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NACHLESE/022: 50 Jahre später ... The Beatles - "The White Album" (SB)


I told you about Strawberry Fields
You know the place where nothing is real
Well here's another place you can go
Where everything flows

The Beatles - Glass Onion


Als das Doppelalbum The Beatles am 22. November 1968 in die Plattenläden des Vereinigten Königreiches kam, hatte die Politisierung der aufbegehrenden Jugend bereits ihren revolutionären Klimax überschritten, gab aber noch viel Anlaß zu Protest und Diskussion. Die vier berühmten Popmusiker hatten eine ganz andere Konsequenz aus dem gesellschaftlichen Umbruch gezogen - sie nahmen im März und April 1968 an einem Kurs in Transzendentaler Meditation in einem Ashram im indischen Rishikesh teil. Dieses traditionell wichtige Zentrum des Hinduismus war zum Zielort zahlreicher europäischer und nordamerikanischer Hippies geworden, die sich mit psychedelischen Drogen in den inneren Kosmos geschossen hatten und nun versuchten, die dabei freigelegten Leerstellen mit Sinn zu füllen respektive die Sinnfrage zur praktischen Anwendung zu bringen. Insbesondere George Harrison wandte sich dem Hinduismus zu und blieb ihm zeitlebens bis zu seinem Tod im November 2001 verbunden.

Für die anderen drei Musiker war der Ausflug in das spirituelle Zentrum einer alten Religion, die im Zuge der Hippiebewegung neue Attraktivität erhalten hatte, eher Episode. Dennoch löste die Zeit in Indien einen kreativen Schub aus, der in viereinhalb Monaten von Anfang Juni bis Mitte Oktober in den Londoner Abbey Road Studios in Form eines Doppelalbums Gestalt annahm. Der offizielle Titel des Albums lautete schlicht The Beatles, als sollte mit ihm die Summe des bisher erreichten Standes an musikalischer Schaffenskraft gezogen werden.

Den Aufnahmesessions entsprang auch der als Single veröffentlichte Song Hey Jude. Er hatte die für ein üblicherweise auf Hitformat getrimmtes Stück ungewöhnliche Länge von über sieben Minuten und war John Lennons Sohn Julian gewidmet, der die Trennung seines Vaters von seiner Mutter Cynthia Lennon zu verarbeiten hatte. Paul McCartney soll ihn auf dem Weg zu einem Besuch bei Julian und Cynthia verfaßt haben. Weder die überdimensionale Dauer der 45er-Plattenseite A noch der hochemotionale, konventionelle ästhetische Maßstäbe sprengende Gesang auf Hey Jude konnte verhindern, daß das Stück vor 50 Jahren ein großer Hit wurde. Damals waren die Erwartungen an Unterhaltungsmusik längst nicht so vorformatiert wie heute, so daß Singles ihren Weg in die Charts fanden, die heute nur in Spezialsendungen für ausgemachte Musikfans gespielt würden.

Das in schlichtem Weiß gehaltene LP-Cover mit der kleinen Aufschrift The Beatles kam in dieser Ära, in der bunte Plattenhüllen mit aufregenden Zeichnungen oder stark verfremdeten Fotografien die Regel waren, einem Statement für ästhetischen Minimalismus gleich. Ein Jahr zuvor hatte Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band mit einer figürlichen Vielfalt auf dem Albumcover aufgewartet, die man sich lange anschauen konnte und doch immer noch etwas Neues entdeckte. Nun war das Gegenteil der Fall, die Hülle fügte sich zwar bestens in modern designte Wohnlandschaften ein, forderte ansonsten aber dazu auf, der Musik auf den zwei Schallplatten die ganze Aufmerksamkeit zu schenken.

Über dieses Kaleidoskop formal so vielseitiger wie emotional berührender Songs ließe sich eine Abhandlung von mehreren hundert Seiten schreiben, wollte man den einzelnen Stücken gerecht werden, die Hintergründe ihrer textlichen Gestaltung erklären und darüberhinaus ihrer Relevanz für die Geschichte der Popmusik nachspüren. Genannt seien an dieser Stelle nur einige herausragende Stücke, die die Bedeutung der Gruppe trotz ihrer nicht nur bei diesem Album kritisierten politischen Abstinenz für die popkulturelle Entwicklung unterstreichen.

Bezeichnenderweise stieß das von McCartney verfaßte fröhliche Ob-La-Di, Ob-La-Da nicht nur bei John Lennon aufgrund seiner Oberflächlichkeit auf Ablehnung, auch viele Fans hielten es für den größten Durchhänger des Albums. Neigte der begnadete Komponist McCartney auch später immer wieder zur kommerziellen Eingängigkeit eines ausgesprochenen Hitproduzenten, so versuchte Lennon in den von ihm geprägten Stücken, die Authentizität existenziellen Schmerzes stimmlich wie instrumental musikalisch umzusetzen. Kompositionen aus seiner Feder wie I'm So Tired, Julia, Yer Blues oder Cry Baby Cry überzeugen als Grenzgänge an den Abgründen unausgeloteten Schmerzes, die Lennon und Yoko Ono später zu Klienten Arthur Janovs gemacht haben, dem Erfinder der sogenannten Urschrei-Therapie. Happiness Is a Warm Gun wiederum bringt die Verwurzelung Lennons im Rhythm & Blues hervor und kann als Beleg für die musikalische Versiertheit der Beatles auf dem Gipfel ihres gemeinsamen Könnens, auf dem bereits die Vorzeichen des Bruches zu erkennen waren, verstanden werden.

Paul McCartneys Vielfalt zeigt sich darin, daß er Rock 'n' Roll - Back in the U.S.S.R. - ebenso beherrschte wie Folkiges - Blackbird, Mother Nature's Son - oder Avantgardistisches - Helter Skelter. Dieser Titel wurde durch Charles Manson und seine mörderische Gang praktisch zweckentfremdet, und tatsächlich ist er von einer aggressiven Wucht bestimmt, zu der sich die Beatles eher selten aufrafften.

Der Leadgitarrist George Harrison hat mit dem epischen Klassiker While My Guitar Gently Weeps, der Ballade Long, Long, Long und dem Rockstück Savoy Truffle seinerseits essentielle Beiträge zum hochentwickelten Sound des Albums geleistet, während Drummer Ringo Starr mit Don't Pass Me By seine erste Eigenkomposition zum bisherigen Gesamtwerk der Beatles beisteuerte. Die experimentelle Klangcollage Revolution No. 9 ging zwar als das unbeliebteste Stück, das die Beatles jemals aufnahmen, in die Geschichte der Band ein, es ist aber auch ein Dokument ihres Interesses an Grenzüberschreitungen wie derjenigen, sich inmitten des künstlerischen Welterfolgs für zwei Monate zum Meditieren nach Indien zu verabsentieren.

Das Weiße Album der Beatles ist aufgrund der von Anfang an breiten Rezeption und seiner vieldiskutierten Inhalte ein immer noch gut hörbares Stück komprimierte Zeit- und Kulturgeschichte. Heute meinen manche MusikkritikerInnen wie -konsumentInnen, den Beatles attestieren zu müssen, als Künstler und Musiker generell überbewertet zu werden. The Beatles kann wie nur wenige andere herausragende Alben der Popgeschichte für sich in Anspruch nehmen, die Stimmung der Zeit vor 50 Jahren auf globaler Ebene repräsentiert zu haben, gerade weil es vor musikalischen Ideen nur so sprüht und künstlerische Individualität wie gemeinsame Schaffenskraft der Beatles auf überzeugende Weise unter Beweis stellt.

21. November 2018


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