Schattenblick →INFOPOOL →MUSIK → REPORT

INTERVIEW/034: Grup Yorum - Unser Gesicht ..., Ibrahim Gökcek im Gespräch (SB)


Viele Sprachen, eine sozialistische Praxis

Interview in der Arena Oberhausen am 28. Juni 2014



Ibrahim Gökcek spielt E-Bass und gehört Grup Yorum seit 2005 an. Obwohl die Gruppe unmittelbar nach dem mehr als fünfstündigen Konzertabend in der Arena Oberhausen [1] in die Türkei aufbrach, um dort am nächsten Tag ein Konzert in Unterstützung politisch verfolgter Anwältinnen und Anwälte abzuhalten, erklärte sich der Aktivist und Musiker bereit, dem Schattenblick einige Fragen zum Selbstverständnis dieser großen Stimme der Linken in der Türkei zu beantworten.

Im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Ibrahim Gökcek
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Ibrahim, war das Konzert heute für euch eine politische Kundgebung oder doch eher ein Musikevent?

Ibrahim Gökcek: Wir machen politische, revolutionäre Musik. Unsere Konzerte sind nicht bloß Musik, sondern Versammlung und Aktion zugleich. Das gilt übrigens für alle unsere Konzerte. Selbst wenn wir in einem kleinen anatolischen Städtchen auftreten, steht unsere revolutionäre Botschaft im Mittelpunkt. Es macht keinen Unterschied, ob wir hier in Deutschland oder in großen Konzerten in der Türkei auftreten. Unsere Musik ist immer mit einem politischen Inhalt verbunden. Dies ist der Schlüssel zum Verständnis unserer Musik.

SB: Versteht sich Grup Yorum als Teil der türkischen Linken mit einem basissozialistischen Konzept?

IG: Wir sind Sozialisten, Revolutionäre, Marxisten, Leninisten. Das ist unsere politische Einstellung und der Grund, warum wir Konzerte geben und Lieder singen. Dabei spielt es keine Rolle, wo das geschieht. Es kann eine große Bühne, eine Straße oder auf dem Dach eines Traktors sein, egal wo, wir werden immer für die Sache des Sozialismus eintreten.

SB: In der Türkei erreichen die Grup Yorum-Konzerte zuweilen Zuschauerzahlen von 500.000 und mehr. Wie erklärst du dir diese ungeheure Resonanz?

IG: Grup Yorum gibt es jetzt schon seit 30 Jahren. Bis zum heutigen Tag werden wir mit großer Repression konfrontiert, aber ungeachtet dessen haben wir unseren Kampf, das, woran wir glauben, niemals aufgegeben. Mögen die Hindernisse noch so groß sein, nichts wird uns davon abhalten, Lieder zu singen, Musik zu komponieren oder Alben herauszubringen. Der Grund, warum unser Volk uns auf vielfältige Weise unterstützt, ist unsere Widerständigkeit. Wir bringen Hoffnung zum Volk und artikulieren seine Gefühle, Gedanken und Sehnsüchte. Und weil das so ist, nimmt unser Volk uns an und kommt, wie groß die Mühe auch ist, zu unseren Konzerten. Es werden immer mehr, riesige Menschenmengen bilden sich, und daher werden wir die Anzahl unserer Konzerte erhöhen und in dieser beschleunigten Form weitermachen.

SB: Im letzten Jahr fand in Oberhausen ebenfalls ein Grup Yorum-Konzert statt, aber nur mit kleiner Besetzung. Hatte das einen Grund?

