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INITIATIVE/058: Ärzte gegen den Krieg - Ein Blick in die Geschichte, Teil 2 (IPPNWforum)


IPPNWforum | 122 | 10
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Ärzte gegen den Krieg
- Ein Blick in die Geschichte - (Teil 2)

Von Christian Jenssen


"Wir Menschen aber haben im Gegensatz zu allen anderen Wesen in unserer freiwollenden Vernunft ein Mittel, den Gang des Weltgeschehens zu beeinflussen. .... Um dies aber tun zu können, müssen wir nicht nur reden, sondern auch handeln."


Um 1900 kam es weltweit zu einem Aufschwung der Friedensbewegung, die sich international beispielsweise mit dem Internationalen Friedensbüro in Bern (1892) und der Interparlamentarischen Union (1889) stärker zu organisieren begann. 1901 wurde auf dem X. Internationalen Friedenskongress ein gemeinsames Programm des Pazifismus verabschiedet. Die sich auf ethische, religiöse und pädagogische Argumente gründende traditionelle Ideologie der "Friedensfreunde" des 19. Jahrhunderts erhielt eine theoretische Basis.

Beispiele für den neuen "wissenschaftlichen Pazifismus" sind das sechsbändige Werk "Der Krieg" von Johann von Bloch (1898), die Kritik sozialdarwinistischer Kriegslegitimation des Soziologen Jakob Novikov oder das "Handbuch der Friedensbewegung" des Publizisten Alfred Hermann Fried (1911/1913). Diese Analysen formulierten schon früh die Erkenntnis, dass es in zukünftigen Kriegen keine Sieger, sondern nur Besiegte geben werde.

Überraschenderweise wurden die zahlreichen Bemühungen der "Humanisierung des Krieges" nur von kritischen Stimmen außerhalb der Ärzteschaft in Frage gestellt. Fried kommentierte einen Kongress des Roten Kreuzes in Wien mit den Worten: "Den Krieg in seinen Folgen zu mildern, heißt ihn ermöglichen und seinen Ausbruch erleichtern". Und der österreichische Jurist Moritz Adler schlüpfte mangels realer Stimmen aus der Ärzteschaft fiktiv in die Rolle eines Arztes, um den Bemühungen Theodor von Billroths und anderer "Anticipationssamaritaner" zur Reorganisation des deutschen Militärsanitätsdienstes 1892 entgegenzutreten. Er forderte: Statt einen Beitrag zu einem medizinischen Rüstungswettlauf zu leisten, sollten Ärzte eine aus der prophylaktischen Verpflichtung des Arztberufes gespeiste Antikriegsmanifestation organisieren.


Ärzte in der pazifistischen Bewegung um 1900

Wenige bekannte Ärzte engagierten sich im organisierten Pazifismus. Genannt seien hier nur Nils August Nilsson (Schweden), Sir William Collins und Henry Hodgkin (beide Großbritannien), Fritz Brupbacher (Schweiz), Josef Polak (Polen), Pieter Hendrik Eijkman (Niederlande) und der Schweizer Auguste Forel, der 1914 vehement die Idee der "Vereinigten Staaten der Erde" vertrat.

In Frankreich wurde der Physiologe und Nobelpreisträger für Physiologie und Medizin (1913) Charles Richet als Präsident der Societé Francaise pour l'Arbitrage entre Nations (1888), als Herausgeber der Zeitschrift "La paix par le droit" und mit seinen Büchern "Les guerres et la paix" (1899) und "Le passé de la guerre et l'avenir de la paix" (1907) zu einer der bekanntesten Figuren des internationalen Pazifismus.


Association Médicale Internationale contre la Guerre

Im März 1905, auf dem Höhepunkt des russisch-japanischen Krieges, forderte der Pariser Radiologe Joseph Alexandre Rivière seine ärztlichen Kollegen auf, an einem internationalen Kongress teilzunehmen, auf dem sie im Namen ihrer humanitären Aufgabe gegen bewaffnete Konflikte protestieren und die Idee einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit unterstützten sollten. Ein halbes Jahr später, am 21. September 1905, gründete Rivière zusammen mit 23 Kollegen die Association Médicale Internationale contre la Guerre. Ihre Grundprinzipien waren die Abschaffung des Krieges und die Achtung vor dem menschlichen Leben.

