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BERICHT/007: Canto General - Liedkunst für politisch bewegte Menschen (SB)


Konzert am 2. Juni 2012 in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme

Publikum in Sitzreihen vor der Bühne - Foto: © 2012 by Schattenblick

Konzert im Westflügel des ehemaligen Ziegelwerks
Foto: © 2012 by Schattenblick


Pablo Neruda und Mikis Theodorakis internationalistisch verbunden

Canto General ("Der große Gesang"), ein Oratorium des griechischen Komponisten Mikis Theodorakis auf Texte aus dem gleichnamigen Gedichtzyklus des chilenischen Dichters Pablo Neruda, vermählt auf einzigartige Weise künstlerische Gestaltungskraft aus Dichtung und Musik mit einer tief berührenden und inspirierenden Parteinahme gegen Unterdrückung und Ausbeutung der Menschen und Völker. Neruda und Theodorakis, jeder für sich und mehr noch in ihrem Schulterschluß, verkörpern eine Künstlerschaft, die das Refugium privilegierter Zuträgerschaft im Dienst herrschender Eliten und saturierten Bürgertums überwindet, um den Drangsalierten eine Stimme zu geben. Entsprangen despotische Regime in Lateinamerika wie die Diktatur in Chile und repressive Staatlichkeit in Gestalt der griechischen Junta in Europa derselben Quelle kapitalistischer Verwertung und imperialistischen Übergriffs, so konfrontierte der gelebte Internationalismus der beiden Gestalter des großen Gesangs die Greueltaten der Militärmachthaber mit dem solidarischen Widerstand ihrer Opfer. Unter verschiedenen Regierungen Chiles verfolgt, zeitweise im Untergrund lebend, lange Jahre ins Exil gezwungen und bis an sein Lebensende als Staatsfeind gebrandmarkt, wußte Neruda nur zu gut, gegen wen er seine Feder richtete. Nicht minder mit Leib und Leben für seine Überzeugung einstehend, gefangen, gefoltert, dem Tode nahe und außer Landes getrieben, komponierte Theodorakis gegen denselben Feind mit wechselnden Gesichtern.

Fundament ehemaliger Häftlingsbaracken - Foto: © 2012 by Schattenblick

Steinerne Markierungen der Vernichtung durch Arbeit Foto: © 2012 by Schattenblick

Welcher Ort hätte für die Aufführung des Oratoriums an diesem 2. Juni angemessener sein können als die KZ-Gedenkstätte Neuengamme? Den ganzen Tag über hatten Tausende in Hamburg ein Zeichen gegen den Aufmarsch mehrerer hundert Neonazis gesetzt und deren Präsenz damit erheblich eingeschränkt. Was wie ein breites und vielfältiges Bündnis gegen Rechts anmuten mochte, erwies sich indessen als Okkupation des antifaschistischen Widerstands durch die Senatspolitik und deren Bündnispartner in Wirtschaft und Institutionen. Während zehntausend Menschen auf dem Rathausmarkt den Prominentenreden lauschten und ein buntes Volksfest feierten, ging die Polizei längst im Stadtteil Wandsbek massiv gegen Demonstranten vor, die den Marsch der Nazis blockierten. Fein säuberlich in legitimen Bürgerprotest zugunsten der herrschenden Ordnung einerseits und diskreditierten Widerstand auf der Straße auseinanderdividiert, spannte man überwiegende Teile aufgestauten Unmuts über die ungezügelten Umtriebe der Rechten vor den Karren einer auf die Linken abgestellten Feindbildprägung.