IG: Gegen Selma Altin und Dilan Balci war ein Ausreiseverbot verhängt worden. Beide hatten mit einer Gruppe von Demonstranten vor dem Gebäude der Gerichtsmedizin protestiert, um die Leiche eines Märtyrers und gefallenen Revolutionärs, der sein Leben im Kampf gegen das autoritäre AKP-Regime verloren hatte, abzuholen. Die sterblichen Überreste sollten zu gegebener Zeit beerdigt werden. Die beiden wurden unter den Augen der Öffentlichkeit festgenommen und auf eine Polizeiwache gebracht. Die Mißhandlungen während des Verhörs waren so schwerwiegend, daß Selmas Trommelfell platzte, und Dilan bei dem Versuch, ihre Finger zu zerquetschen, der Arm gebrochen wurde. Es erging kein Haftbefehl gegen die beiden, aber ihnen wurde untersagt, das Land zu verlassen.

SB: Heute seid ihr mit großer Besetzung aufgetreten. Bedeutet das, daß Erdogan nicht mehr soviel Macht hat, um verhindern zu können, daß ihr in kompletter Stärke nach Deutschland ausgereist seid?

IG: Das lag daran, daß das Verbot aufgehoben werden mußte. Wir hatten dagegen protestiert und einen Antrag auf Aufhebung gestellt. Nach anderthalb Jahren wurde die Klage schließlich vor einem Zivilgericht verhandelt. Weil es für das Ausreiseverbot keine Rechtsgrundlage gab und das Gericht auch wegen unseres Widerstands nicht daran festhalten konnte, wurde die Verfügung aufgehoben. Außerdem waren wir zuvor einen Monat in den Hungerstreik getreten.

SB: Unter den Zuschauern waren heute sehr viele junge Menschen, die dem Eindruck nach auch politisiert sind bzw. sich für linke Politik interessieren. Für deutsche Verhältnisse ist das ziemlich ungewöhnlich. Gibt es in der Türkei eine ähnliche Entwicklung unter der Jugend?

IG: In unserem Land tritt der Zorn gegen den Faschismus noch deutlicher in Erscheinung. Wir haben Anfang Juni 2013 einen Volksaufstand erlebt. Millionen Menschen haben sich gegen den Faschismus mit Steinen und Stöcken in den Händen erhoben. Die Wut kommt dort stärker zum Vorschein, wo massive Unterdrückung und Repression herrschen. Wir haben uns davon überzeugen können, daß das Leben zum Beispiel in Deutschland sehr viel ruhiger ist. Auf den Straßen gibt es kaum Menschen. Der Kapitalismus übt hier einen sehr viel stärkeren Einfluß auf die Menschen aus. So gesehen ist die Situation in Deutschland ganz anders als in der Türkei oder mit ihr vergleichbaren Staaten.

Aber ist deswegen eine Revolution unmöglich? Natürlich nicht, denn was der Kapitalismus den Menschen geben kann, ist sehr begrenzt, im Grunde gar nichts. Wir glauben, wenn ein kritischer Punkt erreicht wird und die Begrenztheit des Systems ins Bewußtsein der Menschen rückt, wird auch hier in Deutschland vieles möglich sein. Was aber wäre machbar aus der aktuellen Position heraus? Aus unserer Sicht wären viele Dinge, die initiiert werden könnten, zum Beispiel Arbeit mit Jugendlichen, von zentraler Bedeutung. Menschen, die Kenntnisse über Machtverhältnisse haben, lassen sich nicht unterdrücken. Revolutionäre können in diesem Sinne Aufklärungsarbeit leisten und den jungen Menschen Mut machen, sich zu organisieren, um sich in diesen Kampf einzubringen. Die Jugend könnte über den Kapitalismus aufgeklärt werden, und darüber, daß Glück und Freiheit erst dann gewonnen werden können, wenn der Sozialismus erreicht wurde. Denn der Verstand der jungen Leute ist unverdorben und noch ganz frisch. Was richtig und falsch ist, findet bei ihnen mit Sicherheit Anklang. Marx sagt, daß das Sein das Bewußtsein bestimmt. Da heutzutage die Bedingungen des Kapitalismus vorherrschen, werden die Menschen entsprechend kapitalistisch geformt. Doch Revolutionäre, die gegen diese Unterjochung ankämpfen, können den Lauf der Dinge ändern.

