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BERICHT/031: Hip-Hop Straßenklassenfest - Weigerung und Offensive ... (SB)


Wortmächtig um die Wirklichkeit kämpfen

Klassenfest gegen Staat und Kapital am 30. April 2016 in Hamburg


Am Vorabend des 1. Mai fand in Hamburg wieder ein Klassenfest besonderer Art statt. Hier trafen sich keine altersgrauen Ex-Schülerinnen und -Schüler, um den verwehten Träumen ihrer Jugend nachzutrauern, und auch keine Ehemaligen, die mal schauen wollen, wer im Rennen um die erfolgreichste Karrierebilanz vorne liegt. Die Klasse, die sich auf dem harten Asphalt vor dem S-Bahnhof Sternschanze einfindet, feiert eher den Bruch mit arrivierter und etablierter bürgerlicher Existenz. Das Hip Hop Open Air for the Lower Class war vor allem ein Treffen für Menschen, die sich in ihrer Gegnerschaft zu Staat und Kapital nicht nur einig sind, weil sie zur überflüssig gemachten Klasse der Lohnabhängigen und Versorgungsbedürftigen gehören. Ihnen geht es, wie die frenetische Zustimmung zu entsprechenden Ansagen auf der Bühne verrät, um einen radikal anderen Gesellschaftsentwurf, frei vom kapitalistischen Verwertungszwang als solchem und damit auch frei von Rassismus, Sozialchauvinismus und Faschismus.


Vier Rapper mit erhobener Faust - Foto: © 2016 by Schattenblick

Foto: © 2016 by Schattenblick

Die rund 1500 meist jugendlichen Konzertbesucherinnen und -besucher feiern denn auch so ausgelassen, wie es die Umstände einer Stadtmaschine zulassen, die vor allem den reibungslosen Verlauf des Geschäftslebens garantieren soll und kulturelle Ereignisse nichtkommerzieller Art bestenfalls als Feigenblatt des City-Marketings zuläßt. Nicht einmal das ist in diesem Fall möglich, sind die gegen die Polizei und die herrschende Ordnung gerichteten Parolen und Raps doch schlicht unverträglich für jede noch so avancierte Strategie kulturindustrieller Vereinnahmung. Das am Schanzenbahnhof anwesende Publikum setzt sich aus einem bunten Gemisch aus Linksradikalen, Punks, HipHoppern und anderen schon vom Auftreten und Aussehen her eher antagonistischen Menschen zusammen, wie sie die Straßen und Plätze sogenannter sozialer Brennpunkte überall im Land bevölkern.


Bühne mit Publikum davor - Foto: © 2016 by Schattenblick

Mit einfachen Mitteln und viel Engagement
Foto: © 2016 by Schattenblick

Wie einer der Organisatoren des Klassenfestes vom Bündnis Revolutionäre Linke Hamburg (RLH) gegenüber dem Schattenblick erklärt, geht es ihnen darum, Kultur wieder zu politisieren und für radikale Inhalte zu öffnen. Auf dem Klassenfest soll nicht nur Politik gemacht, sondern Kultur umsonst und draußen veranstaltet werden in klarer Opposition zum kommerziellen Mainstream, zu dem viele Menschen, wenn sie denn überhaupt wollten, schon aus Geldgründen keinen Zugang haben. Angemeldet als politische Kundgebung spielt sich das Klassenfest im staatlich nicht vorgesehenen Raum zwischen widerständiger Manifestation und Gegenkultur ab, was dem Organisator zufolge immer wieder zu Reibereien mit der Polizei führt. Nichtkommerziell im besten Sinne verdient niemand etwas an dem Ereignis, die Künstler treten umsonst auf, und was am Getränkeverkauf eingenommen wird, fließt zurück in die politische Arbeit und dabei insbesondere in die Finanzierung der Revolutionären 1. Mai-Demonstration.


Derbst mit Pyro - Foto: © 2016 by Schattenblick

A Capella für Ivana Hoffmann
Foto: © 2016 by Schattenblick

Angesprochen werden soll keine bestimmte Szene, sondern dem kommunistischen Selbstverständnis des RLH gemäß geht es um klassenkämpferische Inhalte und die Mobilisierung zum 1. Mai. Kunst und Kultur für die Klasse dienen dazu, Widersprüche aufzuzeigen in Gesellschaft wie Kulturbetrieb. Das politische Anliegen der Veranstalter richtet sich explizit gegen Krieg, Ausbeutung und Unterdrückung, wobei der internationalistische Kampf jeweils mit den linken und revolutionären Bewegungen anderer Länder geführt wird und nicht ganz allgemein mit den Völkern, wie ein verbreiteter Vorwurf der Kritiker internationalistischer Positionen lautet. Um nicht nur eine bestimmte Szene, sondern ein breites Spektrum der Hamburger Bevölkerung zu erreichen, befinden sich unter den auftretenden Künstlern neben explizit politischen Rappern auch Vertreter des sogenannten Sraßenraps, die sich mitunter Freiheiten sprachlicher Art herausnehmen, die in anderen linken Zusammenhängen eher nicht willkommen sind. Es geht jedoch darum, die Menschen mitzunehmen und nicht vor den Kopf zu stoßen, denn "wir sind viel zu wenige", so der Vertreter der Revolutionären Linken Hamburgs, die auch die 1. Mai-Demonstration am nächsten Tag organisiert.