In Koinzidenz der Ereignisse gemahnte die Präsentation emanzipatorischen Kulturschaffens am Ort maßloser Greuel deutscher Geschichte an den verhängnisvollen ideologischen Kunstgriff sogenannter Vergangenheitsbewältigung. Auf einen engen Kreis nationalsozialistischer Täter eingegrenzt, entkoppelte man die Faschisten von ihrer kapitalistischen Basis und dem staatlichen Gewaltmonopol, die in neuem Gewand Urstände feierten. Die Faustformel der Absolution, man habe von nichts gewußt, konnte für das KZ Neuengamme mitnichten gelten. Dessen rund 90 Außenlager erstreckten sich im Norden bis Ladelund an der Grenze zu Dänemark, im Osten bis Wittenberg, im Westen bis Meppen und im Süden bis Bad Sassendorf. Allein im Hamburger Stadtgebiet befanden sich 18 Außenlager, in denen die Häftlinge für Rüstungsbetriebe, zur Unterstützung großer Baumaßnahmen und nach der Bombardierung zur Trümmerbeseitigung eingesetzt wurden. Es existierten mithin zahlreiche Berührungsflächen mit der einheimischen Bevölkerung, die aus unschwer zu entschlüsselnden Gründen die Augen verschloß.

Lore in verwaistem Gleisbett - Foto: © 2012 by Schattenblick

Erstarrtes Fragment erzwungener Produktivität
Foto: © 2012 by Schattenblick

Von den bis 1945 dort gefangengehaltenen ca. 100.000 Menschen, die zu über 90 Prozent aus den besetzten Ländern stammten, verloren mindestens 50.000 in der Folge der unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen, durch direkte Morde und als Opfer der Lagerräumungen ihr Leben. Die "Vernichtung durch Arbeit" trieb die untrennbare Verknüpfung von Zugrunderichtung in der Produktion und ausschließlich nach deren Erfordernissen zugestandener Reproduktion auf ihre grausamste Spitze. Wurden die Häftlinge zeitweise geringfügig besser versorgt und befristet am Leben gehalten, so war dies allein ihrer Verwendung zur Arbeitsleistung geschuldet.

Wer dies zum historischen Ausnahmefall erklärt und als krassen Gegensatz zu den aktuellen Lebensverhältnissen auffaßt, richte den Blick nach Griechenland, dessen Bevölkerung unter der Schuldknechtschaft auf beispiellose Weise ins Elend getrieben wird. Überdies werden dort an der südöstlichen Flanke der weithin abgeschotteten Festung Europa rund eine Million Kriegs- und Armutsflüchtlinge teils in Lagern gehalten, teils auf der Straße ihrem Schicksal überlassen. Einschluß in Lagern, Vertreibung und Arbeitszwang exekutiert man in zahlreichen europäischen Ländern, während Hungerlöhne, Arbeitslosigkeit und ein dramatischer Abbau der Sozialleistungen jeden Anspruch auf eine menschenwürdige Existenz obsolet machen. Dem Verwertungsregime unterworfen erweist sich Reproduktion als prekäres Lehen, das nach den Maßgaben von Bedarf und Zurichtung nur befristet gewährt und nun zunehmend entzogen wird.

Wer aus der Geschichte lernen will, kann nicht umhin, eine Brücke von den Herrschaftsverhältnissen der Vergangenheit und den Kämpfen zu ihrer Überwindung zu innovativen Formen der Verfügungsgewalt in der Gegenwart zu schlagen. Werden im Canto General epochale Auseinandersetzungen wieder lebendig, so reichte bloßer Kunstgenuß, der mit seiner Aufführung auf erfreulichste Weise verbunden ist, doch nicht aus, seine Tiefe auszuloten und die darin enthaltene Botschaft seiner Schöpfer aufzugreifen.

Pablo Neruda, den seine Tätigkeit im diplomatischen Dienst in zahlreiche Länder führte, schärfte zugleich den Blick für die allerorts anzutreffende Unterjochung der Menschen. In Buenos Aires lernte er den spanischen Dichter Federico García Lorca kennen, mit welchem er, zusammen mit anderen Redakteuren, ab 1934 als chilenischer Konsul in Spanien die Zeitschrift Caballo verde para la poesia (Grünes Pferd für die Dichtung) herausbrachte. Als am 17. Juli 1936 mit dem Putsch von General Francisco Franco der Spanische Bürgerkrieg begann, wurde García Lorca erschossen. Neruda, obgleich als Konsul zur Neutralität verpflichtet, befaßte sich in seinen Werken zunehmend mit politischen Themen. Als Anfang November 1936 die Putschisten vor den Toren Madrids standen, mußte er zuerst nach Barcelona, dann nach Marseille und später nach Paris flüchten. Er schloß sich einer Gruppe spanischer Politiker, Künstler und Journalisten, darunter auch Pablo Picasso, an, die die Verhältnisse in Spanien an die Öffentlichkeit trugen.