Ibrahim Gökcek auf der Bühne mit Selma Altin - Foto: © 2014 by Schattenblick

Am E-Bass während des Konzerts in Oberhausen
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Fünf Mitglieder der Anatolischen Förderation sitzen in deutschen Gefängnissen, weil sie ein Grup-Yorum-Konzert organisiert haben. Ihnen wird zur Last gelegt, Geld für eine verbotene Partei gesammelt zu haben. Kommt es auch in der Türkei zu solchen Anklagen?

IG: Der türkische Staat geht in gleicher Weise vor. So wurden bei einem Konzert von Grup Yorum in Samsun vier Menschen lediglich dafür, daß sie das Event mitorganisiert hatten, festgenommen und für vier Jahre ins Gefängnis gesteckt. Der Imperialismus in Deutschland und der Türkei verfolgt die gleiche Strategie: Niemand soll gegen das System aufbegehren, niemand soll Protestaktionen machen, niemand soll sich organisieren, Lieder singen oder Konzerte geben, aber ansonsten können die Menschen machen, was sie wollen. Weil wir es jedoch gewagt haben, eine oppositionelle Bewegung aufzubauen, verbreiten sie Lügen über uns, um uns zu marginalisieren und zu zerreißen. Aber sie werden damit keinen Erfolg haben.

SB: Grup Yorum besteht aus vielen Musikern. Wie funktioniert ein so großer Betrieb, vor allem wenn Entscheidungen getroffen werden müssen? Wird kollektiv miteinander oder innerhalb einer Organisationsstruktur von oben nach unten entschieden?

IG: Bei uns gibt es keine Hierarchie. Die Aufgaben sind zwar verteilt, aber wenn eine Entscheidung getroffen werden muß, wird sie gemeinsam und kollektiv in der Gruppe besprochen.

SB: Grup Yorum existiert seit 30 Jahren. Gibt es heute noch aktive Gründungsmitglieder?

IG: Nein. Die aktuelle Formation ist am längsten zusammen in der Geschichte von Grup Yorum.

SB: Normalerweise übernehmen Profis die Organisation eines Konzerts, aber bei Grup Yorum leisten sehr viele Menschen freiwillige Arbeit. Welcher Geist steckt dahinter?

IG: Wir sind gegen Strukturen der Professionalität, weil es uns nicht um den Profit geht. Unsere Lieder sind für das Volk, und dazu gehören auch die Menschen in Europa und in den anderen Erdteilen, unabhängig davon, welche Sprachen sie sprechen oder in welchen Kulturen sie leben. Diese Verbundenheit mit den Menschen ist das besondere Merkmal unserer Musik.

SB: Kann man es als eine Art gelebter Sozialismus verstehen, wenn Menschen verschiedener Ethnien und Religionen und möglicherweise auch unterschiedlicher politischer Standpunkte an so einem Projekt arbeiten?

IG: Es geht darum, den Sozialismus, wo man lebt, zu verwirklichen. Wenn man für den Sozialismus kämpft, spiegelt sich das in der eigenen Praxis wider. Man zeigt den Menschen durch sein Leben eine Alternative auf, damit sie es verstehen. Wenn man nur darüber spricht, wird sich nichts verändern. Wir geben den Menschen mit unserem Kollektiv ein Beispiel dafür, wie man auch große Probleme bewältigen kann. Wenn Menschen zusammenströmen und sehen, daß man ein Konzert auch in dieser Größenordnung organisieren kann, bekommt das Ganze eine Signalwirkung. In der Türkei laufen im Augenblick eine Menge Projekte, wie zum Beispiel Stromerzeugung, Filmproduktion oder das Anlegen eines Volksgartens, um den Kollektivgedanken weiterzutragen. Das sind Projekte, die wir gemeinsam mit dem Volk und für das Volk durchführen.

SB: Ist das ein Ergebnis der vom Gezi-Park ausgehenden Bewegung?

