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BERICHT/013: Eine Burg und linke Lieder - wie alles kam (SB)


Die Burg-Waldeck-Festivals der 60er Jahre zwischen Tradition und Aufbruch


Publikum beim Burg-Waldeck-Festival 1968 - Foto: © By Mirdsson2 (Own work) - CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0, via Wikimedia Commons

Wer ist die Protestgeneration?
Foto: © By Mirdsson2 (Own work)
CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0, via Wikimedia Common

Ein Mann mit Gitarre, in einem rustikalen Raum vor einer Kerze sitzend, singt über die "guten alten Zeiten". Das Publikum fällt in den Refrain ein, und schon der schroffe Rhythmus des Liedes verrät, daß hier keiner weinseligen Nostalgie gefrönt wird. Auf dem von Bildstörungen durchzuckten, schwarzweißen Fernsehbericht aus dem Jahre 1966 entwirft ein junger Franz-Josef Degenhardt ein postapokalyptisches Szenario, das einen Blick aus scheinbar ferner Zukunft zurück auf eine Welt bietet, deren Niedergang in der Gleichgültigkeit und Feindseligkeit, die zwischen ihren Bewohnern herrschte, bereits angelegt war. "In den guten alten Zeiten" fanden verhängnisvolle Dinge statt, die ändern zu können das Privileg derjenigen ist, die hier aus der Sicht einer entwicklungsgeschichtlich auf ein urzeitliches Stadium zurückgefallenen Horde als Wesen von kurioser Widersprüchlichkeit bestaunt werden.

Fast ein halbes Jahrhundert später wirkt nicht nur das dritte Festival "Chanson Folklore International" auf Burg Waldeck im Hunsrück, das der Fernsehbericht des SWF [1] zum Gegenstand hat, sondern auch die massenmediale Verarbeitung des Ereignisses wie ein musealisiertes Stück Zeitgeschichte. Die große Ernsthaftigkeit, mit der dort anspruchsvolles Liedgut gepflegt und gesellschaftliche Zustände reflektiert wurden, erscheint ebenso antiquiert wie eine Berichterstattung, in der man sich Zeit läßt, anstatt ein auf schnelle Verabreichung kondensiertes Infopaket zu schnüren. Zwar dominiert ein distanzierter, bisweilen etwas arroganter Tonfall, doch merkt der Zuschauer, daß die Redakteure des SWF an das, was sie auf einer entlegenen Anhöhe oberhalb des urwüchsigen Baybachtals vorfanden, auf durchaus fragende Weise herangingen.

Mehr als 2000 Besucherinnen und Besucher waren zu Pfingsten 1966 auf die Burg Waldeck gekommen, um sowohl Chansons und Folklore zu hören als auch selbst zu singen. Die SWF-Journalisten sehen "junge Leute zwischen 18 und 25, meist Schüler und Studenten, kaum Angestellte und Arbeiter" vor sich. Ihnen fällt eine "merkwürdige Uniformität des Saloppen, viele in der Nähe dessen, was man sich unter Gammler vorstellt", auf, doch liegt es ihnen fern, diesen "Ausdruck eines ganz bestimmten Selbstbewußtseins" pauschal zu verurteilen, was in diesen Jahren noch gang und gäbe war. Die einfache Unterbringung und Lebenweise während dieses mehrtägigen Freiluftfestivals fasziniert sie insbesondere deshalb, weil die meist aus den Städten aufs Land gezogenen Besucher die aus urbaner Sicht nicht anders als primitiv zu bezeichnenden Bedingungen des Ortes zu schätzen scheinen. Welche Gründe treibt diese Jugend, die damals noch unvertraute Situation eines Open-Air-Festivals erleben zu wollen, anstatt Konzerten in eigens dafür errichteten Häusern zu lauschen? Mit ihrem Verdacht, daß es hier um eine Art des jugendlichen Auf- und Ausbruchs geht, liegen die Fernsehjournalisten allerdings weit richtiger, als sie es sich zu diesem Zeitpunkt eingestehen möchten:

"Ist das derselbe Protest, der sich in den Liedern so mühsam auszudrücken versucht? Ist es die Auflehnung gegen die etablierte Gesellschaft, gegen ihre Perfektion auf allen Lebensgebieten, die Opposition gegen die Erwachsenenwelt? Ist es das erwachende Selbstbewußtsein einer Generation oder nur das einer Gruppe? Man müßte wissen, ob die Besucher der Waldeck repräsentativ sind." [1]
Ruinen der Burg Waldeck - Foto: © 2013 by Schattenblick Ruinen der Burg Waldeck - Foto: © 2013 by Schattenblick

Burg Waldeck - das Original
Foto: © 2013 by Schattenblick

Diese Frage stellt sich schon ein Jahr später auch in den Kreisen des bürgerlichen Medienbetriebs nicht mehr. Mit dem Besuch des Schah Reza Pahlevi in West-Berlin und der Ermordung von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 ist die politische Radikalisierung großer Teile der bundesrepublikanischen Jugend nicht mehr aufzuhalten. Was sich in den Massenprotesten gegen die Remilitarisierung der 50er Jahre ankündigte, setzte sich in der Opposition gegen eine von Funktionseliten, die ihre von der NS-Herrschaft geprägten politischen und kulturellen Einstellungen nicht grundsätzlich revidieren wollten und den Antibolschewismus Hitlers fugenlos im Antikommunismus des "freien Westens" fortschrieben, bestimmten Gesellschaft ebenso fort wie im Protest gegen den imperialistischen Krieg der USA in Vietnam. Die Neue Linke brach jedoch nicht nur mit dem geschichtspolitischen Determinismus ihrer Elterngeneration, sie wollte auf ganz andere, nicht entfremdete und nicht beherrschte Weise leben.

Die sechs Festivals, die zwischen 1964 und 1969 auf Burg Waldeck stattfanden, spiegeln diese Entwicklung im Mikrokosmos einer von dem Anliegen, eine von der Kommerzialisierung und Trivialität der Unterhaltungsindustrie unbeeinträchtigte Kultur des Singens und Musizierens zu fördern, getragenen Liedkultur. Die Initiative, dies in der unkonventionellen Form eines Zusammentreffens von Musikfestival, Seminarveranstaltung und Landfreizeit zu tun, ging vom Studentischen Arbeitskreis in der Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck (ABW) aus. Die ABW ist 1934 aus dem Nerother Wandervogel, auf den der Aufbau des Geländes um die Ruine der Burg Waldeck zu einem Versammlungsort der Bündischen Jugend zurückgeht, hervorgegangen. Der Nerother Wandervogel wurde vom NS-Regime zur Auflösung gezwungen, und nicht wenige seiner Mitglieder wurden als Oppositionelle verhaftet und gefoltert. Die Gründung der ABW diente ursprünglich der Sicherung der Burg Waldeck für die in der Illegalität fortlebenden Jugendgruppen, mußte sich aber schon ein Jahr später unter Druck des NS-Staates, der keine Jugendorganisationen neben der HJ dulden wollte, ebenfalls auflösen.

Mitte der 50er Jahre entspann sich zwischen den beiden Organisationen, die ihre Arbeit nach Kriegsende wieder aufgenommen hatten, ein jahrelanger Rechtsstreit um das Gelände der Burg Waldeck. Schlußendlich wurde der ABW die Verfügung über die Häuser und das Freigelände zugesprochen, die das Zentrum des bündischen Lebens auf der Burg Waldeck bildeten, während der Nerother Wandervogel seine Aktivitäten auf eine in unmittelbarer Nähe dieses Geländes errichtete Jugendburg, die Nerother Waldeck, beschränkte. Die Koexistenz beider aus der Bündischen Jugend der 1920er Jahre hervorgegangenen Organisationen dauert bis auf den heutigen Tag an, wobei sich Teile der ABW, wie im Falle der Waldecker Festivals, neuen kulturellen und sozialen Impulsen öffneten, während der Nerother Wandervogel an seinen männerbündischen, hierarchischen und disziplinatorischen Prinzipien festhält.

