Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → SOZIALES


SUCHT/677: Sozialer Wohnraum - wo können suchtkranke Menschen noch leben? (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 155 - Heft 1/17, Januar 2017
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Auf der Strasse ... Wohnungslosigkeit und Sucht
Sozialer Wohnraum - wo können suchtkranke Menschen noch leben?

Von Wolfgang Bauer-Schneider


Die Neue Wohnraumhilfe (MWH) ist eine gemeinnützige GmbH in Darmstadt, die Wohnraum und soziale Dienste für Menschen in prekären Lebenslagen anbietet. Sie versteht sich als Partner und Dienstleister der sozialen Wohnungswirtschaft.


In vielen großen Städten wird das Angebot an bezahlbaren Wohnungen knapp; gleichzeitig gibt es in bevölkerungsschwachen Regionen viele leer stehende Wohnungen. Experten sagen voraus, dass in Deutschland 2017 schon 400.000 Mietwohnungen fehlen werden. Immer mehr Menschen können sich ihre Wohnung nicht mehr leisten - die Mieten steigen, vor allem in den Metropolen. Aktuell fordern immer mehr Initiativen und Sozialverbände die Politik auf, rasch für mehr bezahlbaren Wohnraum zu sorgen.

Der Wohnungsmarkt - Daten und Trends

Die Bundesregierung versucht mit der Mietpreisbremse gegen die Kostenexplosion anzukämpfen. Zudem soll das Wohngeld für Geringverdiener spürbar steigen. Schon seit einiger Zeit hat sich die Politik weitgehend aus dem sozialen Wohnungsbau zurückgezogen. Die Zahl der öffentlich geförderten Sozialwohnungen hat einen Tiefstand erreicht. Der Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen (GdW), in dem 3000 Wohnungs- und Immobilienunternehmen organisiert sind, veröffentlicht jährlich die aktuellen Kerndaten zum deutschen Wohnungsmarkt:

  • insgesamt gibt es 40,5 Millionen Wohnungen;
  • 23,3 Millionen davon werden vermietet;
  • 8,3 Millionen davon werden von professionell-gewerblichen Anbietern verwaltet.

Laut GdW gibt es bundesweit immer weniger mietpreis- und belegungsgebundene Sozialwohnungen. Waren es 2002 noch 2,57 Millionen Wohnobjekte, so gab es zehn Jahre später nur noch 1,54 Millionen. Das sind gerade einmal 3,8 Prozent aller Wohnungen in Deutschland (GdW, "Wohnungswirtschaftliche Daten und Trends" 11/2014). Nach Angaben des Bundesbauministeriums hat sich dieser Trend weiter fortgesetzt. So schrumpfte der Bestand 2013 um 63.000 auf 1,48 Millionen Wohnobjekte.

Die "Neue Wohnraumhilfe"

Zurzeit hat die Stadt Darmstadt etwa 145 Plätze für die Unterbringung obdachloser Menschen eingerichtet. Es gilt, für diese Menschen und jene, die von Obdachlosigkeit bedroht sind, adäquaten und bezahlbaren Wohnraum zu finden. Hierbei brauchen sie oftmals Unterstützung, da die Wohnungslosigkeit häufig nicht die einzige Problemlage darstellt: Alkohol und andere Drogen, Überschuldung und Arbeitslosigkeit, Vorstrafen und zu wenig Informationen über das vorhandene Hilfesystem erschweren und behindern die Wohnungssuche. Hier knüpft die Neue Wohnraumhilfe als Bindeglied zwischen Sozialarbeit und Wohnungswirtschaft an.

Entstehung und Entwicklung
Die Neue Wohnraumhilfe ist Mitglied im Paritätischen Wohlfahrtsverband und Teil der freien Wohlfahrtspflege. Die Gründung erfolgte 1991 in einer Phase großer Wohnungsnot durch sozialpädagogische Vereine aus verschiedenen Bereichen der Sozialarbeit. Die NWH sollte die Wohnungsversorgung für wohnungslose Klienten der Sozialarbeit und andere Menschen ohne Wohnung sichern und durch die Wohnungsverwaltung gleichzeitig auch Sorge für den nachhaltigen Erhalt der neu entstandenen Mietverträge übernehmen. Später kamen mit der Mieterberatung, der Mietrückstands- und Mieterkonfliktberatung, dem betreuten Wohnen, der Frauenbildungsberatung und mit Wohnbauprojekten andere Arbeitsfelder hinzu. In allen Bereichen liegt der Schwerpunkt bei der aufsuchenden Arbeit und der Zielsetzung der Vermeidung von Wohnungslosigkeit durch verschiedene Angebote sozialer Hilfen.

