankungen vorliegen, liegt also in der Verzahnung der Suchtkrankenhilfe mit den Trägern der Kinder- und Jugendhilfe. Traditionell besteht eine strikte Trennung dieser Bereiche. Erst durch die Veränderungen der Kinderschutzgesetzgebung (Bundeskinderschutzgesetz 2012) wird die Motivation zu einer Zusammenarbeit geweckt, die für alle Beteiligten einen Paradigmenwechsel bedingt. Aus der Perspektive der Suchtkrankenhilfe steht dabei die Anpassung des Datenschutzes im Vordergrund. Suchtfachkräfte spielen somit in der Wahrnehmung des Kinderschutzes eine wichtige Rolle. Regelmäßige Kontakte von Suchtkrankenhilfe und Jugendhilfe sind schon länger dort etabliert, wo Eltern-Kind-Behandlungen zum Standard gehören. Der Tannenhof Berlin-Brandenburg entwickelte beispielsweise für die Entwöhnungstherapie drogenabhängiger Eltern schon in den 1980er-Jahren integrierte Angebote für meist sehr junge Eltern mit basalen Schwierigkeiten hinsichtlich der Elternrolle. Hier liegen also bereits Best-Practice-Modelle vor, von denen nun die verschiedenen Institutionen der Suchtkrankenhilfe profitieren. Im suchtmedizinischen Akutbereich der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Potsdamer Klinikums Ernst von Bergmann sind zum Beispiel gemeinsame Fall- bzw. Helferkonferenzen mit dem Jugendamt und anderen beteiligten Akteuren sowie die gelegentliche Beratung durch Fachkräfte des Kinderschutzes nahezu selbstverständlich geworden. Deutlich lässt sich auch am Beispiel der Hartmut-Spittler-Fachklinik für Entwöhnungstherapie in Berlin-Schöneberg eine Veränderung der Blickrichtung skizzieren: Mit der Unterzeichnung der Kooperationsvereinbarung zum Kinderschutz wurde das Therapiekonzept schrittweise ergänzt um gezielte Angebote zum Thema Elternschaft und Sucht. Von basalen psychoedukativen Inhalten bis hin zu einem »Eltern-Skill-Training« werden Eltern motiviert, sich mit ihrer familiären Situation auseinanderzusetzen. Die Klinik soll dabei als ein Partner wirksam werden, mit dem man auch gemeinsame Gespräche mit den Familienhelfern und anderen Professionellen aus dem Kinder- und Jugendhilfebereich führt. Dabei bewegt sich die Klinik in einem Bezirk, in dem die Suchtkoordinatorin des Bezirksamtes und die Kinderschutzbeauftragte des Jugendamtes sich zu einer konsequenten Zusammenarbeit verpflichtet haben, die erste Früchte trägt. Bei einer gemeinsamen Fachtagung im März 2016 kamen über hundert Vertreter von Jugendämtern, Suchtkrankenhilfe und Gesundheitsämtern im Berliner Roten Rathaus zusammen und beschlossen konkrete Veränderungen der Zusammenarbeit.

Im Oktober 2016 machte sich die erste Gruppe von Mitarbeitern des Jugendamtes und Trägern der Hilfen auf »eine Reise durch die Suchtkrankenhilfe«: An einem Tag besuchten sie die Beratungsstelle des Notdienstes Tempelhof-Schöneberg, eine Entzugsstation des Vivantes Wenckebach-Klinikums in Tempelhof und die Hartmut-Spittler-Fachklinik für Entwöhnung in Schöneberg. Die Mitarbeiter formulierten den Wunsch, mehr Sensibilität für Abhängigkeitserkrankungen zu entwickeln und ihrem »falschen Taktgefühl« entgegenzuwirken. Umgekehrt führen die Träger der Suchtkrankenhilfe Fortbildungsmaßnahmen für ihre Mitarbeiter durch, in denen sie lernen, ihren Blick für das System Familie zu schärfen und den präventiven Anteil ihrer Arbeit zu verinnerlichen.

In hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft sollten die Hilfen für betroffene Familien aus einer Hand erfolgen, indem die verschiedenen Ressorts übergreifend miteinander arbeiten und auf der Realebene in Institutionen münden, die das System Familie komplex erfassen. Von Geburt an sollten Risikofaktoren erfasst werden und sofortige Hilfemaßnahmen beginnen, um Risiken für die Kinder zu vermeiden und die Rolle der Eltern zu stärken. Die Gesundheitspolitik ist dabei ernsthaft gefordert. Ohne einen politischen Willen zur Überwindung von Ressortdenken wird eine flächendeckende Veränderung der Situation der Kinder aus suchtbelasteten Familien nicht gelingen.


Petra Groh-Kankarowitsch ist Diplom-Sozialpädagogin sowie psychoanalytisch orientierte Suchttherapeutin und arbeitet in der Tagesklinik für Suchtmedizin der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Klinikum Ernst von Bergmann, Potsdam.

Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Chefarzt der Hartmut-Spittler-Fachklinik für Entwöhnungstherapie im Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum Berlin-Schöneberg.
E-Mail: pgrohkankarowitsch@klinikumevb.de


Literatur:

ARENZ-GREIVING, I. (2012): Kinder als Angehörige sehen - was muss sich in der Suchthilfe tun, damit Suchtkranke auch als Eltern wahrgenommen werden? In: Partnerschaftlich 3, S. 11-14.

BUNDESMINISTERIUM FÜR GESUNDHEIT (2016): Kurzbericht: Entwicklung von bundesweit aussagekräftigen Kennziffern zu alkoholbelasteten Familien [Robert-Koch-Institut].

KLEIN, M. (2005): Kinder und Jugendliche aus alkoholbelasteten Familien. Stand der Forschung, Situations- und Merkmalsanalyse, Konsequenzen. In: Klein, M.; Hof, T.; Pauly, A. (Hrsg.): Schriftenreihe Angewandte Suchtforschung. Band 1. Regensburg.

LENZ, A. (2013): Riskante Lebensbedingungen von Kindern psychisch und suchtkranker Eltern - Stärkung ihrer Resilienzressourcen durch Angebote der Jugendhilfe. Expertise im Rahmen des 13. Kinder- und Jugendberichtes der Bundesregierung. Hrsg.: Sachverständigenkommission des 13. Kinder- und Jugendberichtes.

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 155 - Heft 1/17, Januar 2017, Seite 31 - 33
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Februar 2017

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