Bühne und Säulenhaus sowie Schwabenhaus und Morihaus - Foto: © 2013 by Schattenblick Bühne und Säulenhaus sowie Schwabenhaus und Morihaus - Foto: © 2013 by Schattenblick

Gelände und Gebäude der Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck e. V.
Foto: © 2013 by Schattenblick

Die Geschichte der deutschen Jugendbewegung der letzten 120 Jahre läßt sich nicht auf den einfachen Nenner einer nationalistischen, autoritär strukturierten Organisationsform zwischen Schule und Militär bringen. So entstand der Wandervogel des auslaufenden 19. Jahrhunderts, aus dem diese Bewegung hervorging, auch aus dem Wunsch, der familiären Enge und der Entfremdung des Stadtlebens zu entkommen, um die Welt im Wortsinne auf eigenen Füßen zu entdecken. Lebensreformerische Ideale, in denen Ideen der heutigen sozialökologischen Bewegung vorgedacht wurden, waren in seinen Reihen ebenso zu Hause wie der Wunsch, dem entseelt erscheinenden Massengetriebe der Metropolen die Besinnung auf unverfälschte Formen des Lebens und Arbeitens entgegenzustellen. Ein freierer Umgang der Geschlechter miteinander war ebenso verbreitet wie das Ideal individueller Selbstbestimmung. Besonders bedeutsam in Zeiten kriegerischer nationalstaatlicher Konkurrenz war der völkerverbindende Gedanke der Fahrten ins europäische Ausland.

Die unter dem Eindruck der Hölle des Ersten Weltkriegs stehenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen orientierten sich auch an historischen Formen der Subversion, wie das im Rahmen dieses Aufbruchs entstandene Lied "Wir sind des Geyers schwarze Haufen" belegt. Sein Text beruft sich auf die gegen Thron und Altar gerichtete Bauernbewegung des 16. Jahrhunderts, wurde in der Zwischenkriegszeit allerdings von linken wie rechten Gruppierungen gesungen. Seine Vereinnahmung durch die Waffen-SS entsprach dem generellen Versuch der NS-Jugendorganisationen, sich der kulturellen Eigenarten der Bündischen Jugend zu bemächtigen, um diese auf Linie der NS-Ideologie zu bringen. Dies gelang, obwohl in der Bündischen Jugend der Weimarer Zeit der Boden für völkische, nationalistische und militaristische Ideologien durchaus bereitet war, nur bedingt. Aus den Reihen dieser Jugendbewegung erwuchs auch aktiver Widerstand, wie die Beispiele von Hans Scholl oder den Edelweißpiraten belegen.

Dem heterogenen Charakter dieser Jugendbewegung wie ihrem Interesse an einer von der Konsumkultur unverfälschten Musik und an gesellschaftlichen Randgruppen etwa des fahrenden Volkes entsprang nach 1945 auch die Hinwendung zu politischen Liedern aller Art. Das Spektrum der von dem Wunsch, das eigene Repertoire mit ausgefallenem und internationalem Liedgut zu erweitern, getragenen, gesungenen Stücke reichte von Chansons in der Tradition der französischen Revolution und der italienischen Linken über Ernst Buschs Lieder aus dem Spanischen Bürgerkrieg und der sowjetischen Komsomol bis hin zu jiddischen Liedern und Songs von Kurt Weill und Bertolt Brecht. So ließen sich insbesondere jüngere Mitglieder der ABW vom demokratischen Aufbruch der Jugend in den USA inspirieren, der musikalisch stark in der Folklore US-amerikanischer Gewerkschaften und mexikanischer Arbeitsmigranten, den Work Songs der ehemaligen Sklaven und den Spirituals und Kampfliedern der Bürgerrechtsbewegung verankert war.

