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INTERVIEW/001: Achim Reichel - mein Leben, meine Musik (SB)


Plädoyer für das wehe Herz


Am 19. Oktober 2010 veranstaltete die Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg einen Generationentalk rund um das Thema Medien, Kreativität und Kommerz. Illustre Gäste waren u.a. Achim Reichel und Rudi Dolezal, der das neue Programm des Ausnahmekünstlers Solo mit Euch - mein Leben, meine Musik auf DVD produzierte, die natürlich auch Thema des Abends war. Nach der Talkrunde hatte der Schattenblick die Gelegenheit für ein Gespräch.

Achim Reichel -Foto: © 2010 by Schattenblick

Achim Reichel
Foto: © 2010 by Schattenblick

Schattenblick: Wenn man, wie Sie, seit 50 Jahren Musik macht, auf so unterschiedliche Weisen und in immer neuen Formaten, gibt es da einen roten Faden, irgendetwas, wo man sagen könnte, da ist eine Spur, der ich gefolgt bin?

Achim Reichel: Das ist eine ganz heikle Frage. Ich glaube, der rote Faden ist etwas, was man selber letztlich nur bedingt im Griff hat, in dem Sinne, daß einem Dinge einfallen, von denen man gar nicht genau weiß, wo die herkommen. Und daß man für diese Ideen trotzdem Partner finden konnte, die sagten: Oh ja, mach mal, finden wir gut! Und so ist es ja oft geschehen, daß ich Sachen veröffentlichen konnte, weil ich irgendwann schon mal Erfolg hatte und diese Strategen in der Plattenfirma sagten: Ja, laß den mal machen. Das versteht man zwar nicht immer so ganz, um welche Ecken der da so kommt, aber der hat uns schon ein paar Mal verblüfft. Und auch diese Chancen kriegt man dann nicht endlos, da kommt es dann wieder zurück zu dem Punkt. Oftmals hat man Ideen, die manch anderer als Schnapsidee abgetan hätte: Ja, wenn du mich fragst - ach, das meinst du ernst? - Oh, ja, nee, dann weiß ich auch nicht mehr. So in der Art.

Dann hängt das natürlich auch damit zusammen, in einer Stadt wie Hamburg seinen Lebensmittelpunkt zu haben. Hamburg war - ich sag das mal so - die Pressestadt in Deutschland und auch die Stadt, in der die meisten Schallplattenfirmen ansässig waren und in der auch so innovative Clubs waren wie beispielsweise der Star-Club. Wo dann plötzlich Künstler auf der Bühne standen, bei denen man dachte: Wo kommen die denn her? Was ist das denn? Das ist ja unglaublich! Das wußte ich gar nicht, daß es so was gibt, das haut mich ja völlig um, ich bin begeistert! Und das sind natürlich Dinge, wo ich immer ein paar Probleme habe zu sagen, das ist fast schicksalhaft. Auf jeden Fall, wenn du jetzt in Castrop-Rauxel an den Start gegangen wärst, wer weiß, wie lange du da nicht aus dem Tal gekommen wärst.

SB: Bochum wäre besser gewesen.

AR: Aber auch nicht das Bochum der 60er Jahre. Vielleicht in den 70ern...

Achim Reichel - Foto: © 2010 by Schattenblick

Foto: © 2010 by Schattenblick

SB: Ein Teil des neuen Programms ist die Wiederaufnahme alter Texte. Sie haben vorhin in der Veranstaltung gesagt, die sind 'zeitlos schön'. Gibt es daneben auch ein verändertes Verständnis, parallel zur zeitgeschichtlichen Entwicklung - wo die Texte plötzlich ganz neu sind und ganz aktuell?

