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SUCHT/719: Riskanter Dreiklang in der Mediensucht bei Kindern und Jugendlichen (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 4, April 2023

Riskanter Dreiklang in der Mediensucht

von PM/RED


MEDIENSUCHT. Eine von der DAK-Gesundheit veröffentlichte Längsschnittuntersuchung des UKE Hamburg zeigt, wie stark sich die Pandemie auf die Mediennutzung ausgewirkt hat.


In der Pandemie hat sich die Mediensucht bei Kindern und Jugendlichen verdoppelt. Inzwischen sind mehr als 6 % der Minderjährigen abhängig von Computerspielen und sozialen Medien. Damit zeigen über 600.000 Jungen und Mädchen in Deutschland ein pathologisches Nutzungsverhalten. Auch die Mediennutzungszeiten sind seit 2019 um ein Drittel gestiegen. Dies zeigt eine aktuelle gemeinsame Längsschnittstudie der DAK-Gesundheit und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE).

Erstmals wurde das Suchtpotenzial beim Streaming und körperliche Probleme untersucht. DAK-Vorstandschef Andreas Storm und Mediziner sprachen von einer alarmierenden Entwicklung und forderten mehr Prävention und Hilfsangebote für die Betroffenen. Ähnlich hatten Storm und Experten bereits auf der Jahrestagung der DAK-Gesundheit in Schleswig-Holstein im vergangenen Jahr in Kiel argumentiert.

Nach der aktuellen Studie stieg die Zahl abhängiger Kinder und Jugendlicher bei Computerspielen von 2,7 % im Jahr 2019 auf 6,3 % im Juni 2022. Hochgerechnet haben damit rund 330.000 Jungen und Mädchen nach den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine krankhafte Gaming-Nutzung mit schweren sozialen Folgen. Die aktuellen Ergebnisse der Längsschnittstudie zeigen: Rund 2,2 Millionen Kinder und Jugendliche nutzen Gaming, Social Media oder Streaming problematisch, das heißt sie sind von einer Sucht gefährdet oder bereits betroffen. Im Bereich Social Media verdoppelte sich die Mediensucht von 3,2 auf 6,7 % mit rund 350.000 Betroffenen. Laut Studie zeigen rund 1,8 Millionen Kinder und Jugendliche eine problematische Nutzung bei Computerspielen und/oder sozialen Medien.

"Die aktuellen Zahlen und die Entwicklung in der Pandemie sind alarmierend. Wenn jetzt nicht schnell gehandelt wird, rutschen immer mehr Kinder und Jugendliche in die Mediensucht und der negative Trend kann nicht mehr gestoppt werden. So würden Familien zerstört und die Zukunft vieler junger Menschen bedroht", sagte Storm zu den Ergebnissen. Als Reaktion müssten Prävention und Hilfsangebote ausgebaut werden und neue Akzente in der Bildungs- und Familienpolitik gesetzt werden. "Es ist eine neue Entwicklungsaufgabe von Politik und Gesellschaft, dass Kinder und Jugendliche lernen, die Risiken der Nutzung digitaler Medien einschätzen zu können und ihr Nutzungsverhalten zu reflektieren, damit sie die Möglichkeiten der digitalen Welt langfristig für ihr privates und berufliches Leben konstruktiv nutzen können." Ein richtiger Ansatz sei der Einsatz von Mental Health Coaches in Schulen, wie er von Bundesfamilienministerin Lisa Paus geplant sei.


Grafik: DAK

Grafik: DAK
Diese und weitere Grafiken des Artikels, die nicht im Schattenblick publiziert wurden, stammen aus der DAK-Broschüre "Mediensucht in Zeiten der Pandemie. DAK-Längsschnittstudie: Wie nutzen Kinder und Jugendliche Gaming, Social Media und Streaming?"
https://www.dak.de/dak/download/report-2612370.pdf


Täglich zwei Stunden Gaming

Laut Studie sind Nutzungszeiten von Computerspielen und Social Media weiter angestiegen. Nach einer starken Zunahme im ersten Corona-Lockdown im April 2020 gab es zunächst einen Rückgang. Diese positive Entwicklung setzte sich jedoch nicht fort: Im Juni 2022 lagen die Nutzungszeiten beim Gaming mit 115 Minuten an Werktagen knapp 34 % höher als im September 2019 vor der Pandemie. Einen ebenso deutlichen Anstieg gab es im gleichen Zeitraum bei den sozialen Medien mit 35,5 % von 121 Minuten auf 164 Minuten täglich.

Erstmals untersuchte die Studie auch die körperlichen Auswirkungen exzessiver Mediennutzung. Das Ergebnis: Ein Drittel der Befragten klagt nach mehrstündiger Nutzung von digitalen Geräten über Nackenschmerzen (32,1 %). 23,4 % haben trockene oder juckende Augen, 16,9 % gaben an, Schmerzen im Unterarm oder der Hand zu haben.