Namen wie Woody Guthrie, Pete Seeger, Joan Baez und Bob Dylan wurden 1963, als diese Folkbewegung in den USA in voller Blüte stand und auf den Festivals in Newport legendäre Auftritte gefeiert wurden, weltweit bekannt und begeisterten auch die im Rahmen der ABW organisierten Studenten. Auf Burg Waldeck, wo der Blick über den nationalen Horizont stets präsent war, da Reisen ins nähere wie fernere Ausland fester Bestandteil organisierter Fahrten waren, fiel die Idee, ein internationales Chansontreffen abzuhalten, auf fruchtbaren Boden. Die eigene Liedkultur wollte man aus den Trümmern der völkischen NS-Kulturpolitik bergen, indem etwa durch klassische Dichtkunst inspirierte Volkslieder entstanden oder Chansons mit Texten von Kurt Tucholsky, Erich Mühsam oder Walter Mehring zur Aufführung gebracht wurden. Der ambitionierte Plan wurde schließlich von den ABW-Mitgliedern Diethart Kerbs, Peter Rohland und Jürgen Kahle in die Tat umgesetzt. Rolf Gekeler kam später hinzu, um den 1966 verstorbenen, selbst mit einem reichhaltigen Repertoire insbesondere jiddischer Lieder auftretenden Rohland bei Organisation und Moderation der Veranstaltungen zu ersetzen.

Fluß in unwegsamem Gelände - Foto: © 2013 by Schattenblick

Das Baybachtal unterhalb der Burg Waldeck
Foto: © 2013 by Schattenblick

So fand zu Pfingsten 1964 unter der Beteiligung von 400 Besucherinnen und Besuchern das Festival "Chanson Folklore International - Junge Europäer singen" statt. In seiner Eröffnungsrede erklärte Diethart Kerbs, der in Tübingen bei Ernst Bloch studierte und sich später als Politikwissenschaftler insbesondere um die Tradition der Arbeiterfotografie verdient machte, das Ziel des Unterfangens:

"Wir fanden, dass eine bestimmte Art von Musik, für die wir eine ganz besondere Vorliebe haben, in Deutschland längst noch nicht genug beachtet und gepflegt wird. Wir meinen das Chanson, das Lied, den Bänkel-Song, die unverkitschte Volksmusik. Wir haben uns gefragt, warum wir in unseren Breiten keinen Georges Brassens oder Yves Montand, keinen Pete Seeger und keine Joan Baez haben. Wir möchten gerne herausfinden, welche Möglichkeiten das Chanson bei uns hat oder haben könnte." [2]

Auf diesem Festival hatte Franz-Josef Degenhardt seinen ersten öffentlichen Auftritt, Reinhard Mey startete hier seine Karriere, Dieter Süverkrüp spitzte die Feder, um den deutschen Spießer musikalisch zu karikieren, US-Folksongs wurden ebenso dargeboten wie Lieder gegen den Atomkrieg, die die stimmgewaltige, aus der Ostermarsch-Bewegung hervorgegange Fasia Jansen vortrug. Kompositionen des damals weithin unbekannten Mikis Theodorakis gelangten zur Aufführung, Skifflemusik, südafrikanische und lateinamerikanische Songs, Vagantenlieder nach Francois Villon oder Kampflieder der 48er-Revolution erweiterten die stilistische wie inhaltliche Vielfalt des Programms. Die Zwillingsbrüder Hein und Oss Kröher, die zu den Initiatoren des Festivals gehörten, präsentierten Arbeiterlieder, Lieder des Vormärzes vom Hambacher Fest, Partisanenlieder wie auch Seemanns- und Cowboysongs. Es wurden Seminare rund ums Thema des internationalen und politischen Liedes abgehalten, so daß die Veranstaltung von Anfang an auf dem gehobenen Niveau eines nicht nur dem Musikgenuß vorbehaltenen Ereignisses angesiedelt war. Ein wichtiges Thema dabei war, sich über die Kategorien "Chanson" und "Folkore" zu einigen.