Nachdem Neruda 1938 nach Chile zurückgekehrt war und eine Anstellung als Redakteur gefunden hatte, widmete er zahlreiche Artikel dem weltweiten Vordringen des Faschismus. Als 1939 die Volksfront an die Regierung kam, reiste er nach Paris und brachte 2.000 spanische Flüchtlinge nach Chile. Am 20. August 1940 trat er den Posten des Generalkonsuls in Mexiko an, den er drei Jahre später mit der Entlassung aus dem diplomatischen Dienst beendete, um sich fortan ganz dem Schreiben und der Politik zu widmen. Im März 1945 kandidierte er als unabhängiger Kandidat für den Senat auf die Liste der Kommunistische Partei Chiles und trat nach seiner Wahl der Partei bei. Als Präsident González Videla aufgrund des beginnenden Kalten Krieges zunehmend reaktionäre Positionen vertrat, wurde Neruda, der als Senator parlamentarische Immunität genoß, zu einem seiner schärfsten Kritiker: Videla habe das Volk, durch dessen Stimme er Präsident geworden war, belogen und betrogen. Statt die Armut zu bekämpfen, festige er nur die Macht der wenigen Reichen, die das Volk aussaugen wie Vampire. González setzte daraufhin mit der Mehrheit der Volksvertretung das Gesetz zur Permanenten Verteidigung der Demokratie durch, das mehr als 25.000 Menschen ihrer politischen Rechte beraubte. Als ein Haftbefehl gegen Neruda erlassen wurde, entkam dieser und lebte eineinhalb Jahre im Untergrund, geschützt von Menschen, die ihn wegen seines Mutes verehrten. Während dieser Zeit schrieb Neruda wesentliche Teile seines bedeutendsten Werkes Canto General, in dem er Wesen und Geschichte des amerikanischen Kontinents von der Vorzeit bis zur Gegenwart deutete.

Pablo Neruda am Tisch sitzend - Foto: © Revista argentina 'Siete días ilustrados', via Wikimedia Commons

Pablo Neruda 1971 in Argentinien
Foto: © Revista argentina "Siete días ilustrados", via Wikimedia Commons

Schließlich organisierte Galo Gonzáles, der ebenfalls im Untergrund lebende Parteiführer der inzwischen verbotenen Kommunisten, Nerudas Flucht nach Argentinien. Mit Unterstützung eines weiteren Freundes konnte er nach Europa ausreisen, wo er zum dritten Mal Paris aufsuchte. Gemeinsam mit Pablo Picasso, der ihm wiederum eine große Hilfe war, wurde er im November 1950 in Warschau mit dem Friedenspreis des Weltfriedenkongresses ausgezeichnet. In den folgenden Jahren trat Neruda überall in Europa, aber auch in Indien und China auf, bis er schließlich am 12. August 1952 nach Chile zurückkehren konnte. Neruda veröffentlichte 1953 den Canto General, der zuvor 1950 in Mexiko erschienen war, und widmete sich geraume Zeit seinem dichterischen Schaffen. 1969 wurde er von der Kommunistischen Partei als Präsidentschaftskandidat nominiert, verzichtete aber zugunsten des vom Wahlbündnis Unidad Popular favorisierten Sozialisten und Freundes Salvador Allende, der 1970 die Wahlen gewann.