Seit November 2020 untersucht die Studie auch das Streaming-Verhalten von Kindern und Jugendlichen. Hier zeigte sich ein Rückgang im Vergleich zum vorherigen Messzeitpunkt: Im Juni 2022 streamten die Befragten an einem durchschnittlichen Werktag 107 Minuten Videos und Serien. Die Zahlen liegen damit auf einem ähnlichen Niveau wie 2020 (104 Minuten) und deutlich niedriger als 2021 (170 Minuten). Insgesamt nutzten rund 733.000 Kinder und Jugendliche Streaming riskant, 2,4 % zeigen ein pathologisches Nutzungsverhalten. Das entspricht rund 126.000 Betroffenen.

Das Ausmaß der Gesamtproblematik wird insbesondere bei der Betrachtung der Schnittmengen deutlich: 5,1 % aller Befragten zeigen eine problematische Nutzung von Gaming und Social Media, was rund 270.000 Betroffenen entspricht. 1,1 % nutzt darüber hinaus auch Streaming-Angebote problematisch - 58.000 Kinder und Jugendliche wären damit von diesem riskanten Dreiklang betroffen.


Medien dienen auch der Kontaktpflege

"Die Ergebnisse unserer Studie machen erneut deutlich, dass die andauernde Covid-19-Pandemie unseren Umgang mit digitalen Medien nachhaltig verändert hat und dass insbesondere Kinder und Jugendliche unter den Einschränkungen litten", sagte Prof. Rainer Thomasius, Ärztlicher Leiter am Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) im UKE. "Trotz zunehmender Lockerungen der Corona-Verordnungen bleiben digitale Medien weiterhin ein wichtiger Bestandteil in der Aufrechterhaltung von Kontakten, der Bekämpfung von Langeweile oder der Beschaffung von Informationen. Sie können bei manchen aber auch dazu dienen, Gefühle von Einsamkeit, sozialer Isolation und Kontrollverlust, aber auch Stress und andere negative Gefühle zu kompensieren. Diese Nutzerinnen und Nutzer sind besonders gefährdet, eine Sucht zu entwickeln." Nach Einschätzung von Thomasius führt eine exzessive Mediennutzung oft zu Kontrollverlust mit weitreichenden Folgen. "Da persönliche, familiäre und schulische Ziele in den Hintergrund treten, werden alterstypische Entwicklungsaufgaben nicht angemessen gelöst", erklärte er. Folge sei ein Stillstand in der psychosozialen Reifung.

Insgesamt sind Jungen häufiger suchtgefährdet oder bereits von einer Sucht betroffen als Mädchen - insbesondere beim Gaming. So zeigen 18,1 % der Kinder und Jugendlichen eine problematische Nutzung digitaler Spiele. Davon sind 68,4 % Jungen. Bei den sozialen Medien, die 23,1 % aller Befragten problematisch nutzen, ist die Verteilung mit 52,1 % (Jungen) bzw. 47,9 % (Mädchen) hingegen etwas ausgewogener. Im Hinblick auf die Altersstruktur zeigt sich, dass besonders ältere Jugendliche deutlich häufiger eine Abhängigkeit von digitalen Medien zeigen.


Prävention und Früherkennung

"Auch nach der Corona-Pandemie ist eine riskante Mediennutzung bei vielen Kindern und Jugendlichen Alltag", sagte Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte zu den Ergebnissen. Er forderte eine Stärkung der Prävention besonders in den Schulen sowie Früherkennung etwa durch ein Mediensuchtscreening in der Kinder- und Jugendarztpraxis.

Die Längsschnittstudie zur Mediennutzung untersucht die Häufigkeiten pathologischer und riskanter Nutzung von Spielen, sozialen Medien und Streamingdiensten bei Kindern und Jugendlichen, basierend auf den neuen ICD-11-Kriterien der WHO. Bundesweit wurden rund 1.200 Familien nach ihrem Medienverhalten befragt. Für die Befragungen durch das Meinungsforschungsinstitut Forsa wird eine repräsentative Gruppe von Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen zehn und 17 Jahren mit je einem Elternteil zu ihrem Umgang mit digitalen Medien an bisher fünf Messzeitpunkten befragt. Nach den Befragungen im September 2019, im April 2020, im November 2020 und im Mai 2021 spiegeln die aktuellen Erkenntnisse die Ergebnisse der jüngsten Befragung im Juni 2022 wider. Die Studie, die Zusammenhänge zwischen Nutzungsmustern, Nutzungsmotiven und familiären Nutzungsregeln über den Verlauf der Pandemie hinweg untersucht, ist weltweit einmalig.

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 4, April 2023
76. Jahrgang, Seite 24-25
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-0, Fax: 04551/803-101
E-Mail: info@aeksh.de
Internet: www.aeksh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 16. Mai 2023

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