Die Initiatoren des Festivals versuchten von Anbeginn an erfolgreich, öffentlich-rechtliche Sender für das Ereignis zu interessieren. Was vor allem der Finanzierung dienen sollte, trug erheblich zur Breitenwirkung der Konzerte auf Burg Waldeck bei. Künstler wie Franz-Josef Degenhardt, Hannes Wader, Walter Mossmann und Hanns Dieter Hüsch, aber auch Katja Ebstein verdanken ihre Bekanntheit zu einem guten Teil den Auftritten auf der Waldeck, wie sich überhaupt ein neues Verständnis für deutschsprachiges Liedgut jenseits von Schlagermusik und Heimatliedern breitmachte. Wem das deutschsprachige Lied durch die NS-Herrschaft unrettbar kontaminiert erschien, der konnte im Aufbruch der 60er Jahre neuen Mut zum Singen fassen, war die Überwindung faschistischen, rassistischen und nationalistischen Gedankenguts doch wesentliches und inhaltlich bestimmendes Motiv dieses Neubeginns. Man bediente sich bewußt von den Nazis verfemter Lieder und Weisen aus dem Repertoire revolutionärer Mobilisierung wie jüdischer oder ziganistischer Kultur. Es wurde großer Wert auf die inhaltliche Reflexion der Liedtexte gelegt, sie waren im besten Sinne musikalischer Kommentar zu den Widersprüchen der bürgerlichen und kapitalistischen Vergesellschaftung. So ist die musikgeschichtliche Bedeutung der Burg-Waldeck-Festivals untrennbar verbunden mit einer Politisierung der Jugend, deren Verlauf sich in den sechs historischen Pfingstreffen wie in einem kulturellen Mikrokosmos weltbewegender Entwicklungen abbildet.

1967 wurden die Lieder radikaler, und der Auftritt des politischen Dichters Erich Fried dokumentierte die anwachsende Bedeutung der kritischen Text- und Debattenkultur. Gleichzeitig stießen in diesem Jahr immer mehr Intellektuelle und Musikbegeisterte aus den Subkulturen der radikalen, von Drogenerfahrungen, Aussteigerträumen und sozialrevolutionärem Elan beflügelten Jugend zur stetig anwachsenden Schar des nach Burg Waldeck strömenden Publikums. Dem Vordringen zu neuen Ufern avantgardistischer Kunst und Ideen folgte eine ausschließlich kommerziellen Interessen verpflichtete Kulturindustrie auf dem Fuß. Deren wachsender Einfluß beschränkte sich nicht darauf, daß Plattenproduzenten auf der Waldeck neue Musikerinnen und Musiker verpflichteten, sondern führte zur kommerziellen Vereinnahmung des linken Protestes, noch bevor dieser seine ganze gesellschaftsverändernde Kraft entfalten konnte. Signifikant für diese Entwicklung war die auf Burg Waldeck geführte Diskussion über den Begriff des "Protestsongs", der in Anbetracht großer Verkaufszahlen sogenannter Protestsänger in den USA wie der Erfolge ihrer hitparadentauglichen Klone in der Bundesrepublik - man denke an Freddy Quinns "Hundert Mann und ein Befehl", gesungen nach der Melodie der militaristischen Hymne "The Ballad of the Green Berets", doch versehen mit einem kriegskritisch wirkenden Text - bei radikalen Intellektuellen zusehends in Verruf geriet. Aus diesem Grund hatte man sich für 1967 auf das Motto "Das engagierte Lied" geeinigt.

Diskussion auf der Bühne - Foto: © By Mirdsson2 (Own work) CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0, via Wikimedia Commons

Chaotische Szene auf der Bühne während des Burg-Waldeck-Festivals 1968
Foto: © By Mirdsson2 (Own work) CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0, via Wikimedia Commons

Doch bloßes Engagement sollte im epochemachenden Jahr 1968 nicht mehr ausreichen. Vor dem Hintergrund des von den USA immer brutaler geführten Vietnamkriegs und der durch die Notstandsgesetzgebung mit potentiell diktatorischen Vollmachten ausgestatteten Staatsgewalt, die von ehemals bekennenden Nazis in höchsten Positionen beherrscht wurde, sowie einem sich in antikommunistischer Aggression absichernden Kapitalismus erreichte die Radikalisierung der studentischen Jugend auch diesen entlegenen Teil der Bundesrepublik. War das Festival dieses Jahres unter dem Titel "Lied '68" schwerpunktmäßig dem US-amerikanischen Protestsong gewidmet, so mußten sich die deutschsprachigen Liedermacher einige Kritik von Mitgliederinnen und Mitgliedern des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) anhören. Während Phil Ochs, der politisch deutlich integrer und aussagekräftiger als Bob Dylan war, und Odetta, die in der Bürgerrechtsbewegung groß wurde, ihre Auftritte unbeeinträchtigt von Störungen absolvieren konnten, wurde an anderer Stelle heftig über die politische Relevanz der dargebotenen Kunst und Kultur gestritten.