Drei Rapper in Aktion - Fotos: © 2016 by Schattenblick Drei Rapper in Aktion - Fotos: © 2016 by Schattenblick Drei Rapper in Aktion - Fotos: © 2016 by Schattenblick

Shivan, King Kolera, Cemo62
Fotos: © 2016 by Schattenblick

Was die im Laufe des Abends anwachsende Begeisterungsfähigkeit des Publikums betrifft, so ist seine Zahl weniger entscheidend als die Tatsache, daß sich Menschen auf einem unwirtlichen Bahnhofsvorplatz unter permanentere Beobachtung durch die Polizei treffen, um ein Zeichen gegen die systematisch erzeugte Konkurrenz und Isolation der Marktsubjekte zu setzen. Es gibt zu wenige Orte gemeinsamen Austausches, die nicht durch konsumistische oder kulturindustrielle Zwecke definiert sind, schon aus diesem Grund verfügt ein solches Treffen über viel subversive Energie, die hinter den einsturzgefährdeten Fassaden der herrschenden Ordnung aufscheint. Daß man sich abarbeitet an einer starken Polizeipräsenz, kann in Anbetracht der Intransparenz und Abstraktheit dieser Verhältnisse nicht erstaunen, sind sie doch geradezu darauf angelegt, möglichen Widerstand ins Leere laufen zu lassen, ihm dort jedoch massiv entgegenzutreten, wo über die Unversöhnlichkeit des Klassengegensatzes kein Zweifel mehr besteht.


Auf der Bühne - Foto: © 2016 by Schattenblick

S. Castro und Derbst
Foto: © 2016 by Schattenblick

Die meist aus Hamburg und dabei häufig aus migrantischen Communities stammenden Rapper tun einiges, um die Menge in Bewegung zu setzen. Das gelingt desto besser, je fortgeschrittener die Stunde ist und je höher die Wellen der Stimmung des trink- und rauchfreudigen Publikums schlagen. "Alerta Antifascista", "Ganz Hamburg haßt die Polizei" und andere Parolen des Publikums wechseln sich mit Reimen auf der Bühne ab, die das alltägliche Elend kapitalistischer Metropolengesellschaften, Rassismus und Sexismus ebenso zum Thema haben wie imperialistische Kriege oder den Traum von einer befreiten Existenz, die sich nur anhand dessen schildern läßt, was alles nicht zur gesellschaftlichen Wirklichkeit gehört.


Auf der Bühne - Foto: © 2016 by Schattenblick Auf der Bühne - Foto: © 2016 by Schattenblick Auf der Bühne - Foto: © 2016 by Schattenblick

Delirium und Zynik, Reeperbahn Kareem, Disarstar
Fotos: © 2016 by Schattenblick

Ein LKW als Bühne, ein Soundsystem mit Laptop und ein paar Mikrofone bildeten die technische Infrastruktur einer Kunstform zwischen Musik und Sprechgesang, die niemals überkommen wirkt, so lange sie den Finger in die Wunde gesellschaftlicher Widersprüche legt. Daß HipHop nicht nur Unterhaltung, sondern ein Mobilisierungsinstrument ersten Ranges ist, zeigt sich, wenn das Publikum mit großer Begeisterung und lauter Stimme verstärkt, was auf der Bühne gerappt wird. "Das ist Streben-nach-Extremen-Mucke, Leben-tut-so-weh-Mucke, für die Klasse, das ist Gegen-das-System-Mucke ..." Refrains wie dieser des Hamburger Rappers Disarstar werden vielstimmig mitgesungen und verstärken das Gefühl, nicht nur im Spaß an Unterhaltung, sondern in kämpferischer Freude vereint zu sein. Ob nach Aufhebung des PKK-Verbots gerufen und zum Kampf gegen das Patriarchat aufgefordert wird, ob alltägliche Probleme und aus Armut erwachsene Nöte in eindrücklichen Reimen geschildert werden, politischer Protest und der Ruf nach grundlegender Veränderung sind die Konstanten eines musikalischen Ereignisses, das über ein Kulturevent deutlich hinausgeht.

Als Einstimmung für die tags darauf mit rund 2500 Teilnehmerinnen und Teilnehmern vom Bahnhof Altona bis ins Schanzenviertel verlaufende Revolutionäre 1. Mai-Demonstration hat das Klassenfest seinen Zweck allemal erfüllt. Was an diesem Kampftag laut und sichtbar gegen imperialistische Kriege und kapitalistische Ausbeutung, Rassismus, Flüchtlingsabwehr, Polizeigewalt wie nicht zuletzt Ausbeutung von Natur und Tier artikuliert wurde, ist nicht ohne einen fundamentalen Bruch mit dem kapitalistischen System zu erreichen, so das RLH in einer anschließenden Presseerklärung. Es bedarf keiner besonderen Information, sondern lediglich des wachen Blicks auf die Realität tagtäglicher Entfremdung in der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, um sich dieser Position ungeteilt anzuschließen.