AR: Ich bin der Meinung, der Mensch erlebt eigentlich immer wieder dieselben Dinge vor anderen zeitlichen Hintergründen. Und die anderen zeitlichen Hintergründe lassen dieselben Dinge unterschiedlich erscheinen. Insofern war es im Grunde genommen sehr interessant, bei diesen sogenannten Dichtern und Denkern Lebensabläufe und Zusammenhänge zu entdecken, wo du denkst, oh, das kannst du so, wie es ist, auf heute übertragen. Ich meine, der Zauberlehrling, das ist eine Metapher, die ist einfach unglaublich, wo man wirklich denkt, der kann doch nicht gewußt haben, daß wir eines Tages von Technik umstellt sind, wo wir uns fragen, verdammt noch mal, überlebt die Technik uns? Die tut, was sie will - Besen, Besen, seids gewesen! Das berührt mich sehr. Und wenn mich Dinge berühren, denn frag ich auch nicht mehr unbedingt, ob das richtig ist oder falsch. Wenn ich angerührt werde, dann ist mir das Beweis genug, daß da was drinsteckt. Und das ist auch eine emotionale Kompetenz, die man sich einfach irgendwann selber zugestehen muß. Es ist ja als Musiker nichts schöner, als wenn man einen Text liest und im Grunde genommen dabei die Musik schon ahnt. Und das ging mir gerade bei diesen Klassiker-Gedichten ganz oft so, daß ich dachte, da ist schon so eine Grundmelodie drin, da brauche ich nur noch die Gitarre zu nehmen und zu sagen: Ich muß mal eben die Akkorde dafür raussuchen - und dann ist das Ding fertig. Und das ist toll, wenn man so was bei sich entdeckt. Da hatte ich in den sechziger Jahren überhaupt noch nicht zu wagen gehofft, daß ich zu so etwas in der Lage wäre.

Achim Reichel - Foto: © 2010 by Schattenblick

Foto: © 2010 by Schattenblick

SB: Als Sie damals angefangen haben mit deutschen Texten, da war das ja auch alles andere als en vogue.

AR: Deutsch ist gleich Schlager, das war zu der Zeit so. Und das finde ich auch wieder interessant, sowohl an den alten Balladen als auch an unseren Volksliedern: Da ist das schwankende Gemüt, das wehe Herz, der Blues, sagt man heute. Das ist ja viel, viel mehr vertreten als in zeitgenössischen Texten, die schon alle geprägt sind von 'die Rundfunkstationen wollen nicht nachdenklich machen'. Wenn die Leute zu nachdenklich werden, dann schalten sie vielleicht um, weil sie irgendwie unruhig werden oder unzufrieden oder was. Das ist auch eins der Dinge, die ich an diesen alten Texten so toll finde: Die sind noch viel mehr beim Menschen und weniger beim System, beim Format-Denken, beim Ausrechnen des Konsumenten: 'Was müssen wir tun, damit der sagt, das will ich haben'.

SB: Das hieße aber auch, daß Kunst etwas erreichen kann, unterhalb der Schwelle von bloßen Worten oder von bloßer Information.

AR: Eine Information geht immer mehr in den Intellekt, wo man denkt: Sehe ich das auch so? Ach so, aha, ich verstehe, der meint das so und so. Während im Zusammenhang mit Musik ja immer eine emotionale Komponente dazukommt, sofern man dafür offen ist und Antennen hat. Oftmals schafft die Musik überhaupt erst die emotionale Grundlage, damit man Dinge für sich zuläßt: Also irgendwie bin ich jetzt so angerührt, hoffentlich merkt das keiner - hu, hu, hu - und daß der das jetzt auch noch sagt, ah ja, so kann man das ja auch mal sehen...

Achim Reichel - Foto: © 2010 by Schattenblick

Foto: © 2010 by Schattenblick SB: Sie haben 2007 in Zusammenarbeit mit dem NDR eine Sendung produziert, die hieß: "Jäger des verlorenen Liedes". Sind Sie - angesichts des neuen Programms - auch ein Jäger der verlorenen Sprache?

AR: Ja. Sicher.

SB: Und was für eine Sprache ist das, die uns verloren geht? Denn wir reden ja nach wie vor deutsch.