So fand das letzte und mit 6000 Besucherinnen und Besuchern fast überfüllte Festival der 1964 begonnenen Reihe 1969 nicht mehr unter der Leitung der ABW statt, sondern wurde von einer Projektgruppe organisiert, in der bekannte Mitglieder der politischen wie kulturellen Gegenbewegung den Ton angaben. Die Internationalen Essener Songtage im September 1968 waren das Ereignis der deutschen Rock- wie Liedermacherszene gewesen, und sie strahlten auch auf die Waldeck aus. Ihr Initiator, der Impresario, Allround-Manager und Politaktivist Rolf-Ulrich Kaiser, gehörte der Projektgruppe an und sorgte dafür, daß Musikgruppen aus der neuen Subkultur des sogenannten Underground wie Tangerine Dream oder Guru Guru im Hunsrück Hörproben aus dem Kosmos psychedelischer Klangwelten verabreichten. Zwar sollte es insgesamt weniger um Musik und mehr um die Erarbeitung politischer Positionen gehen, doch die Agitation konnte nur fragmentarisch gelingen. Zum einen war das Publikum auch auf Unterhaltung aus, zum andern hagelte es Kritik von einer linken Seite, der die Waldeck insgesamt zu sehr auf Kunstgenuß ausgerichtet war, als daß man ihre Festivals überhaupt in den revolutionären Aufbruch der Zeit einbeziehen sollte. Die Parole, die Gitarren wegzustellen und statt dessen zu diskutieren, stieß nur auf bedingte Gegenliebe, wie auch avantgardistische Provokationen des Publikums nicht unbedingt so verstanden wurden, wie es die vermeintlich erreichte Höhe der Kritikfähigkeit erwarten ließ. Viele der zuvor regelmäßig aufgetretenen Liedermacherinnen und Liedermacher waren dem Ereignis ferngeblieben, entfaltete die brachiale Art und Weise, in der Hanns Dieter Hüsch im Vorjahr der politischen Irrelevanz bezichtigt worden war, doch abschreckende Wirkung auf alle, die das künstlerische Element der Darbietungen nicht geringer gewichten wollten als deren politische Aussage.

Weg am Abhang mit Halteseilen im Baybachtal - Foto: © 2013 by Schattenblick

Durch unwegsames Gelände zu neuen Ufern
Foto: © 2013 by Schattenblick

Einem Bericht von Klaus Theweleit aus dem Jahr 1969 [3] über das letzte Festival ist zu entnehmen, wie heftig die Gegensätze zwischen radikalem Anspruch, künstlerischem Interesse und Publikumserwartung damals aufeinanderprallten. Das damit eingeläutete Ende der historischen Burg-Waldeck-Festivals war allerdings den gesellschaftlichen Widersprüchen geschuldet, die in dieser Situation des Umbruchs mit aller Macht hervortraten, um in den Kämpfen der 70er Jahre bis auf den heutigen Tag so zu verebben, daß von dem hochgradig reflektierten Stand der Liedkultur wie von der politischen Radikalität der Jugend nur wenig übrigblieb. Das bräsige Spießertum, das sich wie Mehltau über die bundesrepublikanische Gesellschaft gelegt hatte, tritt in der sozialdarwinistischen Normalität der neoliberalen Gesellschaft lediglich in anderer Gestalt hervor. Die ihm zugrundeliegenden reaktionären und restaurativen Tendenzen erheben ihr Haupt aufs Neue, und das in qualifizierter, weil historische Schuld an Krieg und Massenvernichtung angeblich abgegoltener Form.