Auf Bitten Allendes wurde Neruda trotz seiner inzwischen angegriffenen Gesundheit Botschafter in Paris. 1971 verlieh man ihm den Nobelpreis für Literatur "für eine Poesie, die mit der Wirkung einer Naturkraft Schicksal und Träume eines Kontinents lebendig macht". Am 23. September 1973 und damit nur zwölf Tage nach dem Putsch in Chile unter Führung Augusto Pinochets erlag er einem Krebsleiden. Nach Nerudas Tod wurde sein Haus vom Militär geplündert und zerstört. Sein Begräbnis, das in dieser Form nur wegen der Anwesenheit ausländischer Kamerateams möglich war, mündete in den ersten bedeutenden öffentlichen Protest gegen die Junta. Am 25. September wurden seine sterblichen Überreste in Santiago zwischen zwei Reihen bewaffneter Soldaten zu Grabe getragen. Ein Vorrufer rief laut in die Menge "Genosse Pablo Neruda!", worauf diese "Anwesend!" antwortete. "Genosse Pablo Neruda!" - "Anwesend, jetzt und immer!". Dasselbe wiederholte sich mit "¡Camarada Salvador Allende!" und "¡Compañero Víctor Jara!". An seinem Grab wurde die Internationale gesungen. Während in der DDR bereits 1949 Gedichte Pablo Nerudas, der sich selbst als Dichter des Volkes bezeichnete, veröffentlicht wurden, ignorierte man ihn als Kommunisten und erklärten Freund der Sowjetunion in westlichen europäischen Ländern bis in die 1960er Jahre. Die Stimmung änderte sich erst im Zuge der weltweiten Sympathie für Chile nach dem Militärputsch 1973.

Mikis Theodorakis auf der Bühne - Foto: © By Mordo Avrahamov (Own work) [CC-BY-SA-3.0 (www.creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Mikis Theodorakis bei einem Konzert in Caesarea in Israel in den frühen 70er Jahren
Foto: © By Mordo Avrahamov (Own work) [CC-BY-SA-3.0 (www.creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Mikis Theodorakis, der Vorsitzender der Lambrakis-Jugendorganisation in Griechenland war, begegnete Pablo Neruda erstmals 1964 in Paris, wohin er nach Übergriffen der Polizei in Athen gereist war. Mit dem weltbekannten chilenischen Dichter, der zu dieser Zeit im Exil lebte, sprach er über die repressive Situation in ihren Heimatländern. Als 1967 in Griechenland die Diktatur errichtet wurde, ging Theodorakis in die Illegalität und wurde einige Monate später verhaftet. Zu den zahlreichen Menschen in vielen Ländern, die sich für seine Freilassung einsetzten, gehörte auch Neruda. Nach seiner Freilassung 1970 mußte er nach Paris ins Exil gehen, worauf er ein Jahr später eine Einladung Nerudas erhielt, Chile zu besuchen und kennenzulernen. Wie viele andere namhafte Künstler, Wissenschaftler und Politiker, die Allende ins Land geholt hatte, wurde er dort Zeuge der politischen und sozialen Veränderungen. Wie Theodorakis später berichtete, habe ihn das chilenische Volk tief beeindruckt. Von allen Völkern, die er kenne, seien den Griechen die Chilenen am nächsten: "Mit all unseren Schwächen gleichen wir ihnen - aber auch mit unseren starken, positiven Seiten: Enthusiasmus, Glaube, Pathos, Brüderlichkeit. Ich erkannte in Chile sofort meine zweite Heimat." [2]

Wie Theodorakis in Griechenland widmeten sich auch junge chilenische Komponisten dem Volkslied, wobei sie dichterische Texte als Grundlage für ihre Kompositionen nahmen, um ein neues politisches Lied zu schaffen. In Valparaíso besuchte er eine Aufführung des Canto General in einer Version einheimischer Komponisten und beschloß, einen lange in ihm keimenden Wunsch in die Tat umzusetzen und seinerseits das große Lied zu vertonen. Der Canto General sei für ihn so etwas wie ein Evangelium unserer Zeit, in dem Neruda seine kämpferische Seele offenbare. Diese Dichtung erfasse die geschichtlichen Ereignisse seines Landes mit einer verblüffenden Unmittelbarkeit und könne den Menschen helfen, Krisenzeiten zu überwinden und die Freiheit in der Welt durchzusetzen. Neruda habe sie bewußt in den Dienst der Weltrevolution, der Revolution der Völker für Freiheit, Unabhängigkeit und Demokratie gestellt. Allende war von der Idee begeistert und markierte bei einer Begegnung in seinem Haus auf einem Hügel über Santiago eigenhändig mehrere Gedichte, die sich seiner Meinung nach besonders dafür eigneten. Geraume Zeit später vervollständigte Neruda diese Auswahl.