AR: Einfach das Bekenntnis dazu, daß man sich nicht hinter Fremdartigkeit versteckt und daß man sich eine Attitüde umhängt, von der man denkt, das müßte doch irgendwie interessant werden für die Leute, die das betrachten. Daß man also die Dinge beim Namen nennt, selbst wenn es in poetischer Verklärung geschieht. So spricht es die Phantasie doch anders an, als wenn es in einer fremden Sprache geschieht, wo man sich fragt, wie mag das jetzt wohl ein Engländer oder Amerikaner empfinden. Ich hatte irgendwann in den siebziger Jahren einfach so das Gefühl, wenn du es wirklich ernst meinst als Musiker, und der Sache eine Lebensperspektive geben willst, kommst du an deiner Muttersprache einfach nicht vorbei. Und das ist auch gut so, weil - es ist obendrein auch noch so: Die Engländer und die Amerikaner sind mit ihrer Sprache viel ausgesöhnter als wir.Ich sag den Leuten hierzulande immer: Könnt Ihr Euch überhaupt vorstellen, wie das ist, wenn ein Engländer oder Amerikaner, egal welchen Sender er in seinem Land anmacht - er versteht jeden Song? Von vorne bis hinten. Und nun mach mal hier 'nen Sender an, und da bist du froh, wenn du mal einen deutschen Song hörst.

SB: Obwohl das ja auch inzwischen etwas anders geworden ist.

AR: Ja, da hat sich ein bißchen was getan, das geb ich gerne zu. Aber es ist keineswegs zu einer Situation gelangt, wo man das Gefühl hat, okay, wir sind wieder gesund, wir sind wieder bei uns..


Achim Reichel - Foto: © 2010 by Schattenblick

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SB: Ist dieses sogenannte neue, deutsche Nationalbewußtsein -"Wir sind Deutschland!" - im Zusammenhang mit der Fußballweltmeisterschaft auch ein Motor gewesen für deutsche Songs, für deutsche Texte - wo einem nicht ganz wohl bei ist?

AR: Motor ist vielleicht zu viel gesagt, aber es war auf alle Fälle eine Brücke mehr. Ein kulturelles Selbstverständnis drückt sich ja nicht nur im Fußball aus. Das ist ja gerade das Ding. Man muß sich meines Erachtens schon die Mühe machen, auch in die Vergangenheit zu schauen und sich zu fragen: Was können wir mit rübernehmen in die Gegenwart, und was lassen wir lieber da hinten? Für mich ist eine Kultur etwas, was das Zeug haben könnte, über fragwürdige Werte der Zeit hinauszugehen. Ich habe wirklich den Eindruck, daß wir jetzt in einer Zeit leben, die nur von Verkauf, Unternehmertum, Konzerndenken bestimmt ist, in allen Bereichen. Und der normale Mensch, der sucht nach Werten. Er findet sie nur nicht mehr, weil er überall auf Werbung stößt. Nur noch: 'Ihr vertrauenswürdiger Versicherungsberater', 'Ihr vertrauenswürdiger Sowiesoberater', und alle wollen einem Produkte verkaufen. Man fragt sich ja, wo ist mein Leben eigentlich noch nicht umlauert von: 'Ich bin schlau, du bist doof! Ich verkauf' dir 'was, erzähl dir aber, ich will dir helfen, das merkst du gar nicht.' Das gipfelt dann in so zynischen Sätzen wie diesem von Helmut Thoma von RTL, der sagt: 'Der Köder soll dem Fisch schmecken und nicht dem Angler.' Das heißt, der Fisch ist doof, der Angler ist klug, also schmeiß ich dem Dummen 'nen Köder hin und wenn er ihm schmeckt, dann hab ich ihn. Aber ich selber würde ihn nicht fressen wollen. Also, das ist ganz böse. Und solche Parabeln, da gibt es ganz viele von, und das finde ich ganz furchtbar. Da kann ein Künstler mitspielen und sagen, ich liefer euch was, was in die Dekoration passt. Aber ich sage, ab und zu mal kann man auch mal anders singen. Das muß man sich trauen und sich herausnehmen können und dabei riskiert man möglicherweise, daß das eine oder andere Medium sagt, also, wenn du uns so kommst, dann findest du bei uns nicht mehr statt.

