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HINTERGRUND/162: Rap im Ruhrpott (mundo/TU Dortmund)


mundo - Das Magazin der Technischen Universität Dortmund Nr. 12/10

Rap im Ruhrpott
HipHop als einstige Jugendkultur der Underdogs ist gesellschaftlich längst verankert und wirtschaftlich bedeutsam

Von Katrin Pinetzki


HipHopper? Sind das nicht diese Jugendlichen, deren viel zu weite Hosen jeden Moment über die Hüfte zu rutschen drohen? Böse schauende Rapper mit Baseballkappen, die in ihren aggressiven Texten Frauen als Schlampen bezeichnen? So lauten die Klischees über ein Kulturphänomen, das noch nicht ganz angekommen ist in Wissenschaft und Forschung. Während bereits die zweite Jugend-Generation mit Hip-Hop aufwächst, erobert das Thema nur zögerlich die Universitäten. An der TU Dortmund hat sich Sina Nitzsche, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Prof. Walter Grünzweig, des Themas angenommen. Die von ihr organisierte Konferenz HipHop im Revier beleuchtet das Phänomen interdisziplinär.

New York in den 1970er Jahren. Quer durch die Bronx - bisher ein sozial durchmischtes, gut funktionierendes Viertel - wird eine Schnellstraße gebaut. Wer es sich leisten kann, sucht das Weite. Doch viele, vor allem Afroamerikaner und Puertoricaner, bleiben zurück - und entwickeln einen trotzigen Stolz auf ihre Gegend. Jugendliche markieren U-Bahnen mit Sprüh-Zeichen und feiern Partys in Parks, Clubs und Turnhallen. Sie suchen eine Ausdrucksform für ihre Unzufriedenheit und Diskriminierung, ihre Energie - und erfinden HipHop. Das Ruhrgebiet in den 1980er Jahren. Das Wort 'Strukturwandel' ist bereits in aller Munde, doch so richtig spürbar ist er für die Jugend nicht. Immer noch schließen Zechen und Stahlwerke, verschwinden mehr und mehr Arbeitsplätze. 'Ruhrpott' steht für den Niedergang der Großindustrie, für Vergangenheit. Wer trotzdem bleibt, entwickelt einen trotzigen Stolz auf den 'Pott'. Jugendliche eignen sich den deindustrialisierten Raum an, markieren ihn mit Graffiti. Dortmund entwickelt sich zur deutschen Sprayer-Hochburg. Ausgelöst von Kino- und Fernsehfilmen schwappt eine Welle aus den USA nach Deutschland: die HipHop-Kultur. Im Ruhrgebiet trifft sie auf eine Jugend, die begeistert auf ihr surft.

Inzwischen ist das Phänomen HipHop 35 Jahre alt. Nur eine von vielen Jugendmoden, die bald wieder verschwinden wird? Die Amerikanistin Sina Nitzsche glaubt das nicht. Dafür ist HipHop als Jugendkultur zu verankert und vielfältig, wirtschaftlich inzwischen zu bedeutsam geworden. Das zeigte auch die internationale Konferenz HipHop im Revier: Identitäten - Ökonomien - Politiken Anfang Juli. In Vorträgen und Workshops ging es um die kulturelle und ökonomische Bedeutung des HipHop im Ruhrgebiet. »Natürlich gibt es im Universitätsbetrieb mitunter noch die Vorstellung, dass HipHop keine Kultur sei, die sich zu erforschen lohne«, sagt Sina Nitzsche. In Dortmund musste Nitzsche keine große Überzeugungsarbeit leisten. Als sie die internationale Konferenz als Beitrag der TU zur RUHR.2010-Kulturhauptstadt vorschlug, war die Begeisterung gleich groß. Studierende engagierten sich über die Maßen bei der Vorbereitung, Medien baten um Interviews, die Heinrich-Böll-Stiftung bot Unterstützung an. Denn obwohl das Phänomen HipHop schon drei Jahrzehnte existiert - als Thema in der Forschung ist es recht neu, und das Wissen um HipHop und seine Elemente gehören noch lange nicht zur Allgemeinbildung. Was ist das denn nun eigentlich - HipHop?


