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ARTIKEL/463: Fit und stark in der Grundschule - und seltener zum Arzt (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 2/2010

Forschungsprojekt soll neue Erkenntnisse bringen
Fit und stark in der Grundschule und seltener zum Arzt

Von Judith Eick


Schmerzprävention im Grundschulalter - macht das Sinn? Ein Projekt setzt auf frühzeitige Prävention. Die Zwischenergebnisse lassen hoffen.


Aus wiederkehrenden akuten Schmerzen können chronische Schmerzen werden, aus kranken Kindern können chronisch kranke Erwachsene werden. "Fit und stark plus", ein Projekt zur Gesundheitsförderung und Schmerzprävention aus Schleswig-Holstein, setzt auf Vorbeugung ab dem ersten Grundschuljahr.

Was chronisch Kranke für unser Gesundheitswesen bedeuten, lässt sich am eindrücklichsten in Zahlen sagen: Chronische Schmerzen verursachen jährlich Kosten von etwa 25 Milliarden Euro, das macht laut der AOK Schleswig-Holstein etwa 17 Prozent der Gesamtkosten in der Gesetzlichen Krankenversicherung aus. Diese enorme Summe wird nicht etwa nur durch teure Therapien und Medikamente verursacht, sondern wesentlich über die zahlreichen Krankschreibungen und Frühberentungen. Ein gesellschaftliches Problem also, das zudem ein hohes Maß an individuellem Leid und Verlust von Lebensqualität in sich trägt. Wann Prozesse anhaltender und wiederkehrender Schmerzen und Schmerzchronifizierung beginnen und welche Schlussfolgerungen sich daraus für die Präventionsarbeit ergeben, ist eine der entscheidenden Fragen, um dieses Problems Herr zu werden. Die Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS, Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Berlin 2007) bestätigen sowohl auf Bundesebene als auch im Speziellen für Schleswig-Holstein, dass Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen ein ernst zu nehmendes Problem darstellen. Dipl.-Psych. PD Dr. Angela Roth-Isigkeit aus der Lübecker Klinik für Anästhesiologie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein ist Expertin in Sachen Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen. In einer von ihr durchgeführten Untersuchung gaben 44,2 Prozent der Schüler allgemeinbildender Schulen in Lübeck anhaltende und/oder wiederkehrende Schmerzen an. Kopfschmerzen wurden mit 38,4 Prozent am häufigsten genannt.

Roth-Isigkeit hat die wissenschaftliche Leitung des auf fünf Jahre angelegten Forschungsprojekts "Fit und stark plus", das von der AOK Schleswig-Holstein, der privaten Possehl-Stiftung Lübeck und über Spenden finanziert wird. "Die gegenwärtig vorliegenden Untersuchungen geben Hinweise darauf, dass Zusammenhänge zwischen anhaltenden und/oder wiederkehrenden Schmerzen im Kindesalter und emotionalen Faktoren sowie dem Lebensstil bestehen", so Roth-Isigkeit. Im Gegensatz zu vielen anderen Präventionsprogrammen vereint das vom Lübecker Institut für angewandte Prävention und Gesundheitsforschung (IFA GmbH) entwickelte Programm aus diesem Grund soziopsychische und physische Lernelemente.

Im Mittelpunkt des auf körperliche, psychische und soziale Gesundheit ausgerichteten Präventionsprogramms "Fit und stark plus" für Grundschulkinder stehen neben der Erfahrung von freudvollem Zusammenhalt und Gemeinschaft auch Freude an Bewegung, Entspannung und gesunder Ernährung. Das ganzheitliche Präventionskonzept umfasst die Vermittlung von Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten in den Bereichen emotionale und soziale Kompetenz, körperliche Faktoren und gesundheitsbezogenes Handlungswissen sowie gesundheitsfördernder Lebensstil. Faktoren, die bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Schmerzbeschwerden eine Rolle spielen, sind integriert.

Langfristig sollen ein stärkeres Selbstwertgefühl, Verantwortungsbewusstsein gegenüber der eigenen Gesundheit und ein ausgebildetes Konfliktlösungspotenzial ein weitgehend schmerzfreies Leben unterstützen. Zentrale Fragen zur Konfliktlösung, die sich die Grundschulkinder regelmäßig stellen lernen, sind beispielsweise: "Was hat mich heute traurig gemacht?" und "Habe ich heute jemanden traurig gemacht?"

Eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg des Präventionsprogramms ist, dass es im Rahmen des regulären Unterrichts stattfindet, ohne diesen zu belasten. Die Unterrichtseinheiten begleiten die Kinder von der ersten bis zur vierten Grundschulklasse. Sie werden von den Lehrkräften vor Ort mit erprobten und ausgearbeiteten Unterrichtseinheiten durchgeführt, die lehrplankompatibel sind und keinen zusätzlichen Stundenaufwand bedeuten. Die Methodik setzt auf spielerisches und erfahrungsorientiertes Lernen. Im Verlauf der Grundschulzeit werden die Kinder spielerisch mit den Reaktionen ihres Körpers sowie mit Kommunikation und Problemlösungen im Alltag vertraut gemacht. Weitere wesentliche Bestandteile sind Bewegung und Entspannung, gesundes Essen, ein gesunder Tagesrhythmus und Schlaf. Über Elternzeitschriften und Informationsabende werden die Familien der Kinder eingebunden. Ziel ist es, dass Mütter und Väter die von den Kindern im Unterricht erworbenen Fähigkeiten zu Hause stärken und durch gemeinsame Aktivitäten wie Sport und Spiele, Zubereitung von Mahlzeiten und Konfliktbewältigung innerhalb der Familie fördern.

Bei den rund 400 Kindern an insgesamt 14 Grundschulen in Schleswig-Holstein, für die erste Ergebnisse des Forschungsprojekts vorliegen, fallen diese Samen auf fruchtbaren Boden. Die Ende 2009 vorgestellten Zwischenergebnisse bestätigten: Die teilnehmenden Kinder haben weniger Schmerzen, gehen weniger zum Arzt, nehmen weniger Schmerzmittel ein und fühlen sich insgesamt gesünder (das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt berichtete, 11/2009).

Die Organisation der praktischen Umsetzung und Implementierung des Programms in den Schulalltag, wie Lehrkraft-Schulungen und Entwicklung und Verteilung des Schulungsmaterials, liegt bei der IFA. Die vorliegenden Zwischenergebnisse zeigen, dass das Programm nicht nur in der Schmerzprävention, sondern auch in Bereichen wie Klassenklima, Mobbing und Gewaltprävention zu wissenschaftlich nachweisbaren positiven Wirkungen für die Kinder führt. "Um die Nachhaltigkeit dieser Wirkungen langfristig sicherzustellen, sollte 'Fit und stark plus' weiterführend auch für ältere Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene entwickelt und auf seine Wirkung überprüft werden", forderte Prof. Dr. Peter Dominiak, Präsident der Universität zu Lübeck, auf einer Pressekonferenz im vergangenen Herbst. Auf politischer Ebene wurde das Projekt bereits wohlwollend zur Kenntnis genommen.

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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 2/2010 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2010/201002/h10024a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Februar 2010
63. Jahrgang, Seite 12 - 13
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. April 2010

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