Achim Reichel - Foto: © 2010 by Schattenblick

Achim Reichel im Gespräch mit SB-Redakteurin
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SB: Ist das für junge Künstler heute schwieriger?

AR: Ich denke ja. Die Leute sind so apathisch satt, die sind so abgefüllt, daß sie ihren Zorn auf gewisse Dinge nicht mehr artikulieren. Die sinken wie so 'n Junkie hinten über und denken: Ach, denn leckt mich doch alle! Und das ist sehr schade.

SB: Und kann man, um noch einmal auf das neue Format zurückzukommen, mit seiner eigenen Geschichte Mut machen, einen Hinweis geben?

AR: Das weiß ich nicht. Man kann den Versuch unternehmen. Ob das gelingt, weiß ich nicht. Aber der Versuch ist es mir wert. Ich hab auch mit diesen jungen Leuten vor dem heutigen Abend ein Vorgespräch geführt und die waren am Anfang ganz schüchtern und zurückhaltend und respektsbezogen. Und dann hab ich gedacht, also jetzt erzählst du denen einfach, was dich dazu getrieben und veranlaßt hat und da merkte ich, plötzlich entdeckten die in mir auch einen Menschen, nicht nur so 'nen komischen, unerreichbaren Star. Ach, der redet ja eigentlich auf so eine Art und Weise, damit können wir auch was anfangen. Und das ist es mir wert. Ich bin mittlerweile in einem Alter, und das soll jetzt nicht großspurig klingen, daß ich mir in meinem Leben eine wirtschaftliche Unabhängigkeit habe erarbeiten können, die mich an einen Punkt brachte, wo ich mich fragte: Bist du jetzt, nur weil du Geld hast, glücklich, oder hast du noch immer irgendwelche Sachen, die dich fürchterlich nerven? Und es ist leider so, ich hab einfach festgestellt, das Geld als einzigen Götzen anzubeten und dafür alle seine Werte, seine Überzeugungen über Bord zu werfen, Hauptsache, ich komm an diese scheiß Kohle ran, das ist es nicht wert. Das macht einen zu einem Zyniker - so einer will ich nicht sein. Und denn gibt es immer Leute, die sagen mir dann, ja Achim, du kannst dir sowas ja auch leisten. Ich sag, ja okay, ich könnt's auch lassen. Ich könnte auch sagen: Leckt mich alle am Arsch, ich nehm jetzt meine Kohle und denn zieh ich mich aufs Land zurück oder züchte Karnickel oder so (lacht) - keine Ahnung. Ich hab mich halt dazu entschieden, den Leuten zu erzählen, was ich denke, und wenn die damit was anfangen können, dann freut es mich. Und die damit nichts anfangen können, die brauchen noch ein bißchen.

Achim Reichel - Foto: © 2010 by Schattenblick

Foto: © 2010 by Schattenblick SB: Was ist das für ein Publikum? Sind es alte Reichel-Fans oder auch...