HipHop besteht aus vier Elementen

In der Beantwortung dieser Frage hat die Amerikanistin Nitzsche inzwischen Routine. »HipHop ist ein Kulturphänomen, das grundsätzlich aus vier Elementen besteht: Graffiti, Breakdance, MCing - also Reimen - und DJing, also der Umgang mit mehreren Plattenspielern wie mit Musikinstrumenten«, erklärt sie. Wer HipHop nur als Mode- oder Musikform begreift, der denkt zu kurz. HipHop ist auch eine politische Bewegung, denn die ersten HipHop-Künstler aus der Bronx waren Afroamerikaner und Latinos, die sich gegen die amerikanische Mehrheitskultur und konkret gegen die Diskriminierung 'von oben' stemmten. Inzwischen ist aus der einstigen Jugendkultur der Underdogs eine Millionen Dollar schwere Industrie geworden und ein Lebensstil, dem Jugendliche und Erwachsene auf der ganzen Welt anhängen, weiße Jugendliche in den amerikanischen Suburbs ebenso wie Einwanderer in den Innenstädten, Jugendliche in der Dortmunder Nordstadt ebenso wie Studenten in Freiburg. Forscherkollegen vertreten die These, dass HipHop eine Popkultur geworden ist, ein Massenphänomen. »Es hat alle Gesellschaftsschichten durchdrungen, es wird mit HipHop sogar Werbung gemacht«, sagt Sina Nitzsche.

Demnach ist HipHop ein äußerst erfolgreicher Exportartikel der USA - was genau macht ihn nun zum Forschungsthema? »HipHop ist ein länderübergreifendes Phänomen«, bestätigt Sina Nitzsche: »Aber: Er ist an einem spezifischen urbanen Ort, der New Yorker Bronx, entstanden. Die Texte und Praktiken waren stark auf die damaligen ökonomischen und sozialen Missstände bezogen. Durch Filme wie Wild Style oder Platten wie The Message verbreitete sich HipHop auf der ganzen Welt - aber die Akteurinnen und Akteure vor Ort eigneten ihn sich in ihren lokalen Kontexten jeweils neu an. So hat sich in jeder Stadt eine eigenständige HipHop-Kultur ausgeprägt, die auf die spezifischen Themen und Probleme des jeweiligen urbanen Kontextes reagiert. »Es ist die Entwicklung eines lokalen Phänomens, das globale Ausmaße annimmt, um dann wieder lokale Ausprägungen auszubilden, die Kulturwissenschaftler interessiert.

»Diese lokalen Besonderheiten des Hip-Hop sind vergleichsweise gut erforscht, z.B. gibt es Studien zu HipHop in Japan, Frankreich und Deutschland«, sagt die Amerikanistin. Ausnahme: Der HipHop im Ruhrgebiet. Eine Forschungslücke, in die sie nur zu gerne stößt, denn hier verbinden sich Strukturwandel und Jugendkultur. Schließlich ist HipHop eine unerschöpfliche Fundgrube für Kulturwissenschaftler. Sina Nitzsche sieht HipHop als »eine postmoderne Praxis, eine hybride und intermediale Kultur, die mit Ironie, Intertextualität und Inszenierung arbeitet«. Und in ihrer Vielfalt noch viele Forschungsfragen erlaubt.

Als Sina Nitzsche im Jahr 2008 von Chemnitz nach Dortmund zog, da kannte auch sie die HipHop-Szene des Ruhrgebiets kaum. »Beim Stichwort 'deutscher HipHop' denkt man an Berlin, Stuttgart, Hamburg, München, Heidelberg«, sagt sie. Der Ruhrpott ist ein blinder Fleck. Dass das weder an fehlenden Akteuren noch am Fehlen einer Szene liegt, das hat sie inzwischen erfahren. Die Graffiti-Szene, die in den 1980er Jahren gar einen eigenen Dortmund Style hervorbrachte, ist nach wie vor aktiv. Jams - HipHop-Konzerte, teils mit Beteiligung von Breakdancern und Sprayern - gibt es regelmäßig in jeder Stadt des Ruhrgebiets. Die Breakdancegruppe Reckless Crew aus Dortmund und Umgebung zählt momentan zu den bekanntesten in Deutschland und tritt international auf. Und über die Alben der Ruhrpott-Rapper heißt es im Sonderheft Zehn Jahre HipHop in Deutschland des Musikmagazins Visions, dass sie zu den meist unterschätzen überhaupt gehören. »Sie sind einfach weniger kommerziell orientiert und dadurch weniger bekannt als die Alben der Akteure in anderen Städten«, urteilt Nitzsche. Die komplette Ruhrgebiets-Rapszene hat den Status eines Underdogs.