Nach Paris zurückgekehrt komponierte Theodorakis unterdessen die Musik zu drei Teilen des Canto und setzte diese Arbeit im Sommer desselben Jahres fort. Im Frühsommer des Jahres 1972 bat Neruda, sich die Vertonung anhören zu können. Gemeinsam mit der jungen Mezzosopranistin Maria Farantouri, dem Bariton Petros Pandis und einem Orchester spielte Theodorakis seinem chilenischen Freund das Oratorium vor, das Neruda tief bewegte. Bald darauf mußte dieser eilends nach Chile zurückkehren, doch verabredete man später eine gemeinsame Tournee, auf der Neruda seine Gedichte selbst rezitieren wollte. Man plante für den Sommer 1973 eine Reihe von Konzerten des Canto in Lateinamerika, wo schon die Vorankündigung dank des Namens Neruda auf überwältigende Resonanz traf. Das erste Konzert in Buenos Aires fand jedoch ohne den chilenischen Dichter statt, dessen Gesundheitszustand einen Auftritt nicht zuließ. Unmittelbar nach dem Konzert rief Theodorakis den Freund an, um ihm zu berichten, daß das Werk triumphiert habe und die Menschen immer wieder seinen Namen gerufen hätten. Neruda entschuldigte sich für sein Fernbleiben und versprach, eine Woche später beim Konzert in Santiago de Chile anwesend zu sein und selbst vorzutragen. Zu diesem Zeitpunkt wußte Theodorakis noch nicht, daß Neruda an Blutkrebs erkrankt und dem Tode nahe war.

Kurz vor der Weiterreise nach Chile überbrachte der Sekretär Allendes die Bitte, nicht nach Santiago zu kommen, da man einige Probleme zu bewältigen habe und die Zeit nicht günstig für solche Aufführungen sei. In Ungewißheit über die Lage in Chile reiste Theodorakis nach Caracas, wo er die Nachricht vom Putsch, dem Tod Allendes und Tausender Patrioten erhielt. Die nächste Station der Reise war Mexiko, wo man vom Tod Nerudas erfuhr: "Es war eine der größten Tragödien für die Menschheit und für Chile und für mich". Die Kommunisten und die anderen progressiven Kräfte in Mexiko organisierten eine Veranstaltung, an der über eine halbe Million Menschen teilnahmen. Theodorakis hatte die Ehre, einen zwanzig Kilometer langer Zug anzuführen und eine Rede zu halten. Anschließend wurde der Canto General in der Nationaloper Mexikos aufgeführt - jetzt Neruda, Allende und Chile gewidmet. "Seitdem ist der Canto General eine Waffe in unseren Händen, nicht nur für die Befreiung Griechenlands, Chiles, sondern für die Befreiung der ganzen Welt." In Griechenland wurde der Canto General nach dem Ende der Junta 1974 im Athener Stadion vor 70.000 Zuschauern aufgeführt, die die Befreiung von der Diktatur feierten. Die Uraufführung des vollständigen Werks fand am 4. April 1981 in Berlin (DDR) statt. In Chile kam der Canto General nach dem Ende der Militärdiktatur 1990 erstmals im April 1994 in Santiago zur Aufführung.