AR: Dadurch, daß Reichel mal Englisch gesungen hat, dann fing er an, Shanties zu singen, dann hat er Balladen vertont, dann fing er an, mit Gegenwartslyrikern zu arbeiten, dann fing er mit Volksliedern an, dann hat er selber Texte gemacht - das sind schon sechs verschiedenen Konzepte, wo jedes Mal Leute ausgestiegen sind, die sagten: Och, jetzt macht er was anderes, das ist aber schade, das war doch vorher gerade so schön. Aber in dem Moment sind auch immer andere dazu gekommen, die sagten: Wow, um welche Ecke kommt der denn? Das ist ja super! Und insofern - ich habe nicht den Anspruch, es allen recht machen zu wollen, ich habe eher den Anspruch, so was ähnliches zu transportieren wie: Hey, ich richte mich danach, wo ich meine, daß mein Herz schlägt. Und oftmals habe ich das einfach gemacht. Und meistens hat es funktioniert. Dafür bin ich meinem Glück, oder was auch immer, sehr dankbar, das muß ich sagen. Man kommt da ganz komisch drauf zwischendurch, daß man denkt, womit hast du das verdient, was bist denn du für einer? Das ist einerseits 'ne gewisse Demut, - ich weiß, das klingt jetzt etwas verschroben - weil ich manchmal denke: Sag mal, wer oder was hilft dir eigentlich? Wie kommst du da eigentlich zu? Wieso machst du das einfach und das funktioniert auch noch, obwohl das doch eigentlich gegen den Mainstream oder gegen die Erfolgsprinzipien geht? Das bekräftigt mich und das macht mich auch irgendwie dankbar.

SB: Was ist der Unterschied zwischen einem Volkslied und einem Volxlied?

AR: Da ist eigentlich überhaupt gar kein Unterschied, das ist nur der Hinweis darauf, daß man, genau wie in der Grammatik, auch ein Lied ganz anders singen kann. Für die Grammatik gibt es Regeln, meint man, und es gehört sich nicht, dagegen zu verstoßen. Aber mir kann keiner erzählen, daß Volkslieder nur auf eine Art und Weise interpretiert werden sollten. Volkslieder sollten sich, nach meiner Überzeugung, vor dem sich verändernden zeitlichen Hintergrund mit verändern. Das heißt, eine zeitgemäße Sicht macht aus einem Volkslied halt ein 'Volxlied'. Das ist 'ne kleine Spielerei. Es gibt ja Leute, die kommen an und sagen: Aber so gehören die ja gar nicht. Und dann sage ich: Hey, woher weißt du eigentlich, wie die gehören? Als die erfunden wurden, da gab es keine Schallplatten, da gab es keinen Strom, da gab es kein Radio. Da gab es eigentlich gar nichts, was uns authentisch belegen könnte, daß die so und nicht anders gehören. Das heißt, die haben immer, um leben zu können, auch die Zeit dafür gebraucht. Und die Zeit muß man dem Volkslied einverleiben, das nehm ich mir einfach heraus. Vernagelte Traditionalisten verstehen das eben nicht. Aber, das sagte ich ja schon, man kann es nicht allen recht machen.

Achim Reichel -Foto: © 2010 by Schattenblick

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SB: Können Sie unseren Lesern etwas zu der Tradition des ,Storytelling', die dem neuen Format zugrunde liegt, sagen? Was ist das für eine Tradition?

AR: Wir sind ja in einer Zeit, wo das wirkliche Leben oftmals einer idealisierten Sichtweise geopfert wird. Es wird alles so zurechterfunden, daß der Konsument, "das ausgerechnete Wesen", es mag. Und ich hab einfach gesagt: Hey, das, was du da erzählst, das ist tatsächlich dein Leben, das hast du tatsächlich so erlebt. Da ist nichts dazu erfunden und das ist gerade deswegen um so phantastischer. Also keine Angst vor dem Leben, das kann mir verdammt interessante Situationen liefern. Und versuche bloß nicht, der Künstlichkeit, dem Image, dem Marketing, der Schlauheit so auf den Leim zu gehen, daß du anfängst, danach dein Leben zu bestimmen.

SB: Aber dann wäre 'Storytelling' ja fast schon wieder der falsche Begriff. Denn es sind ja keine Geschichten im Sinne von Erfindungen, oder?

AR: Es sind einfach nur wahre Geschichten. Wer sagt, daß 'Stories' immer unwahr sein müssen? Es gibt halt auch wahre 'Stories'.