Der kulturelle Umbruch dieser euphorischen Zeit hatte im Hunsrück einen Ort gefunden, von dem aus wichtige Impulse nicht nur auf die westdeutsche Liederszene ausgehen sollten, sondern der viele Interessen der revolutionären Jugend berührte. Die paradigmatische Bedeutung der Burg-Waldeck-Festivals der 60er Jahre für die weitere Entwicklung des politischen Liedes wie des deutschsprachigen Folks überhaupt wird denn auch von Musikhistorikern und Kulturwissenschaftlern allgemein anerkannt. Ein halbes Jahrhundert später wird an die sozialrevolutionäre Blüte dieser Zeit, von der musikalischen Form her auf zwar ganz andere, ihrem rebellischen Geist jedoch durchaus adäquate Weise angeknüpft. Im Unterschied zu damals gibt es heute kaum mehr massenkompatible Medien, die radikales politisches Liedgut zumindest gelegentlich anspielen würden. Die Punkbands, HipHop-Combos und SingerSongwriter, die Themen zwischen Antirassismus, Antifaschismus, Antimilitarismus und Antikapitalismus auf durchaus gekonnte und kämpferische Art und Weise musikalisch artikulieren, müssen in den Weiten des Internet, den Freiräumen der aktivistischen Jugend und den Nischen des Kulturbetriebs eher gesucht werden, als daß das breite Publikum ohne weiteres auf sie stieße. Zudem ist die Musikindustrie kaum mehr dazu bereit, deutschsprachige gesellschaftskritische Texte zu vertreiben, mangelt es doch an der so allgegenwärtigen wie niemals genau zu bestimmenden Zielgruppe.

Die linke Protestkultur hat sich ausdifferenziert, wie der Soziologe sagen würde. Sie ist in autonome Zentren und Randgruppen ausgewandert, die im politischen Kampf für die Befreiung von Tier und Mensch, für Geschlechtergerechtigkeit, gegen die menschenfeindliche Flüchtlingsabwehr der EU, gegen neue Nazis und neue Kriege, gegen C02-Schleudern, Atomkraftwerke und Gentechnik, für Kommunismus, Sozialismus und Anarchismus stehen. Die sozialen Bewegungen von heute haben ebenso ihre Liederkultur wie die der 1960er Jahre, allerdings sind die Zeiten vorbei, in denen die gesellschaftliche Opposition so stark wäre, daß ihre kulturindustrielle Entschärfung not täte. Die auf Tonträgerverkauf und Formatradiorotation setzende deutschsprachige Popmusik in ihren diversen Varietäten gibt sich, wenn sie überhaupt auf irgendeine Weise gesellschaftlich Stellung bezieht, eher restaurativ im Sinne eines angeblich "neuen Patriotismus". 30 Jahre "kreative Zerstörung" haben nicht nur an der Zerstörung solidarischen Handelns, sondern auch eines dissidenten und selbstbestimmten kulturellen Bewußtseins ganze Arbeit geleistet.

Auf Burg Waldeck, die unverändert von der ABW als gemeinnützige internationale Jugendbegegnungsstätte mit musischem Schwerpunkt [4] weitergeführt wird, werden auch heute noch Liederfestivals abgehalten. Das alljährliche Internationale Liederfest zu Pfingsten, der Peter Rohland Singewettstreit im September und der Linke Liedersommer, der dieses Jahr zum fünften Mal vom 21. bis 23. Juni stattfand, sind Gelegenheiten, deutschsprachigen wie internationalen Folk als auch andere Musikformen und -stile inmitten der herbschönen Hunsrücker Waldlandschaft kennenzulernen. Die Veranstalterinnen und Veranstalter des Linken Liedersommers knüpfen ausdrücklich an die Burg-Waldeck-Festivals der 60er Jahre an, wenn auch in sehr viel kleinerem, dem insgesamt geschwächten Zustand der politischen Linken gemäßen Rahmen. Inwiefern dieser Anspruch erfüllt wird und wie das politische Lied unter den veränderten kulturellen Bedingungen der postmodernen Informationsgesellschaft fortlebt, soll Gegenstand weiterer Beiträge sein.

Panoramablick auf Felder und Wälder - Foto: © 2013 by Schattenblick

Der Hunsrück
Foto: © 2013 by Schattenblick


Fußnoten:
[1] http://www.youtube.com/watch?v=WKYvgS78Le0

[2] http://www.folker.de/200402/02waldeck.htm

[3] http://www.zeit.de/1969/38/antikultur-in-hunsrueck-einsamkeit/komplettansicht?print=true

[4] http://www.burg-waldeck.de/index.php


3. Juli 2013