Mikis Theodorakis dirigiert - Foto: © By Mordo Avrahamov (Own work) [CC-BY-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/3.0)], via Wikimedia Commons

Maria Farantouri in einem Konzert in Caesarea in Israel in den frühen 70er Jahren
Foto: © By Mordo Avrahamov (Own work) [CC-BY-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/3.0)], via Wikimedia Commons

Pablo Nerudas Gedichtzyklus Canto General besteht aus 15 Abschnitten, 231 Gedichten, umfaßt mehr als 15.000 Zeilen und erhebt den Anspruch, eine Geschichte oder Enzyklopädie des gesamten hispanoamerikanischen Subkontinents zu sein. Er beschreibt die Erschaffung Lateinamerikas, der Flora und Fauna, das Auftreten des Menschen, die Eroberung durch die Konquistadoren, die Befreiungskämpfe und die Hoffnung auf Unabhängigkeit. Als Mikis Theodorakis den "Großen Gesang" vertonte, entstand ein gewaltiges Oratorium für zwei Solostimmen, gemischten Chor und Orchester, in dem er die Gesänge der Inkas, die Lieder der Anden und die Rhythmen der Tropen mit der Klangwelt der Griechen zu einem der kraftvollsten und intensivsten Werke verband, die er geschrieben hat. Dabei griff er erstmals nicht auf griechische Texte oder Übersetzungen zurück, sondern auf das Original in spanischer Sprache. Jeder der dreizehn Teile stellt auch in sich eine Einheit mit spezifischem Charakter dar. In "Vienen los Pájaros", "Vegetaciones" und "Algunas Bestias" wird der Jubel über die Vielfalt der Natur mit überschäumender und rhythmischer Kraft dargestellt, daß man sich der Verzauberung durch diese Musik nicht entziehen kann. Diese Fülle der Schöpfung setzt Theodorakis in Gegensatz zur Armut und Unterdrückung der lateinamerikanischen Völker, denen er sich in "Los Libertadores" in tiefer Verbundenheit zuwendet. Dann wieder nimmt er mit scharfer Ironie und Sarkasmus US-Multis wie "La United Fruit Co." aufs Korn, die den Kontinent in Bananenrepubliken verwandelt und mit einer Blutspur überzogen haben. In "América Insurrecta" erreicht die musikalische Kraft ihren Höhepunkt in einem Gesang, der die Unterdrückung ebenso erschütternd deutet wie er den Aufstand gegen die Unterdrücker leidenschaftlich feiert. [2]

Eingeschoben hat Theodorakis einen Text Nerudas aus dem Jahre 1949 "Voy a vivir" (Ich werde leben), in dem die Verbindung zwischen einheimischer Diktatur und imperialistischer Unterdrückung durch die USA hergestellt wird:

Ich werde nicht sterben.
Heute an diesem Tag voller Vulkane,
ich trete hervor, der Menge entgegen, dem Leben zu.
Ich lasse hier die Dinge zurück,
heut, da die Banditen herumziehn
mit der "westlichen Kultur" im Arm,
mit Händen, die Spanien umbringen,
und den Galgen, die schwanken über Athen,
und der Schande, die Chile regiert
und aufhört zu zählen.
Hier bleibe ich stehen
mit Worten und Völkern und Wegen,
die mich von neuem erwarten
und mit gestirnten Händen pochen an meine Tür.

Als Theodorakis diese Worte Nerudas in Musik setzte, waren sie wiederum von höchster Aktualität. In Spanien steuerte Franco auf seine letzten Untaten zu, in Griechenland wüteten die Obristen, in Chile wehrte sich die Unidad Popular verzweifelt gegen die Rechten und die USA.

Im Jahr 1976 fügte Theodorakis dem Canto General die ergreifende Melodie seines eigenen "Neruda Requiem Eternam" an. Acht Jahre später, während seines freiwilligen Exils in Paris, vollendete er das Oratorium durch die Vertonung weitere Texte Nerudas. "Amor América" (1972), "A Emiliano Zapata", "Al mio Partido", "Sandino" und "Lautaro" runden mit ihren lyrischen, zarten Tönen das Gesamtwerk ab. So trägt der Canto General eine Botschaft in sich, die überall in der Welt verstanden werden kann und den Zuhörer ermutigt, seinerseits Position zu beziehen.