Unseren Mietern ist gemeinsam, dass sie bestimmte Einkommensgrenzen nicht übersteigen. In der Regel bekommen sie die Kosten für die Unterkunft erstattet oder erhalten dafür Teilzahlungen.

Bei den Wohnungssuchenden handelt es sich um Menschen in unterschiedlichen prekären Lebenssituationen. Wir versuchen, Obdachlose wieder zu integrieren und von Wohnungslosigkeit Bedrohten zu helfen. Zur Zielgruppe zählen auch suchtkranke Menschen, Frauen aus Frauenhäusern, Klienten der Bewährungshilfe und Strafentlassene, die wieder Fuß fassen sollen und wollen.

Die Bewohner bekommen von uns einen normalen Mietvertrag. Die Mieten übersteigen in der Regel nicht die Mietpreisobergrenzen.

Bei zirka 80 Prozent der Mietverhältnisse müssen wir nicht weiter einschreiten; in etwa 15 Prozent bedarf es bestimmter Interventionen; etwa fünf Prozent unserer Mietverhältnisse gestalten sich mehr als schwierig.

Zurzeit arbeiten zirka 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in unserem Unternehmen. Es gibt zentrale und stets erreichbare Ansprechpartner für unsere Mieter, und mittlerweile beschäftigen wir drei Hausmeister.

Bei Störungen des Mietverhältnisses werden wir mit aufsuchender Sozialarbeit tätig; bei Gefährdung der Wohnung unterbreiten wir soziale Angebote zur Sicherung des Vertrages. Ziel ist ein langfristig stabiles Mietverhältnis.

Struktur
Die 'Soziale Wohnraumversorgung' nimmt sich im Rahmen der Wohlfahrtspflege einer Querschnittsaufgabe an: Wohnungslose Klienten werden mit Normalwohnraum versorgt, wenn es deren persönliche Möglichkeiten zulassen. Unsere Hilfen werden von Menschen nachgefragt, die auf der Straße und in Notunterkünften leben, aber auch von Frauen aus Frauenhäusern, Jugendlichen nach Jugendhilfemaßnahmen und Klienten der Behindertenhilfe. Alle neuen Mieterinnen und Mieter waren zum Zeitpunkt der Mietvertragsunterzeichnung wohnungslos bzw. von Wohnungslosigkeit bedroht (durch fristlose Kündigung, nicht abwendbare Räumung, Entlassung aus Kliniken, Therapieeinrichtungen und Justizvollzugsanstalten). Es handelt sich bei unserer Wohnungsversorgung zumeist um die Einrichtung von Mietverhältnissen für alleinstehende und allein erziehende Personen. So sind die meisten Wohnungen Appartements oder Ein- bis Zweizimmerwohnungen.

Nach der Einmietung in die von uns verwalteten Wohnungen entsteht ein "normales" Mietverhältnis, das seine Besonderheit nur in Fällen von Störungen zeigt. Dann erfolgt ein sozialarbeiterisches Angebot, um bei der Stabilisierung des Mietverhältnisses zu helfen.

Arbeitsweise
Die Wohnraumverwaltung ist darauf angelegt, schnell und persönlich zu reagieren. Ihr soziales Ziel ist der dauerhafte Erhalt der Vertragsverhältnisse und somit die dauerhafte Integration ins soziale Wohnumfeld. Ihr wirtschaftliches Ziel ist, Mieteinnahmen und Mietausgaben in gleicher Höhe zu halten.

Die NWH verwaltet mittlerweile mehr als 350 Wohnungen. Wir mieten Wohnungen an und kaufen preisgünstige Eigentumswohnungen. Durch die engen Kontakte mit Wohnungsunternehmen haben wir manchmal die Möglichkeit, wenn Wohngebiete neu konzipiert werden, aber bis zur Realisierung neuer Projekte leer stehen würden, diese dann befristet anzumieten.

In Darmstadt hat sich die städtische Verwaltung entschieden, ihren Wohnungsbestand an die eigene kommunale Tochter, die Bauverein AG, zu verkaufen Darunter waren Objekte, die sich in einem schlechten Zustand befanden und zum Teil nur zu 50 Prozent belegt waren. Durch entsprechende Verhandlungen ist es uns gelungen, mehr als 30 Wohnungen aus diesem städtischen Fundus für unsere Zwecke belegen zu können.

Wir akquirieren eigenständig Wohnungen übers Internet und durch Mund-zu-Mund-Propaganda. Für Vermieter sind wir häufig ein sicherer Mieter und können eine Mietgarantie leisten.