Schon mal gehört: Ruhrpott AG? Creutzfeld & Jakob? Too Strong? Diese Gruppen gelten als Dreigestirn des Ruhrgebiets-HipHop. Sie kommen aus Bochum, Witten und Dortmund, und an ihrem Beispiel lässt sich die lokale Aneignung des HipHop bestens verfolgen. Denn man muss nur auf die Texte hören oder die Musikvideos anschauen, um zu wissen, woher sie stammen. Die Rapper benutzen das Ruhrgebiet und seine Industriekultur als Kulisse, und viele ihrer Texte sind hymnische bis kritische Würdigungen ihrer Heimat. Heimatdichtung klingt im Ruhrgebiet eben ein bisschen anders als im Rest Deutschlands - hier der Anfang von Tief im Westen der Ruhrpott AG (RAG), bekannt für ihre eher melancholische, sehr bildhafte Poetik:

Leb' im Ballungsgebiet, das an Druckpunkten wie Fallobst aussieht. Hast Dich sehr verändert, obwohl Du das Denken nicht aufgibst. Schau' Dich an, zeig', was Du nicht vertuschen kannst, selbst der Versuch hängt schief. Trägst zu dick auf, weil Du mittlerweile Schminke liebst. Siehst blendend aus, versprichst viel, aber hältst Du das auch? Benutzt uns als Treibstoff, wir fühlen uns verbraucht.

Ganz anders klingen die ersten Zeilen des Songs Kein schöner Land bei Creutzfeld & Jakob:

Herzlich Willkommen im Revier, wo das Leben noch pulsiert, hier ist das Ruhrgebiet mit VfL, BVB und S04. Mein Herz schlägt hier, ich inhalier den schwarzen rußigen Staub und spür ein Stück Heimat in der Luft liegen. Bochum oder Dortmund - Die Welt ist noch in Ordnung. Dreh die Musik auf und fahr in deinem Opel oder Ford um den Block. Ich hab heute auf nichts anderes Bock.

An diesen Textbeispielen zeigen sich schon die 'Zutaten' des Ruhrpott-Rap: Heimatverbundenheit, Industriekulturästhetik, Fußball. Und doch unterscheiden sich diese Texte nicht nur stilistisch, sondern auch in ihrem Umgang mit dem lokalen Kontext, den sie hervorheben. Während RAG dem Versuch, dem Ruhrgebiet ein neues Image zu geben, kritisch gegenübersteht, zelebrieren Creutzfeld & Jakob Klischees von der fußballverrückten, dreckigen Arbeitergegend. Interessanterweise war es Flipstar von Creutzfeld & Jakob, der im Januar 2010 zur Eröffnung der Kulturhauptstadt RUHR.2010 eingeladen wurde und vor dem Ministerpräsidenten sowie der versammelten Kultur-Elite der Region rappen durfte - mit eben diesem Song, Kein schöner Land, in dem mit einigem Stolz vom verrußten, dreckigen Ruhrgebiet die Rede ist.

In einem Seminar untersuchte Sina Nitzsche mit Studierenden, wie die RUHR.2010 zum HipHop steht. »Interesse und Offenheit bestehen auf jeden Fall«, lautet das Ergebnis, »es wird sogar mit HipHop geworben: In den Imagefilmen der RUHR.2010 vermitteln Breakdancer oder Graffiti ein junges, urbanes, multikulturelles Image der Metropole an der Ruhr.« Dadurch aber, dass HipHop nicht so institutionalisiert sei wie etwa Jazz, gebe es auch nicht so viel Wissen darüber. »Man weiß offenbar nicht, wie an die Szene heranzukommen ist«, glaubt Nitzsche.