Publikum aus Sicht der Bühne - Foto: © 2012 by Schattenblick

Tiefe der Klänge und des Raumes
Foto: © 2012 by Schattenblick


Anspruchsvolle Darbietung wider das Vergessen

Der historische Hintergrund der Entstehung des Canto General in künstlerischer wie politischer Dimension läßt ahnen, welch große Aufgabe sich die Hamburger Singakademie gestellt hatte, dieses Oratorium zur Aufführung zu bringen. Zwar war es nicht das erste Mal, daß dieser traditionsreiche, 1819 gegründete Chor den Canto in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme sang. Seit den Aufführungen 2005 und 2006 waren jedoch sechs Jahre vergangen, weshalb es einer rund sechsmonatigen Vorbereitung bedurfte, um das komplexe, musikalisch anspruchsvolle Oratorium wenn auch nicht in vollständiger Länge, so doch in wesentlichen Teilen einzustudieren. Da die Mitglieder der Hamburger Singakademie ehrenamtlich tätig sind, spricht die Leistung, den Canto neben anderen Werken des 20. Jahrhunderts und ausgewählten, häufig eher unbekannteren Oratorien der klassischen Musik zu singen, für die große Hingabe, mit der sich der von Jörg Mall geleitete Chor der wohl ursprünglichsten Form musikalischer Artikulation, der Nutzung der eigene Stimme, widmet.

Raumgreifende Rezitation - Foto: © 2012 by Schattenblick

Rolf Becker
Foto: © 2012 by Schattenblick

Mit der Mezzosopranistin Julia Schilinski übernahm eine Sängerin eine der beiden Solostimmen, die den Canto bereits seit 2006 singt und an dem Theodorakis-Projekt teil hat, das der Schauspieler und Sprecher Rolf Becker und der Komponist und Pianist Gerd Folkerts 2009 erstmals in Husum zur Aufführung brachten. Am 1. April 2012 wurde vor großem Publikum im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg Mikis Theodorakis eine Hommage gewidmet, in der auch Auszüge aus dem Canto vorgetragen wurden. Bestritt damals Gerd Folkerts mit dem Flügel den Part des Orchesters, so bot man für die Aufführung in der Gedenkstätte Neuengamme ein höchst ungewöhnliches Ensemble aus Instrumentalisten auf.

Seitlicher Blick auf Solistin und Dirigent - Foto: © 2012 by Schattenblick

Julia Schilinski und Jörg Mall
Foto: © 2012 by Schattenblick

Die vier Schlagwerker der Gruppe ElbtonalPercussion, die bereits mit weltbekannten Exponenten perkussiver Kunstfertigkeit wie Stewart Copeland und Trilok Gurtu zusammenarbeiteten, boten nicht nur ein beeindruckendes Arsenal an hölzernen und metallenen Klangerzeugern auf, sondern setzten es auch auf eine Art und Weise ein, die dem Canto das spezifische Klangbild einer von indigener Folklore beeinflußten Rhythmik verleihen. Mikis Theodorakis selbst hatte mit der Einführung von Instrumenten der Volksmusik wie der Bouzouki in symphonische Werke schon Anfang der 1960er Jahre etwas gewagt, was erst später unter dem Titel einer Kontinente und Musiktraditionen übergreifenden "Weltmusik" Furore machen sollte.

Pianistinnen, Schlagwerker, Flötistinnen - Foto: © 2012 by Schattenblick Pianistinnen, Schlagwerker, Flötistinnen - Foto: © 2012 by Schattenblick Pianistinnen, Schlagwerker, Flötistinnen - Foto: © 2012 by Schattenblick

Impressionen des Orchesters
Foto: © 2012 by Schattenblick

Heute erscheint daher ein Orchester, das zudem aus drei Gitarren und einem E-Bass, drei Flöten und zwei Pianos besteht, als nicht so spektakulär, wie es zur Zeit der Entstehung des Canto General der Fall gewesen sein mag. Die musikalische Bewältigung dieses von vielen unorthodoxen Takt- und Harmoniewechseln geprägten Stückes erfolgte in beeindruckender Präzision, wie auch die Fähigkeit der Sängerinnen und Sänger, die mitunter von Halbtonschritten bestimmte Liturgie zu meistern, insgesamt beeindruckte. Dabei ergänzte der Bariton Matthias Lüderitz die Sangeskunst Julia Schilinskis auf kongeniale Weise, wobei deren Unbeschwertheit und Begeisterung verriet, daß sie das musikalische Potential des Canto für sich in besonderer Weise erschlossen hat.

