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POLITIK/103: Flüchtlinge - Stau durch fehlende Ärzte (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 9/2015

Flüchtlinge
Stau durch fehlende Ärzte

Von Dirk Schnack


Die medizinischen Erstuntersuchungen sind ein Nadelöhr für die Bearbeitung des Asylantrags. Im August kam es zum Engpass.


Der Flüchtlingsstrom nach Deutschland reißt nicht ab. Spätestens als die Bundesregierung im August ihre Prognose für die 2015 erwarteten Zahlen auf 800.000 erhöhte, stand fest, dass die bis dahin zur Verfügung gestellten Ressourcen in Ländern und Kommunen nicht ausreichen werden. Dies galt auch für Schleswig-Holstein, wo etwa die zentrale Erstaufnahmeeinrichtung in Neumünster längst aus allen Nähten platzte. Die Einrichtung ist eigentlich für 700 Menschen ausgelegt, in Spitzenzeiten lebten hier 2.000. Jeder von ihnen muss eine ärztliche Eingangsuntersuchung durchlaufen, damit der Asylantrag weiter bearbeitet werden kann. Außerdem benötigen die Flüchtlinge auch anschließend ärztliche Begleitung. In Neumünster ist für beides ein Team des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) zuständig, das unter Leitung von Dr. Hilmar Keppler aus insgesamt sechs Ärzten, darunter drei Honorarärzte, besteht.

Weil der Andrang von ihnen allein nicht mehr zu bewältigen war und die Kapazitäten in Neumünster auch für die Massen insgesamt nicht ausreichen, suchte die Landesregierung mehrere Wochen lang nach weiteren Standorten, an denen ebenfalls überall ärztliche Betreuung gewährleistet sein muss. Bis Ende August wurden fast über Nacht zusätzliche Gemeinschaftsunterkünfte in Albersdorf und Rendsburg eingerichtet. Außerdem gibt es schon oder entstehen gerade Unterkünfte in Kiel, Boostedt, Seth und Eggebek. Dies sind nur die Unterkünfte des Landes, von denen die Flüchtlinge später auf die Kreise und Kommunen verteilt werden. Die Städte und Gemeinden haben ebenfalls Probleme, ausreichend Platz zu finden. Deshalb sind in einigen Kreisen wie etwa Plön wieder kreiseigene Gemeinschaftsunterkünfte entstanden, die als Puffer zwischen den Landeseinrichtungen und der Unterbringung vor Ort dienen. Die ärztliche Betreuung der Flüchtlinge ist nicht nur für Keppler und sein Team in Neumünster eine enorme Herausforderung. Um den entstandenen Stau in Neumünster beheben zu können, wurden am 20. August die Unterkünfte in Rendsburg und Albersdorf in Betrieb genommen. Erst wenige Tage zuvor hatte das Land beim Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) dafür um Unterstützung gebeten. Innerhalb weniger Tage hatte sich ein Team aus 60 Helfern, bestehend aus Ärzten und Pflegekräften, gemeldet und begann unter der Leitung von Dr. Jan-Thorsten Gräsner mit der Arbeit. Unterstützt wurden sie von Kollegen aus dem Rendsburger Imland-Krankenhaus. Die ärztliche Direktorin Petra Struve nannte es eine "moralische Pflicht", vor Ort zu helfen, teils mit freiwilligen Helfern, teils mit von den Arbeitgebern abgestellten Kräften. "Das müssen die Kollegen in der Klinik kompensieren", verwies Struve auf die damit zunehmende Belastung für alle Mitarbeiter. Für ihre Kollegin Dr. Amina Magheli ist die Hilfe ebenfalls selbstverständlich. Sie sagte dem Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatt: "Man erreicht schon mit wenig viel Dankbarkeit von den betroffenen Menschen."

Staatssekretär Ralph Müller-Beck, für das verantwortliche Innenministerium zur Eröffnung in Rendsburg vor Ort, hoffte durch die Unterstützung auf einen "Befreiungsschlag", der den Stau in Neumünster auflösen könnte. Zugleich hofft er auf weitere Solidarität und Unterstützung durch die Ärzte. Jeder Hausarzt, der in den Einrichtungen Sprechstunden abhalten will, sei willkommen und würde zur Entlastung beitragen, betonte Müller-Beck.

Die Auswirkungen des Flüchtlingsstroms spüren auch die Krankenhäuser in der Nähe der Gemeinschaftsunterkünfte. Sie sind betroffen, weil in den Unterkünften nach den Sprechzeiten keine ärztliche Betreuung vor Ort ist. Mit gesundheitlichen Problemen gehen die Flüchtlinge abends in die Kliniken. Wegen der vielen Flüchtlinge in Neumünster ist das Friedrich-Ebert-Krankenhaus besonders betroffen. FEK und das Land reagierten Ende August kurzfristig mit der Gründung einer neuen medizinischen Einheit. Keppler hielte in der Erstaufnahme eine durchgängig organisierte Betreuung für sinnvoll. Neben der Masse der zusätzlichen Patienten ist auch die Verständigung ein Problem. Obwohl Menschen aus vielen Ländern in den Kliniken arbeiten, kann nicht immer ermittelt werden, welche Sprache ein Patient versteht und welchen Dolmetscher man für ihn einschalten kann.