Rivière gründete sein pazifistisches Konzept auf die Theorie, dass das "philosophische Prinzip" der Unterordnung der Elemente des menschlichen Organismus unter die Hierarchie des Nervensystems auch im sozialen und politischen Leben wiederzuerkennen sei. So wie das zentrale Nervensystem den menschlichen Organismus steuere, müsse eine internationale Zentralautorität die internationalen Angelegenheiten regeln. Weltparlament, internationale Gerichtsbarkeit und internationale Polizei wurden als zentrale Elemente der Reorganisation der internationalen Beziehungen vorgeschlagen. Weitere programmatische Forderungen waren z.B. die Abschaffung bestimmter Waffensysteme, eine internationale Kontrolle der Waffenproduktion sowie die Friedenserziehung.

1910 hatte die Gesellschaft über 1089 Mitglieder in Europa, den Amerikas und Kanada. Diese erste internationalen Ärztegesellschaft gegen den Krieg versäumte es jedoch, einen spezifischen professionellen Beitrag zu den theoretischen Konzepten des Pazifismus zu leisten oder die Rolle der Ärzte in Krieg und Kriegsvorbereitung zu thematisieren und zerfiel bei Ausbruch des I. Weltkriegs.


Georg Friedrich Nicolai: die "Biologie des Krieges"

Dem Dozenten für Physiologie und Innere Medizin an der Berliner Charité Georg Friedrich Nicolai erschien der Weltkrieg als Anachronismus. Während sich die deutsche Intelligenz in ihrer übergroßen Mehrheit im chauvinistischen "Aufruf an die Kulturwelt" an die Seite der deutschen Regierung stellte, forderte Nicolai zusammen mit Albert Einstein und Friedrich Wilhelm Förster in einem "Appell an die Europäer" eine Allianz der europäischen Wissenschaftler für die Beendigung des Krieges und die Begründung eines friedlichen Europa.

Als freiwilliger Zivilarzt im deutschen Sanitätsdienst geriet er in Folge dieses Appells und eines Kollegs "Der Krieg als biologischer Faktor in der Geschichte der Menschheit" in schwerwiegende Konflikte mit seinen militärischen Vorgesetzten und der Berliner Universität, die mit der Aberkennung der Lehrbefugnis, der Degradierung zum Militärkrankenwärter und schließlich 1918 mit einer spektakulären Flucht in einer Militärmaschine nach Kopenhagen endete.

Von Skandinavien aus versuchte Nicolai in engem Kontakt u.a. mit Rolland, Fried, Nansen, Gorki und Wells eine europäische Friedensvereinigung freier Geister zu gründen und gab die Zeitschrift "Das werdende Europa" heraus. Bereits 1917 war sein monumentales Werk "Die Biologie des Krieges" erschienen, das später zum Standardwerk des bürgerlichen Pazifismus wurde.

Es ist der Versuch einer umfassenden Analyse der biologischen Auswirkungen des Krieges, seiner Wurzeln und der Wege zu seiner Überwindung auf naturwissenschaftlicher Grundlage. Die Ansätze Frieds, Blochs und Novikovs aufgreifend, wollte Nicolai dem Pazifismus eine solidere Basis geben, "die nicht wie die bisher rein moralisch-religiöse Begründung beim ersten Sturmzeichen des nahenden Weltkrieges widerstandslos zusammenbricht". Seine Vorstellungen von der Überwindung des Krieges gründeten sich auf die Konzeption der Menschheit als einem einheitlichen Organismus und das evolutionäre Interesse des "genus humanum".

Trotz Nicolais Befangenheit in biologistischen Denkmustern war sein Versuch der wissenschaftlichen Untermauerung pazifistischer Ideale zukunftsträchtig und lebt in der modernen Friedensforschung weiter. Zeitlos ist auch seine gelebte Überzeugung: "Wir Menschen aber haben im Gegensatz zu allen anderen Wesen in unserer freiwollenden Vernunft ein Mittel, den Gang des Weltgeschehens zu beeinflussen. .... Um dies aber tun zu können, müssen wir nicht nur reden, sondern auch handeln."


Christian Jenssen ist Chefarzt am Krankenhaus Märkisch Oderland
c.jenssen@khmol.de



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Quelle:
IPPNWforum | 122 | 10, Juni 2010, S. 30 - 31
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Dezember 2010