Solist in Aktion - Foto: © 2012 by Schattenblick

Matthias Lüderitz
Foto: © 2012 by Schattenblick

Rolf Becker führte unter Verweis auf die Bedeutung des Ortes wie die gleichentags stattgefundenen Blockaden des Naziaufmarsches in Hamburg auf angemessene Weise in den Abend ein und rezitierte die spanischen Liedtexte Pablo Nerudas in deutscher Übersetzung mit großer Würde und Empathie. Auch wenn die große Halle des westlichen Flügels des ehemaligen Klinkerwerks nicht über die Akustik eines eigens zu diesem Zweck geschaffenen Konzertsaals verfügt und das Lautsprechersystem mitunter durch Rückkopplungen überfordert schien, hätte der Ort für die Aufführung nicht passender sein können. Das trotz der Anreise vor die Tore Hamburgs bis zu tausend Gäste zählende Publikum lauschte dem lyrischen und musikalischen Vortrag von Anbeginn an mit großer Aufmerksamkeit, und man konnte sich vorstellen, daß nicht wenige der Zuhörerinnen und Zuhörer Ort und Werk im größeren historischen und politischen Zusammenhang reflektierten. Bei aller Anforderung, die das Ensemble aus gesprochenem und gesungenem Text wie der komplex arrangierten Komposition an ein kulturell arriviertes Publikum stellte, beeindruckte der Canto General mit einer empathischen Zugänglichkeit, die die Behauptung, das Verständnis eines künstlerisch anspruchsvollen Werkes setze besonderen Sachverstand voraus, im besten Sinne eines emanzipatorischen Kunstverständnisses widerlegt.

Fast könnte man meinen, daß die Veranstalter selbst nicht geahnt hätten, wie sehr sie mit dieser Veranstaltung einen zeitgemäßen und nach vorne weisenden Beitrag zu der ansonsten eher im Argen liegenden Kultur des Politischen und des Politischen in der Kultur erbringen sollten. Läßt man den zeitgeschichtlichen Hintergrund des Canto General wie des Arbeitslagers Neuengamme Revue passieren und führt sich die Konflikte und Krisen vor Augen, die die Welt im allgemeinen und Europa im besonderen erschüttern, dann weiß man, daß die Rückschau auf historische Kämpfe fruchtbar nur wird in der Antizipation derjenigen Position, die nicht zu beziehen im Angesichte der Gefahr und der Not, die von diktatorischer Gewalt und ökonomischer Ausbeutung ausgehen, das Verhängnis der Herrschaft des Menschen über den Menschen erst zu einem solchen, zu einem passiv erlittenen Schicksal, haben werden lassen. Widerstand zu leisten, wenn die Totalität der Unterdrückung vollständig manifest wurde, ist die unwirksamste, durch das Ausmaß hingenommener Zumutungen bereits von der Ohnmacht bloßer Reaktivität eingeschränkte Bewegung. Die Aufgabe einer politischen Kunst wie der Pablo Nerudas und Mikis Theodorakis' bestände im besten Fall darin, im Denken und Tun vorwegzunehmen, was die Menschen ansonsten im fremdinduzierten wie selbstgewählten Zustand gleichgültigen Desinteresses wie aus heiterem Himmel überfällt.


Fußnoten:

[1] http://www.mikis-theodorakis.net/canto-d2.htm
[2] http://de.mikis-theodorakis.net/index.php/article/articleview/318/1/62/

Loren vor Produktionshalle - Foto: © 2012 by Schattenblick

Veranstaltungsort im ehemaligen Ziegelwerk des KZ Neuengamme
Foto: © 2012 by Schattenblick

12. Juni 2012