Ohne Dienstleister wie die Notarztbörse des schleswig-holsteinischen Arztes Dr. André Kröncke wäre die aktuelle Situation kaum zu bewältigen. Die Notarztbörse stellt die ärztliche Betreuung an den Standorten in Kiel, Eggebek und Boostedt bis zum Jahr 2020, springt aber auch bei kurzfristig eingerichteten Interimslösungen mit ärztlichem Personal ein. Zum Beispiel in Kiebitzhörn, in Seth oder in Neumünster, als in den Sommerferien ein Teil der ankommenden Flüchtlinge in einer Schulsporthalle untergebracht werden musste - eigentlich nur für ein Wochenende, dann für eine Woche, schließlich für vier Wochen. Anschließend kam ein weiteres Containerdorf in Neumünster in unmittelbarer Nachbarschaft zur Erstaufnahmeeinrichtung hinzu. Kröncke hat den Vorteil, dass er über langjährige Kontakte zu Ärzten verfügt, die auf Honorarbasis arbeiten. Zum Redaktionsschluss war er mit zwölf Ärzten an den Standorten im Einsatz, eine Aufstockung war aber schon absehbar. Bei einer weiteren Nachfragesteigerung wird auch er intensiv nach zusätzlichen ärztlichen Kräften suchen müssen. Und neben den ärztlichen Untersuchungen, gibt Kröncke zu bedenken, fallt auch viel Begleitarbeit an - schließlich muss jeder Befund nachvollziehbar dokumentiert und verwaltet werden. Die aktuelle Situation hält der erfahrene Notfallmediziner zwar für beherrschbar, aber für außergewöhnlich. Seine Beschreibung der derzeitigen Herausforderungen: "Wir befinden uns mitten in einer großen Lage."


Info

Jeder Flüchtling muss sich einer medizinischen Erstuntersuchung unterziehen. Diese umfasst die allgemeine, orientierende körperliche Untersuchung (auch auf Läuse und Krätzemilben), eine Röntgen-Untersuchung auf behandlungsbedürftige Tuberkulose der Atmungsorgane (bei Kindern unter 15 Jahren Tuberkulintest), eine Stuhluntersuchung auf pathogene Darmkeime und Parasiten wenn an gezeigt, sowie serologische Untersuchungen auf Masern, auf Varizellen bei Frauen im gebärfähigen Alter und bei Kindern sowie im Einzelfall, wenn angezeigt.

800.000
Flüchtlinge kommen in diesem Jahr laut Prognose der Bundesregierung nach Deutschland - dies war der Stand Ende August.

2.000
von ihnen befanden sich im August in der zentralen Erstaufnahmeeinrichtung für Schleswig-Holstein in Neumünster.

200
wurden am 20. August in der neu errichteten Gemeinschaftsunterkunft in Rendsburg untergebracht. Das Containerdorf soll auf 800 Plätze aufgestockt werden.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Dr. Hilmar Keppler leitet die medizinische Einrichtung in der zentralen Erstaufnahmeeinrichtung des Landes in Neumünster. Keppler war niedergelassener Arzt und arbeitet seit 2013 in der Einrichtung des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in Neumünster. Bevor sich Keppler der Medizin widmete, war er zehn Jahre lang als Lastwagenfahrer in vielen Ländern auf der Erde unterwegs. In dieser Zeit hat er auch viele der Städte aus den heutigen Krisenregionen kennengelernt und von den Menschen im Nahen Osten viel Gastfreundschaft erfahren; schon deshalb ist es für ihn eine Selbstverständlichkeit den Menschen, die jetzt nach Deutschland flüchten, mit viel Empathie zu begegnen. In Neumünster arbeitet Keppler mit einem Team von sechs Ärzten - zu wenig, um die Erstuntersuchungen in der überbelegten Einrichtung zügig vornehmen zu können. Kritik hört man von Keppler dennoch nicht, seine Arbeitsbedingungen bezeichnet er als befriedigend. Aber es sei schwierig, weitere Ärzte für die Tätigkeit zu finden.

- Das Wartezimmer in der zentralen Erstaufnahmeeinrichtung in Neumünster war in den vergangenen Wochen stets gefüllt. Viele Patienten leiden gesundheitlich unter den Folgen der Auseinandersetzungen, die sie aus ihrer Heimat vertrieben haben. Um Neumünster zu entlasten, untersuchen seit 20. August in Rendsburg Ärzte des UKSH und der Imland Klinik Flüchtlinge. Hier unterhalten sich die Ärzte Dr. Alexander Humberg (Lübeck) und Dr. Florian Reifferscheid (Kiel) mithilfe eines Dolmetschers mit Mustafa Kazim aus dem Irak.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 9/2015 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2015/201509/h15094a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
68. Jahrgang, September 2015, Seite 18 - 19
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Oktober 2015

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