SB: Und gibt es im englischsprachigen Raum eine Tradition, weswegen das so heißt?

AR: Nein, ich sehe da keine - ich bin da eher dem Plattdeutschen nahe - vertell, vertell, tell the story - eher so.

SB: Das Plattdeutsche ist ja ziemlich nahe am Englischen.

AR: Eben. Ich kann verstehen, daß die Leute oft nach eindeutig interpretierbaren Richtwerten suchen und sie gerne hätten. Aber eigentlich ist das alles ein einziges Fließen. Das ist heute so und morgen ist es vorbei und dann wird es wieder ein bißchen anders gesehen. Man hält an seinem Leben und seiner Sichtweise fest und stellt fest, okay, auch das ist nicht immer gleich. Wir werden älter. Wir waren früher mal ganz naiv und haben gedacht, komm mal und sing: la-la-lala-la-la. Und wenn ich nun denken würde: Jetzt sing ich mein Leben lang la-la-lala-la-la und alle müssten glücklich sein, dann hätte ich wahrscheinlich spätestens nach 10 Jahren gemerkt, daß ich mir vorkomme wie ein Idiot. Aber ich bin nun mal nicht mehr ein naiver Blödkopp, ich habe mittlerweile ein paar anspruchsvollere Gedanken im Kopf oder reifere, oder wie man das auch immer nennen will. Soll ich das ignorieren? Soll ich den Leuten was vormachen, nur weil ich denke, sie wollen jetzt immer sowas haben? Das ist ja das Ding, Marketing und Produktdenken ist ja so: 'Unsere Zielgruppe erwartet das von uns, also liefern wir ihnen das - solange, bis sie 's ablehnen. Dann müssen wir umdenken.'

Achim Reichel -Foto: © 2010 by Schattenblick

Foto: © 2010 by Schattenblick

Ich bin einfach nur meinem eigenen Denken und Umdenken gefolgt. Ich bin ja Sternbild Wassermann, das ist ja auch noch so 'n Ding. Man sagt ja dem Wassermann nach, er wäre oftmals seiner Zeit voraus und insofern auch manchmal mit seinen Dingen, die er macht oder vertritt, zu früh, so daß das erst ein paar Jahre später erkannt wird: 'Ach, das hat er gemacht, ja, ja, jetzt verstehe ich. Damals war das unpassend, aber jetzt passt es ins Bild.' Ich will gar nicht schlauer sein als diese ganzen Marktstrategen, ich bin da voller Argwohn. Wenn Leute nur noch auskalkuliert und ausgerechnet werden, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, dann hab ich einen schalen Geschmack im Mund. Ich mag das nicht.

SB: Und kann Musik, wie Sie sie machen, dagegen anstinken?

AR: Das ist mir völlig egal. Das frag' ich mich gar nicht. Ich frag' mich einfach nur: Mag ich das? Ich will das, was ich transportiere, auch mögen. Weil, wenn ich 's nicht mögen würde, dann würde ich mir wie ein Heuchler vorkommen. Und ich wiederhole es immer wieder - ich werde es nie allen recht machen können. Aber ich werde mich deswegen auch nicht irgendwie minderwertig fühlen. Die Menschen sind so widersprüchlich, so vielfältig, die kann man nicht alle über einen Kamm scheren. Da tut man denen was an. Deswegen bin ich auch mit mir so offen, daß ich denke, wenn ich das so sehe, und wenn mich das begeistert und berührt und mit Enthusiasmus erfüllt, dann ist es das für mich. Und die, die das nachvollziehen können, die können sich daran erfreuen und die, die das nicht nachvollziehen können, die sollen doch nach was anderem Ausschau halten.

SB: Alles klar. Ganz herzlichen Dank für das Gespräch.

Cover der neuen DVD von Achim Reichel -Foto: © 2010 by Schattenblick

Die neue DVD
Foto: © 2010 by Schattenblick

22. Oktober 2010