Darüber hinaus initiierten wir Wohnbauprojekte, die von der Bauverein AG als Investor realisiert wurden und bei denen die NWH als Generalmieter auftrat. Dies betraf unter anderem die Fertigstellung eines Neubauprojektes mit zwölf Wohnungen im sozialen Wohnungsbau (1998), den Generalmietvertrag für einen Neubau mit 46 Wohneinheiten, der nach unseren Vorstellungen konzipiert wurde (2007), und die Planung und Projektierung eines Neubauprojektes im Passivhausstandard mit Modellcharakter im sozialen Wohnungsbau (2016).

Soziale Mieterberatung
Seit 1996 bietet die Neue Wohnraumhilfe für mehrere Baugesellschaften und Baugenossenschaften im südhessischen Raum eine soziale Mieterberatung an. Darüber hinaus berät sie Kommunen und koordiniert die "Soziale Stadt" in einem Rüsselsheimer Stadtteil. Die Auftraggeber nutzen unsere Dienstleistung, da wir als unabhängiger Träger bei der Mietschuldner- und Mietstreitigkeitsberatung neutral mit den Mietern verhandeln können und somit eher erfolgreich sind. Grundsätzlich versuchen wir zu verhindern, dass Räumungsklagen anhängig gemacht werden oder schon vorhandene Räumungstitel vollstreckt werden. Dies erreichen wir vor allem, indem wir Mietrückstände einbringen und Mietstreitigkeiten schlichten. Unser wirtschaftlicher Erfolg im Abbau von Mietrückständen wird in monatlichen Abständen von den Baugesellschaften bzw. Baugenossenschaften statistisch erfasst und kontrolliert.

Betreutes Wohnen gemäß § 53 SGB XII
Verpflichtend für die Arbeit mit alkoholkranken Menschen ist der § 53 Sozialgesetzbuch (SGB) XII. Die NWH ist seit 1999 von der Stadt Darmstadt und dem Landkreis Darmstadt-Dieburg als Träger für Maßnahmen des betreuten Einzelwohnens und betreuter Wohngemeinschaften für alkoholkranke Menschen anerkannt. Im Stadtgebiet Darmstadt stehen 26 und im Landkreis Darmstadt-Dieburg acht Betreuungsplätze zur Verfügung. Es existieren drei Wohngemeinschaften für Männer, die restlichen Betreuungen werden im Einzelwohnen durchgeführt. Die Personen melden sich aus eigener Motivation oder werden von Suchtkliniken, Entgiftungsstationen und anderen Partnern des Suchthilfesystems geschickt. Die Vorbeugungsmaßnahme ist auf freiwilliger Basis und kann sowohl vom Betreuten als auch von der NWH vorzeitig, also vor Ende des bewilligten Zeitraumes, beendet werden (z.B. bei Zielerreichung oder Nichtmitwirkung). Seit 2005 ist der Landeswohlfahrtsverband Hessen alleiniger Kostenträger des betreuten Wohnens.

Ambulant betreutes Einzelwohnen gemäß § 67 ff. SGB XII
Die NWH bietet auch ambulant betreutes Wohnen für Personen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten gemäß § 67 ff. SGB XII an. Unterstützt bzw. betreut werden können Menschen zwischen 18 und 65 Jahren. Auch diese Personen werden von Institutionen und Kooperationspartnern zu uns geschickt oder kommen aus eigener Motivation; die Betreuungsmaßnahme geschieht ebenfalls auf freiwilliger Basis. Die Kosten der Betreuung werden von der Stadt Darmstadt bzw. dem Kreissozialamt des Landkreises Darmstadt-Dieburg nach Antragstellung und Genehmigung übernommen.

Vorrangiges Ziel der Betreuungsleistung sind die Befähigung des Klienten zu einer möglichst eigenständigen und selbstbestimmten Lebensführung in der eigenen Wohnung und seine Integration in die Gesellschaft sowie die langfristige Stabilisierung der erreichten Vorhaben. Die Inhalte und Ziele der Betreuung orientieren sich dabei an den persönlichen Ressourcen, Fähigkeiten und Wünschen des Klienten. Für die langjährig substituierten Klienten besteht das Ziel im langfristigen Verbleib in einem möglichst selbstständigen Setting. Dazu werden gegebenenfalls pflegerische Leistungen erbracht oder organisiert.