In den eindeutig lokalisierbaren Videos und heimatverbundenen Texten der Ruhrpott-Rapper sieht die Amerikanistin eine Parallele zu den Anfängen des HipHop in New York. Auch in den Videos damals liefen die Protagonisten durch leere Straßen und verlassene Häuser und nutzten ihren 'Block' als Bühne. Tief im deutschen Westen sorgen die Bilder von Zechen, Hochöfen und Fußballstadien, wie zum Beispiel im Musikvideo Too Strong Meets Business für Abgrenzung zu anderen deutschen Städten und HipHop-Kollektiven. Das Video schafft eine eigene visuelle Marke, eine Identität - und niemand in Deutschland kann ähnliche Bilder liefern. »Diese Bilder von Zechen suggerieren Street Credibility und einen Arbeiterschichtenkontext. Man zeigt damit, dass man weiß, was auf der Straße los ist.«


Lokaler Bezug ist einzigartig

Dieser lokale Bezug der HipHop-Szene, den es ebenso in den anderen deutschen Städten gibt, ist einzigartig und bei Punk, Pop oder Rock nahezu undenkbar, weiß Nitzsche: »Die Texte von Madonna-Popsongs sind so reduziert und allgemein, die versteht eine Inderin, eine Amerikanerin, ein Deutscher.« Umso interessanter ist es, dass sich die Akteure selbst dessen offenbar gar nicht bewusst sind. »Für ein Seminar-Projekt haben wir HipHop-Künstler unter anderem nach ihrem Verhältnis in den Texten zum Strukturwandel befragt. Flipstar von Creutzfeld & Jakob konnte uns dazu gar nichts Genaues sagen. Es war ihm nicht so sehr bewusst, dass es in seinen Texten sehr stark ums Ruhrgebiet und dessen Wandel geht.«

Was den Ruhrpott-HipHop außerdem noch von dem aus anderen Regionen unterscheidet, ist seine Vermarktungsstrategie. »Die Rapper im Revier vermarkten sich weniger stark, verkaufen auch weniger Platten und sind nicht so populär. Das ist einerseits Attitüde: Man will kein kommerzieller Rapper werden und den Kontakt zum Underground behalten. Dies äußert sich auch im Ruhrpott-Style: Die Beats und die Melodien sind viel rauer, melancholischer und weniger massenkompatibel als etwa bei den Hamburgern«, sagt Nitzsche. Es herrscht ein eigenes HipHop-Unternehmertum. Anstatt bei großen Plattenfirmen Verträge zu unterzeichnen, haben sie ihre eigenen Labels gegründet. Das ist ihre Antwort auf Deindustrialisierung und Strukturwandel.

Diese Verbindung zwischen HipHop und Wirtschaft ist es, die Sina Nitzsche in Zukunft näher untersuchen will: Welches Verhältnis hat der HipHop zum (kapitalistischen) Wirtschaftssystem? Welchen Beitrag leisten die vier Elemente des HipHop zum Strukturwandel? »Das Phänomen des HipHop-Unternehmertums ist nicht nur im Ruhrgebiet, es ist generell noch kein großes Thema in der HipHop-Forschung«, sagt Sina Nitzsche. Desweiteren interessiert sie, wie HipHop im Bildungsbereich eingesetzt werden kann, zum Beispiel in der Lehramtsausbildung oder bei interkulturellen Lernprojekten. HipHop hat halt Zukunft.


ZUR PERSON
Wie viele HipHop-Forscher hat Sina Nitzsche (M. A.) bereits in alle Bereiche des HipHop reingeschnuppert. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung begann mit der Konferenz HipHop meets Academia, die sie noch als Studentin an der TU Chemnitz mit organisierte. Später arbeitete sie dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Professuren für Anglistische Literaturwissenschaft und Amerikanistik. Seit 2008 gehört sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin zum Institut für Anglistik und Amerikanistik. Sina Nitzsche studierte Anglistik/Amerikanistik und BWL an der TU Chemnitz sowie Cultural Studies an der Trent University, Kanada und sammelte praktische Erfahrung im Goethe-Institut Bangkok, Thailand, bei der Österreichischen Botschaft Bangkok und beim DAAD New York, USA. In ihrem Dissertationsprojekt widmet sie sich, angeregt von ihren zahlreichen Auslandsaufenthalten, dem kulturwissenschaftlichen Paradigma des Spatial Turn und untersucht die Wechselbeziehungen zwischen Raum und Medien am Beispiel der New Yorker Bronx.
Kontakt: E-Mail: sina.nitzsche@udo.
edu


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Quelle:
mundo - das Magazin der Technischen Universität Dortmund, Nr. 12/10, S. 34-36
Herausgeber: Referat für Öffentlichkeitsarbeit
Universität Dortmund, 44221 Dortmund
Redaktion: Angelika Willers (Chefredakteurin)
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E-Mail: redaktion.mundo@tu-dortmund.de

mundo erscheint zwei Mal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. August 2010