Fronttransparent gegen Gentrifizierung - Foto: © 2016 by Schattenblick

Währenddessen in St. Pauli ...
Foto: © 2016 by Schattenblick


Parallel und doch zusammen - Demo gegen Gentrifizierung, Rassismus und Repression

Nach offizieller Lesart sind die Hamburger Stadtteile Sternschanze, St. Pauli und Altona keine "Gefahrengebiete" mehr. Nachdem diese Bezeichnung angesichts der damit verbundenen repressiven Optionen gegen die ansässige Bevölkerung bundesweit in die Kritik geraten war, hat der rot-grüne Senat der Hansestadt diese Klassifizierung wieder abgeschafft - und sie in einer Neuregelung des Polizeirechts in "Gefährliche Orte" umbenannt. Wie schon die sprachliche Nähe der Konzepte zeigt, geht es bei dieser vorgeblichen Reaktion auf die Einwände mitnichten um eine Preisgabe der zuvor in Anwendung gebrachten innovativen Kontroll- und Zugriffsbefugnisse in den betreffenden Quartieren. Dort hatten Probeläufe massiver Polizeipräsenz unter Einschränkungen des öffentlichen Raums, die nicht von ungefähr an Vorstufen eines Kriegsrechts erinnerten, für heftigen Unmut gesorgt.

Während Politik und Behörden darüber brüten dürften, wie sich der Zweck des Vorhabens verschleiern und dessen Akzeptanz verbessern ließe, steht die Frage im Raum, für wen diese Orte eigentlich gefährlich sein sollen. Gemeint ist sicher nicht jener ärmere Teil der Bevölkerung, der angesichts schwindender Einkünfte sowie steigender Mieten und Preise im Zuge der Gentrifizierung aus den betreffenden Stadtteilen verdrängt werden soll. Daß in Hamburg Tausende Sozialwohnungen für Familien, Obdachlose, Behinderte und Frauen in Frauenhäusern fehlen, hindert die ambitionierte Stadtplanung nicht daran, ungeachtet der Niederlage beim Olympia-Referendum um so energischer eine Standortpolitik der günstigen Flächenvergabe für Unternehmen, Steuersenkungen für die Reichen und Deregulierung voranzutreiben. Elbphilharmonie, Hafencity und Überseequartier zeugen vom unverminderten Drang der hanseatischen Eliten, Urbanität nach ihrem Gusto zu gestalten und dabei alle Hindernisse aus dem Feld zu schlagen.


Aufstellung an der Davidswache - Foto: © 2016 by Schattenblick

Polizeipräsenz an der Reeperbahn
Foto: © 2016 by Schattenblick

Im Sinne des Polizeirechts werden Stadtteile dann zu "Gefährlichen Orten", wenn sich Widerstand gegen die aufgezwungenen Ausgrenzungs- und Verdrängungsprozesse wie auch deren Sicherung durch die Staatsgewalt auf der Straße regt. So geschehen am Vorabend des 1. Mai, als sich rund 1800 Aktivistinnen und Aktivisten, so die konservative Schätzung der massiv aufmarschierten Polizei, auf einer angemeldeten Demonstration unter dem Motto "Breite Solidarität gegen Rassismus und Repression" in Bewegung setzten. Redebeiträge gegen Gentrifizierung, das Verbot der PKK und politische Prozesse nach § 129 b setzten Akzente im Spektrum der thematischen Stoßrichtung. Vom Schanzenviertel ging es über die Reeperbahn zum Hafen, wo sich die Menschen am Park Fiction beim "Golden Pudel Club", der im Februar durch ein Feuer beschädigt worden war, zu einer Abschlußkundgebung versammelten. Dort forderten die Demonstranten den Wiederaufbau des Szenelokals.


Demozug im Schanzenviertel - Foto: © 2016 by Schattenblick

Racial Profiling - nur eines von vielen Problemen
Foto: © 2016 by Schattenblick

Die Polizei hatte angekündigt, bei Ausschreitungen konsequent vorzugehen, und sogar eine Reiterstaffel im Einsatz gehalten. Kurz nach dem Start war der Marsch zunächst gestoppt worden, weil mehrere Dutzend Teilnehmer sich vermummt hatten, einige Demonstranten Pyrotechnik zündeten und Böller warfen. Es kam indessen von Anfang bis Ende zu keinen besonderen Zwischenfällen, wenn man einmal davon absieht, daß unterwegs in der Straße, in der Innensenator Andy Grote (SPD) wohnt, ironische Grußworte skandiert wurden. Unbekannte setzten an der Bernhard-Nocht-Straße einen Pkw der Bundeswehr in Brand, den die Feuerwehr schnell löschen konnte.


Plakate migrantischer Organisationen - Fotos: © 2016 by Schattenblick Plakate migrantischer Organisationen - Fotos: © 2016 by Schattenblick

Vielstimmiger Aufruf zum 1. Mai im Schanzenviertel
Fotos: © 2016 by Schattenblick

3. Mai 2016


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