IG: Wir haben den Kollektivgedanken immer schon verfolgt, nicht erst seit dem Gezi-Aufstand. So wurde beispielsweise unser Film [2] schon vor den Unruhen im Gezi-Park gedreht.

SB: Grup Yorum tritt in schlichter einheitlicher Kleidung auf. Steckt eine bestimmte Idee dahinter?

IG: Wir bekämpfen den Imperialismus, und um das zu verdeutlichen, haben wir eine angemessene Kleidung gewählt, die dies zum Ausdruck bringt.

SB: Grup Yorum hat nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern Konzerte gegeben. Beschränkt sich das Interesse auf die migrantische, türkischstämmige Community oder gab es auch anderweitig Resonanz aus Deutschland bzw. Europa?

IG: Früher war der Austausch begrenzt, aber inzwischen entwickeln sich die Beziehungen gut. So wurden wir zum Beispiel im Januar letzten Jahres zum Gedenken an Rosa Luxemburg nach Berlin eingeladen und haben dort ein Konzert gegeben. Im August letzten Jahres erhielten wir von der Kommunistischen Partei Österreich eine Einladung nach Wien, wo jedes Jahr ein traditionelles Festival stattfindet.

SB: Heute sind auf dem Konzert drei deutschsprachige Musiker aufgetreten. Ist das ein Zeichen dafür, daß Grup Yorum sich im Sprachrepertoire weiter öffnen möchte?

IG: Das ist ja gerade unsere Besonderheit, daß Grup Yorum Lieder in allen Sprachen Anatoliens und darüber hinaus auch in Sprachen anderer Völker singt. Neben türkisch, kurdisch, arabisch, lasisch und tscherkessisch singen wir auch in Spanisch und Griechisch. Das Lied Ciao Bella tragen wir nicht nur auf Italienisch, sondern manchmal auch in deutscher Sprache vor. Wir bemühen uns sogar, Liedgut aus dem Russischen in unser Repertoire aufzunehmen. Uns interessieren die verschiedensten Sprachen, die auf der Welt gesprochen werden, bis hin zum Philippinischen, auch wenn das noch ein Fernziel ist.

SB: Ein Zuschauer hat mir gegenüber erwähnt, daß im Publikum auch viele Kemalisten wären. Gab es so etwas früher auch schon oder ist es eine Folge der gemeinsamen Ausrichtung gegen Erdogan, wie sie bei den Protesten im Gezi-Park und jetzt kürzlich auf der Gegenkundgebung in Köln ihren Ausdruck fand?

IG: Unter den Besuchern unserer Konzerte waren früher immer auch Kemalisten gewesen. Alle sind gekommen, die nicht Faschisten und Feinde des Volkes waren, und haben sich die türkischsprachigen Lieder von Grup Yorum angehört. Aber es gibt auch Leute, die unter dem Deckmantel des Kemalismus den Revolutionären feindlich gesonnen sind. Für sie haben wir in unseren Konzerten natürlich keinen Platz.

SB: Wurden auf dem Konzert spezielle Botschaften an die in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten mit türkischen Wurzeln gerichtet?

IG: In einem unserer Lieder zum Ende des Konzertes heißt es: Fürchtet den Imperialismus nicht. Nur weil die Imperialisten Angst vor dem Volk haben, greifen sie so rücksichtslos durch. Um diese Probleme zu überwinden, muß eine Organisationsstruktur geschaffen werden.

SB: Ibrahim, vielen Dank für das Gespräch

Veranstaltungsankündigung - Foto: © 2014 by Schattenblick

Grafik: © 2014 by Grup Yorum


Fußnoten:


[1] BERICHT/023: Grup Yorum - musikvereinte Linke (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0023.html

[2] "F Tipi Film" wurde Ende 2012 uraufgeführt. In dem von Grup Yorum initiierten Film setzen sich neun Regisseure mit dem System der Typ-F-Hochsicherheitsgefängnisse und den Schicksalen einzelner Gefangener in Isolationshaft auseinander.

11. Juli 2014