Soziale Projekte
Neben unserem Kernangebot sind unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in verschiedenen sozialen Projekten tätig. Diese sind längerfristig angelegt und werden seit Jahren in Kooperation mit Baugesellschaften oder Städten und Kommunen durchgeführt. Hierzu gehören: das Quartiersmanagement in ausgewählten Stadtteilen von Rüsselsheim, das Lärmtelefon in Darmstadt und Rüsselsheim, ein Nachbarschaftsprojekt in Darmstadt, der Betrieb und die Betreuung einer Obdachlosenunterkunft und die Energieschuldnerberatung.

Seit Ende 2014 betreiben wir ein Unterbringungsmanagement für den Landkreis Groß-Gerau. Dazu gehören die Wohnraumbeschaffung, die Anmietung und das Ausstattungsmanagement von Wohnungen zur Nutzung als Unterkünfte für Flüchtlinge und Spätaussiedler und deren Angehörige oder auch zur dauerhaften Vermietung an Menschen mit gesichertem Aufenthaltsstatus. Ebenfalls betreuen wir seit Dezember 2015 Flüchtlinge in einem ehemaligen "Housing Area" der US-Armee mit 1000 Plätzen.

Passende Wohnformen schaffen!

Grundsätzlich versuchen wir zunächst, den Betroffenen in ihrer eigenen Wohnung zu helfen, indem wir das normale Wohnverhältnis sichern. Wenn es zu Auffälligkeiten kommt, ist ein frühestmöglicher Einstieg in die Betreuung die beste Lösung für die betroffenen Menschen.

Für alle anderen Fälle gilt es, die Menschen in für sie passende Wohnformen unterzubringen. Dazu gehören Wohngemeinschaften, "Probewohn-Verhältnisse", Einzelvermietung und Hilfen bei der Wohnraumbeschaffung sowie Wohnprojekte.

Hier einige Beispiele für Darmstadt und Umgebung:

  • Fritz-Dächert-Weg: eine Siedlung, die für die Modernisierung vorgesehen war, deren Realisierung sich aber massiv verzögert hatte; hier haben wir mittlerweile mehr als 50 Wohnungen, die gemischt belegt sind;
  • Emilstraße/Frankfurter Straße: 28 kleine Wohnungen (30 Quadratmeter), die nach der Renovierung den oben beschriebenen Zielgruppen, auch Flüchtlingen, zur Verfügung gestellt werden; es erfolgt eine gemischte Belegung mit Beratungs- und Begleitungsstruktur;
  • Neubauprojekt mit mehr als 40 Wohneinheiten auf den Konversionsflächen der Stadt Darmstadt; sozialer Wohnungsbau, Passivhausstandard, Modellprojekt mit dem Versuch der Abschaffung der Nebenkostenabrechnung (Nebenkostenflatrate) und ökologischer nachhaltiger Ausrichtung;
  • Wohnhaus für ehemals obdachlose Personen, mit 19 Zimmern und Gemeinschaftseinrichtungen.
Was wir brauchen ...

Wir brauchen funktionierende soziale Landschaften in den Kommunen und Städten, funktionierende Netzwerke, die imstande sind, die Probleme frühzeitig zu erkennen und anzugehen. Das Fachwissen der sozialen Träger kann nur dann erfolgreich umgesetzt werden, wenn es eine entsprechende Unterstützung durch die Kommune gibt.

Wir brauchen sichere Wohnungskontingente, die den Betroffenen zur Verfügung gestellt werden, sowie bindende Einzelvorschläge, die die Wohnungsämter den Wohnungsunternehmen unterbreiten können. Aber es sind auch Wohnungsunternehmen gefordert, die sich "Corporate Social Responsibility", unternehmerische Sozialverantwortung, nicht nur auf die Fahnen geschrieben haben, sondern auch leben.


Wolfgang Bauer-Schneider ist Geschäftsführer der Neuen Wohnraumhilfe gGmbH. Bei dem Artikel handelt es sich um die gekürzte Fassung eines Vortrags des Autors, gehalten auf dem Fachtag "Begegnung mit süchtigen Klienten - eine unvermeidbare Herausforderung zum gemeinsamen Handeln" am 8. April 2016 in Hamburg.

Weitere Informationen:
E-Mail: kontakt@neue-wohnraumhilfe.de
Internet: www.neue-wohnraumhilfe.de

*

Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 155 - Heft 1/17, Januar 2017, Seite 39 - 41
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Zeltinger Str. 9, 50969 Köln
Telefon: 0221/511 002, Fax: 0221/529 903
E-Mail: dgsp@netcologne.de
Internet: www.dgsp-ev.de
 
Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Februar 2017

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang