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FORSCHUNG/431: Dem Dunklen Universum auf der Spur (Sterne und Weltraum)


Sterne und Weltraum 8/10 - August 2010
Zeitschrift für Astronomie

Dem Dunklen Universum auf der Spur

Von Matthias Bartelmann und Matthias Steinmetz


Die allermeiste Materie im Universum entzieht sich unseren Blicken, weil sie nicht mit Licht in Wechselwirkung treten kann. Verschiedene Indizien weisen auf eine solche »Dunkle« Materie hin. Oder müssen wir stattdessen unsere Vorstellungen von der Schwerkraft revidieren? Die Spurensuche führt in fernste Winkel des Universums.


In Kürze
Die Schwerkraft der sichtbaren Materie reicht nicht aus, um die beobachtete Bewegung der Sterne und des Gases in Galaxien sowie die Dynamik und Röntgenstrahlung von Galaxienhaufen zu erklären - das ist seit 80 Jahren bekannt, und deshalb wird die Existenz Dunkler Materie postuliert.
Aus den beobachteten Strukturen der Hintergrundstrahlung konnte sich seit dem Urknall nur dann die heutige Welt der Galaxien entwickeln, wenn der Kosmos zusätzlich zur »normalen« das Siebenfache an »Kalter Dunkler Materie« enthält, bestehend aus relativ langsamen, schwach wechselwirkenden massereichen Teilchen.
Alle gravitierenden Massen krümmen die Bahnen der Lichtstrahlen in ihrer Umgebung. Dieser »Gravitationslinseneffekt« erlaubt den quantitativen Nachweis Dunkler Materie in fernen Galaxienhaufen.

Große Teile der im Universum vorhandenen Masse sind nicht mit sichtbarer Materie verbunden, so die Überzeugung der meisten Astronomen. Auf welche Erscheinungen stützt sich diese Aussage? Welche Eigenschaften müssen wir dieser »Dunklen« Komponente zuschreiben? Und wie können wir ihre räumliche Verteilung im Kosmos durch Beobachtungen bestimmen? Diese Fragen sind zum Teil nicht neu. Aber die Erforschung des »Dunklen Universums« beschäftigt heute mehr Astronomen als je zuvor.

Wie viel Materie gibt es überhaupt im Universum? Das ist schwer zu beantworten, denn wir sehen nur von der Materie ausgestrahltes Licht, nicht aber die Materie selbst. Sogar die Masse des Sonnensystems lässt sich nur schwer ermitteln. Zwar können wir die keplerschen Gesetze nutzen, um die Masse der Sonne aus der Bewegung der Planeten zu bestimmen, oder die Masse von Planeten aus der Bewegung ihrer Monde. Aber wie viel Masse beispielsweise in den Kleinplaneten, in der Oortschen Wolke und in anderen Komponenten des Sonnensystems steckt, können wir bestenfalls schätzen.

Jenseits des Sonnensystems geht die einfachste Überlegung etwa so: Wir messen die scheinbare Helligkeit eines Sternhaufens oder einer Galaxie. Aus der Entfernung ermitteln wir dann die absolute Helligkeit und bestimmen damit, wie viel Energie der Sternhaufen oder die Galaxie abstrahlt. Jedoch sind die Entfernungen galaktischer oder extragalaktischer Objekte oft nur näherungsweise bekannt, weil die Bestimmung von Entfernungen zu den schwierigsten Aufgaben der Astronomie gehört. Die einfachste Annahme ist dann: Um so viel Energie wie die Sonne zu produzieren, ist auch so viel Masse nötig, wie die Sonne sie hat. Für eine Galaxie mit zehn Milliarden Sonnenleuchtkräften wären demnach etwa zehn Milliarden Sonnenmassen nötig.

Das ist qualitativ nicht falsch, quantitativ aber auch nicht richtig. Die Sterne sind nicht alle gleich, und solche mit weniger Masse als die Sonne strahlen deutlich weniger Energie ab, als es ihrer Masse entspräche, wohingegen Sterne mit mehr Masse als die Sonne mit ihrem nuklearen Brennstoff weit verschwenderischer umgehen. Da es erheblich mehr masseärmere als massereichere Sterne gibt, werden für eine Sonnenleuchtkraft im Durchschnitt etwa sechs Sonnenmassen statt einer gebraucht. Eine Galaxie mit zehn Milliarden Sonnenleuchtkräften benötigte also etwa 60 Milliarden Sonnenmassen.


Indizien für eine zusätzliche, nicht sichtbare Masse

Nun gibt es offenbar Materie im Universum, die gar nicht leuchtet, und davon können wir uns schon mit bloßem Auge überzeugen: Die Dunkelwolken, die das Milchstraßenband am Nachthimmel gliedern, sind ein Beispiel dafür. Planeten und Monde leuchten auch nicht selbst, tragen aber auch nur vernachlässigbar wenig Masse bei. Die Abschätzung, die wir gerade anhand des Sternlichts durchgeführt haben, wird uns deshalb gewiss nicht die Gesamtmasse der Galaxie liefern, sondern eine untere Grenze dafür: Die wahre Masse wird mindestens so groß sein. Sie ist sogar sehr viel größer, wie die folgende Beobachtung zeigt.

Betrachten wir eine Scheibengalaxie von der Seite. Die Sterne laufen in der Scheibe um das Zentrum der Galaxie. Man kann sich vorstellen, wie auf der einen Seite vom Zentrum der Galaxie die Sterne auf uns zukommen, während sie sich auf der anderen von uns wegbewegen. Die Geschwindigkeit dieser Bewegung lässt sich messen, weil durch sie die Linien in den Spektren der Sterne verschoben werden: zu größeren (roten) Wellenlängen, wenn die Sterne sich entfernen, und zu kleineren (blauen), wenn sie sich nähern. Das ist derselbe Dopplereffekt, der den Klang eines ankommenden Autos höher erscheinen lässt als den eines abfahrenden. Der Betrag dieser Verschiebung zeigt die Geschwindigkeit an. Mit einem Spektrografen lässt sich also messen, wie schnell die Sterne um das Zentrum der Galaxie laufen und wie sich diese Geschwindigkeit mit dem Abstand vom Zentrum verändert. Die Kurven, die den Verlauf der Umlaufgeschwindigkeit mit dem Radius angeben, heißen Rotationskurven.

Dabei ergeben sich gleich zwei Überraschungen. Zum einen sind die Geschwindigkeiten erstaunlich hoch. Für Galaxien ähnlich unserem Milchstraßensystem erreichen sie etwa 100 bis 200 Kilometer pro Sekunde. Vom Zentrum ausgehend steigen sie zudem schnell auf ihren Maximalwert, auf dem sie dann weitgehend unabhängig vom Radius verharren (siehe Bild auf S.34 oben). Dies war eine große Überraschung! Im Sonnensystem nimmt die Umlaufgeschwindigkeit vom Merkur zum Neptun mit zunehmender Entfernung steil ab (siehe Grafik Mitte). Warum geschieht dies in Galaxien nicht? Die Lichtverteilung in einer Galaxie ist stark auf den Zentralbereich konzentriert und fällt gewöhnlich steil mit dem Abstand vom Zentrum ab. Wenn die Masse so verteilt wäre, wie die Lichtquellen (also die leuchtenden Sterne), dann sollten die Rotationskurven der Galaxien ebenfalls nach außen hin abfallen. Wie kann es sein, dass sie es nicht tun?

Die Gravitationskraft der Sonne hält das Sonnensystem zusammen. Die Planeten bewegen sich auf ihren Umlaufbahnen gerade so schnell, dass die Zentrifugalkraft, die sie nach außen treibt, der Gravitationskraft die Waage hält. Die Sterne in den Galaxien unterliegen einer ähnlichen Bedingung, nur dass bei ihnen die Masse nicht so stark im Zentrum konzentriert ist wie im Sonnensystem. Dennoch ist ihre Umlaufgeschwindigkeit gerade so hoch, dass ihre Zentrifugalkraft die Gravitationskraft ausgleicht, die sie ins Zentrum zieht. Je schneller sich die Sterne bewegen, umso stärker muss die Gravitationskraft sein, und desto mehr Masse ist bei gegebener Größe der Galaxie nötig. Hohe Geschwindigkeiten weisen also auf große Massen hin.

Der flache Verlauf der gemessenen Rotationskurven zeigt zudem, wie die Masse räumlich verteilt ist. Er ist mit dem Gleichgewicht zwischen Gravitations- und Zentrifugalkraft gerade dann verträglich, wenn die Massendichte mit dem Quadrat des Radius abfällt, wenn folglich die Dichte bei doppeltem Radius um das Vierfache geringer ist. Aus den Rotationskurven wissen wir also, dass die Massenverteilung in Galaxien sehr viel ausgedehnter als die Lichtverteilung ist. Anhand ihrer Sterne können wir die Galaxien aber nur bis zu relativ kleinen Radien hin verfolgen.

In Radioteleskopen erscheinen die Galaxien wesentlich größer, wenn statt des Sternlichts die Radiostrahlung neutraler Wasserstoffwolken beobachtet wird. Neutraler Wasserstoff sendet Radiostrahlung mit einer Wellenlänge von 21 Zentimetern aus und lässt sich dadurch einfach identifizieren. Solche Wasserstoffwolken sind in weit größeren Abständen von Galaxienzentren sichtbar (siehe Bild S. 33), und anhand der Verschiebung der 21-cm-Linie zu größeren oder kleineren Wellenlängen hin sind auch deren Umlaufgeschwindigkeiten messbar. Sie bestätigen, dass die Rotationskurven der Galaxien ähnlich flach nach außen weitergehen, wie anhand der Sterne vermutet werden kann, bis hinaus zu Abständen, die einem Vielfachen des Durchmessers im sichtbaren Licht entsprechen. Dort werden schließlich auch die Wasserstoffwolken zu selten und zu leuchtschwach, um sie mit Radioteleskopen vermessen zu können.

Womöglich bleiben die Rotationskurven noch bis zu weit größeren Abständen flach! Das bedeutet, dass Galaxien nicht nur erheblich größer sind, als ihr sichtbares Licht vermuten lässt, sondern dass ihre Masse räumlich wesentlich weiter verteilt und insgesamt viel größer ist als die, welche sich durch das Leuchten der Sterne im Sichtbaren und des neutralen Wasserstoffs im Radiobereich verrät. Setzen wir die Gesamtmasse der Galaxien in Beziehung zur Lichtmenge, die sie abgeben, so ergibt sich nicht, wie bei den Sternen, ein Verhältnis von 6:1, sondern eher von 150:1. Das bedeutet: Galaxien, die zehn Milliarden Sonnenleuchtkräfte abgeben, haben Gesamtmassen von etwa 1,5 Billionen Sonnen.

Nun lässt sich eine weitere Abschätzung anschließen, die zu einem ersten Hinweis führt, wie viel Materie im Universum enthalten ist. Eine wichtige Beobachtungsgröße, durch welche die Verteilung der Galaxien im Universum charakterisiert werden kann, ist die so genannte Leuchtkraftfunktion der Galaxien (siehe Grafik). Sie gibt an, wie häufig Galaxien welcher Leuchtkraft im Universum auftreten, das heißt, wie viele von ihnen man pro Volumeneinheit findet. Daraus lässt sich ermitteln, wie viel Licht im Mittel aus einem bestimmten Volumen kommt. Mit Hilfe des Masse-zu-Leuchtkraft-Verhältnisses von ungefähr 150:1, von dem oben die Rede war, lässt sich diese Leuchtkraft pro Volumen in eine Massendichte umrechnen. Das Ergebnis ist, dass nur etwa acht Prozent einer so genannten kritischen Massendichte durch die Galaxien beigesteuert werden.

Was ist diese kritische Dichte, und welche Bedeutung hat sie? Das Universum dehnt sich aus. Wenn es mit Materie gerade so angefüllt wäre, dass deren Gravitationswirkung seine Ausdehnung in unendlich langer Zeit zum Stillstand bringen könnte, hätte die Materie diese kritische Dichte. Selbst die ist unsäglich klein: Sie entspricht der Masse eines einzelnen Wasserstoffatoms in einem Volumen von fünftausend Litern. In gängigen astronomischen Einheiten entspricht das etwa einer typischen Galaxienmasse in einem Würfel von einem Megaparsec Kantenlänge. (1 Megaparsec = 1 Million Parsec = 3,263 Millionen Lichtjahre.) Acht Prozent dieses Werts, nicht mehr, sind in Gestalt der Galaxien nachweisbar. Das Universum enthält also gerade so viele Galaxien, dass jede einzelne im Mittel etwas mehr als zehn Kubikmegaparsec beanspruchen kann.

Die Überlegungen, die wir hier an hand von Galaxien angestellt haben, lassen sich völlig analog auf Galaxienhaufen übertragen. Dort bewegen sich, statt einzelner Sterne, die Galaxien, und zwar mit Geschwindigkeiten von bis zu etwa 1000 Kilometern pro Sekunde. Und doch bleiben sie aneinander gebunden, denn wenn das nicht so wäre, müssten sich Galaxienhaufen innerhalb von etwa einer Milliarde Jahren auflösen. So wie die Radioemission kalter Wasserstoffwolken die wahre Größe der Galaxien anzeigt, weist die Röntgenstrahlung eines heißen Wasserstoffplasmas darauf hin, dass diese Haufen aus weit mehr als den Galaxien bestehen.

Wie bei den Sternen in den Galaxien können wir aus der Geschwindigkeit der Galaxien in den Galaxienhaufen und der Ausdehnung der Haufen die Masse abschätzen, die nötig ist, um die Galaxien im Gleichgewicht zwischen Zentrifugal- und Gravitationskraft zu halten. Das Ergebnis ist wiederum erstaunlich: Etwa das Zehnfache der Masse wird benötigt, als anhand des Leuchtens der Haufengalaxien und des Röntgengases nachweisbar ist. Zur gesamten Masse von Galaxienhaufen, die etwa das Billiardenfache der Sonnenmasse erreichen kann, tragen Sterne nur zu etwa einem Prozent bei, die Galaxien und das heiße Röntgengas (siehe Bilder oben) zu jeweils etwa zehn Prozent. Woraus besteht der Rest?


Das Rätsel der Dunklen Materie

Die Erkenntnis, dass Galaxienhaufen größtenteils aus unsichtbarer, also Dunkler Materie bestehen müssen, stammt bereits aus den 1930er Jahren. Woraus diese Dunkle Materie bestehen könnte, ist allerdings eine ganz andere Frage.

Das Postulat Dunkler Materie zur Erklärung nicht verstandener Beobachtung erscheint auf den ersten Blick sehr gewagt. In der Tat wird diese Methode aber in der Geschichte der Astronomie nicht zum ersten Mal angewandt. Als im 19. Jahrhundert der neu entdeckte Planet Uranus Abweichungen von seiner berechneten Bahn zeigte, postulierte Urbain Leverrier die Existenz eines weiteren äußeren Planeten, des Neptun, dessen Gravitationswirkung für die Störung der Bahn des Uranus verantwortlich sein sollte. Der Nachweis dieses Planeten durch Johann Gottfried Galle an der Berliner Sternwarte gilt als eine der Sternstunden der theoretischen Physik, wurde doch die Vorhersagekraft der newtonschen Gravitationstheorie ein drucksvoll unter Beweis gestellt. Bis zu seiner Entdeckung war Neptun »Dunkle Materie«, kaum anders als wir heute in der Kosmologie Dunkle Materie annehmen.

Die Analogie zu Neptun hat aber auch eine andere Seite: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts zeigten sich Bahnstörungen auch für die Bahn des innersten Planeten, des Merkur. Schnell war die Annahme getan, dass dafür ein weiterer Planet, Vulkan genannt, verantwortlich sein solle, der innerhalb der Merkurbahn seine Kreise ziehe. Dieser weitere Planet wurde jedoch nie gefunden, und 1916 zeigte sich, dass sich die Bahnstörungen des Merkur durch Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie als neue Gravitationstheorie erklären lassen.

Verfolgen wir diesen Gedanken etwas weiter: Alles, woraus wir bisher geschlossen haben, es müsse Dunkle Materie geben, beruht darauf, dass wir die Allgemeine Relativitätstheorie und, als sehr gute Näherung, das newtonsche Gravitationsgesetz auf physikalische Systeme angewandt haben, für die beide nicht geschaffen wurden. Newton hat seine Gravitationstheorie entworfen, um das Sonnensystem zu beschreiben, und auch die Allgemeine Relativitätstheorie wurde bisher im Wesentlichen nur innerhalb des Sonnensystems getestet. Was, wenn diese Gesetze auf den Skalen von Galaxien und Galaxienhaufen gar nicht mehr gelten? Dann sollte unsere Schlussfolgerung, es müsse Dunkle Materie geben, eigentlich als Hinweis verstanden werden, dass die Gravitation anders zu beschreiben sei als wir bisher annehmen. Das wäre durch aus möglich, aber auf der Gültigkeit der Allgemeinen Relativitätstheorie beruht unser kosmologisches Rahmenmodell, das sehr viele kosmologische Beobachtungen schlüssig beschreibt.

Es wäre deshalb nicht damit getan, das newtonsche Gravitationsgesetz auf der Skala von Galaxien und Galaxienhaufen zu modifizieren. Es gibt entsprechende Theorien, die an die Stelle der Allgemeinen Relativitätstheorie treten können, das newtonsche Gravitationsgesetz passend verändern und zugleich kosmologische Modelle erlauben - aber um manche Beobachtungen zu erklären, benötigen diese Theorien ebenfalls die Dunkle Materie. Vielleicht mag es irgendwann eine bessere, schlüssigere Theorie geben, die das beobachtete Verhalten der Galaxien und Galaxienhaufen ohne Dunkle Materie zu erklären vermag und es zugleich erlaubt, ein erfolgreiches kosmologisches Modell zu konstruieren. Auf der Grundlage der Allgemeinen Relativitätstheorie jedenfalls ist die Schlussfolgerung unausweichlich, dass es Dunkle Materie gibt.

Kommen wir zurück zu der Frage, woraus die Dunkle Materie bestehen könnte. Wir wissen es nicht, aber es gibt einige sehr deutliche Hinweise, von denen der stärkste aus dem kosmischen Mikrowellenhintergrund stammt.

Der Mikrowellenhintergrund ist die verbliebene Wärmestrahlung aus der heißen Frühzeit des Universums. Wir sind in ihn eingebettet wie in ein Meer aus Strahlung, die uns aus allen Richtungen mit fast gleicher Intensität erreicht. Erst wenn man sehr genau hinschaut, zeigen sich winzige Intensitätsunterschiede in der Strahlung, die uns von verschiedenen Orten am Himmel erreicht (siehe Bild auf S. 38). Da es sich um Wärmestrahlung handelt, lässt sich die Intensität durch eine Temperatur ausdrücken. Die mittlere Temperatur des kosmischen Mikrowellenhintergrunds beträgt knapp drei Kelvin. Um diesen Mittelwert herum, der nur drei Grad über dem absoluten Nullpunkt der Temperaturskala liegt, beobachten wir Temperaturschwankungen im Bereich von einigen zehn Mikrokelvin, also von einigen zehn Millionstel Grad.

Im Zusammenhang mit unserer Frage ist das sehr wichtig. Das Universum ist heute reichlich strukturiert. Wir sehen Galaxien, Galaxienhaufen und noch größere, filamentartige Ansammlungen von Galaxien, die große Leerräume umschließen. Alle Materie sammelt sich in einer Art von kosmischem Netz an. Wie haben sich diese Strukturen entwickelt? Die plausibelste Vorstellung ist die, dass die Temperaturschwankungen im kosmischen Mikrowellenhintergrund Dichteschwankungen im jungen Universum anzeigen, die durch ihre eigene Gravitationskraft zu den Strukturen anwachsen konnten, die wir heute sehen. Aber ist diese Vorstellung plausibel?

Der kosmische Mikrowellenhintergrund entstand, als das Universum knapp 400.000 Jahre alt war. Heute ist es knapp 14 Milliarden Jahre alt. Können so kleine Dichteschwankungen, die den Mikrowellenhintergrund um nicht mehr als zehn Teile in einer Million stören konnten, innerhalb von etwa 14 Milliarden Jahren zu den ausgeprägten Strukturen heranwachsen, die wir heute sehen?

Die Antwort ist ein klares Nein - falls wir davon ausgingen, dass die Dunkle Materie ähnlich beschaffen sei wie die gewöhnliche Materie. Denn wenn das so wäre, müssten im Mikrowellenhintergrund Temperaturschwankungen im Bereich von Milli- statt Mikrokelvin auftreten, und die sind nicht beobachtet. Ein Ausweg öffnet sich dann, wenn wir annehmen, dass die Dunkle Materie aus Elementarteilchen be steht, die nur schwach mit normaler Materie in Wechselwirkung treten kann, und jedenfalls nicht direkt mit Licht. Wenn diese Annahme gilt, konnten die im jungen Universum beobachteten Dichteschwankungen bereits erheblich stärker angewachsen sein, als der Mikrowellenhintergrund verrät, weil sie dann mangels direkter Wechselwirkung weit schwächere Spuren in der Strahlung hinterlassen haben als gewöhnliche Materie. Daher halten wir es für eine sinnvolle Annahme, dass die Dunkle Materie nicht eine andere Erscheinungsform gewöhnlicher Materie ist, sondern aus Elementarteilchen mit schwacher Wechselwirkung besteht.

Solche Überlegungen sind zunächst nicht ungewöhnlich, weil wir Elementarteilchen mit schwacher Wechselwirkung kennen - das Neutrino zum Beispiel. Neutrinos können aber kein wesentlicher Bestandteil der Dunklen Materie sein, weil sie zu leicht, zu schnell und damit zu leicht flüchtig sind: Nur Strukturen, die deutlich größer als Galaxien sind, wären in der Lage, sie zu halten. Galaxien würden deswegen auch erst spät im Verlauf der kosmischen Geschichte erscheinen, später als die erheblich größeren Galaxienhaufen jedenfalls. Beobachtet wird aber das Gegenteil. Galaxien tauchen schon sehr früh im Universum auf, während sich Galaxienhaufen erst deutlich später bilden. Die Teilchen der Dunklen Materie müssen wesentlich massereicher und somit langsamer sein, als es etwa die Neutrinos sind. Wir vermuten also, dass Dunkle Materie aus schwach wechselwirkenden massereichen Elementarteilchen besteht, die wir aber bislang nicht kennen. Wir nennen sie kalt, weil sie sich langsam im Vergleich zur Lichtgeschwindigkeit bewegen müssen, damit Galaxien sie durch ihre Schwerkraft an sich binden können.

Kalte Dunkle Materie ist so zur grundlegenden Annahme für die kosmische Strukturbildung geworden. Erwähnenswert ist, dass diese Elementarteilchen prinzipiell nachweisbar sind. So ist ihr erhoffter Nachweis einer der wichtigsten Gründe für den Bau und Betrieb des neuen Teilchenbeschleunigers LHC am CERN.

Die Temperaturschwankungen im Mikrowellenhintergrund liefern uns nicht nur einen wesentlichen Hinweis auf die Natur der Dunklen Materie, sondern auch auf ihre Menge. Sie haben eine charakteristische Größe am Himmel, die durch das Wechselspiel zwischen der Gravitation der Dunklen Materie einerseits und dem Druck der Strahlung und der gewöhnlichen Materie andererseits bestimmt ist. Daraus können wir Dichten beider Materieformen ableiten. Für die Dunkle Materie ergeben sich knapp 30 Prozent der kritischen Dichte, für die gewöhnliche Materie nur etwa vier Prozent.


Dunkle Materie und die großräumige kosmische Struktur

Wie bereits erwähnt, ist die räumliche Verteilung der Galaxien keineswegs zufällig, sondern korreliert (siehe Bild). Im Großen sieht die Struktur der Galaxienverteilung etwa wie ein Schwamm aus: Leerräume werden von Blasen umschlossen, die im Querschnitt wie dünne Filamente aussehen. Besonders hohe Verdichtungen entstehen, wo Blasen oder Filamente sich schneiden. Wir vermuten, dass diese markante Verteilung der Galaxien ähnliche Strukturen aus Dunkler Materie nachbildet. Wie könnte Dunkle Materie eine solche filamentartige Struktur bilden?

Erstaunlicherweise ist eine derartige Verteilung eine mathematisch beweisbare Konsequenz der Annahme, dass kosmische Strukturen aus zufälligen Schwankungen der Dichte Dunkler Materie entstanden sind, die durch ihre eigene Gravitation anwachsen konnten. Wir sehen ja Temperaturschwankungen im kosmischen Mikrowellenhintergrund, deren plausibelste Erklärung ist, dass sie Dichteschwankungen nachbilden, die bereits im sehr jungen Universum angelegt waren. Überdichte Gebiete übten auf ihre Umgebung eine etwas erhöhte Schwerkraft aus, zogen dadurch Materie aus der Umgebung an und wuchsen, während unterdichte Gebiete weiter verdünnt wurden. Wir haben bereits oben besprochen, dass die Zeit seit der Entstehung des Mikrowellenhintergrunds bis heute dazu ausreicht, die Entstehung kosmischer Strukturen auf diese Weise zu verstehen, falls es Dunkle Materie gibt, die nicht mit Licht interagieren kann.

Mathematisch beweisen lässt sich nun, dass solche Strukturen, die unter dem Einfluss allein der Gravitation aus einer zufälligen Dichteverteilung wachsen, so schwammartig aussehen müssen, wie wir heute die Galaxienverteilung sehen. Die Annahme, dass die Galaxienverteilung die Verteilung Dunkler Materie nachbildet, fügt sich also in ein konsistentes Bild.

In unserem Zusammenhang ist dabei vor allem eines interessant: Es gibt eine charakteristische Längenskala in der Galaxienverteilung, die etwa der typischen Größe der Leerräume entspricht. Für den Ursprung einer solchen Skala gibt es in dem beschriebenen Bild von der kosmischen Strukturentwicklung eine plausible Erklärung. Sehr früh im Universum spielten nicht die gewöhnliche und die Dunkle Materie die entscheidende Rolle, sondern die Strahlung, also das Licht, dessen Hauptbestandteil der kosmische Mikrowellenhintergrund ist. Er enthält Energie, die sich nach Einsteins berühmter Formel E=mc² in eine Masse umrechnen lässt.

Heute ist die Massendichte des Mikrowellenhintergrunds verglichen mit derjenigen aller Materieformen sehr klein. Im frühen Universum war das anders. Wenn man Strahlung und Materie gemeinsam komprimiert, wächst die Dichte der Strahlung stärker an als die der Materie. Halbiert man das Volumen, so verdoppelt sich die Dichte der Materie, weil sich alle ihre Teilchen jetzt im halben Volumen wiederfinden. Bei der Strahlung hingegen werden nicht nur die Teilchen verdichtet, sondern jedes einzelne Teilchen - jedes Photon zum Beispiel - gewinnt auch noch Energie, weil seine Wellenlänge in demselben Maß verkürzt wird, in dem die Seitenlänge des Volumens abnimmt. Bei halbiertem Volumen steigt die Dichte der Strahlung deswegen nicht einfach auf das Doppelte, sondern bereits auf das 2,5-Fache an.

Rückwärts in der Zeit betrachtet, schrumpft das Universum. Obwohl die Strahlungsdichte heute fast vernachlässig bar klein ist, wächst sie dabei schneller an als die Materiedichte.

Es gibt also einen Zeitpunkt im frühen Universum, zu dem beide Dichten gleich groß waren, und vor dem die Strahlungsdichte höher war als die Materiedichte. Dieser Zeitpunkt der Äquivalenz von Strahlung und Materie ist für den Verlauf der kosmischen Strukturbildung entscheidend. Solange Strahlung dominierte, konnten sich Strukturen in der Materieverteilung nur sehr langsam entwickeln. Erst als die Materie die Oberhand gewann, setzte das Wachstum aufgrund der Eigengravitation der Dichteschwankungen ein. Deswegen bestimmt der Zeitpunkt der Äquivalenz von Strahlung und Materie einen prägenden Moment in der kosmischen Strukturbildung. Die Größe des überschaubaren Universums zu jener Zeit, die im Wesentlichen dadurch bestimmt ist, dass man das bis dahin verstrichene Alter des Universums mit der Lichtgeschwindigkeit multipliziert, prägt der heutigen Galaxienverteilung demnach ihre charakteristische Größe auf.

Wenn wir diese Größe messen können, bestimmen wir also indirekt den Zeitpunkt, zu dem die Materiedichte die Oberhand über die Strahlungsdichte gewann. Daraus lässt sich das heutige Verhältnis der Materie- zur Strahlungsdichte bestimmen. Die heutige Strahlungsdichte kennen wir aber aus den Messungen des Mikrowellenhintergrunds. Die faszinierende Schlussfolgerung ist: Die typische Längenskala in der Galaxienverteilung gibt uns eine Möglichkeit, die gesamte Materiedichte im Universum zu ermitteln. Je höher die Materiedichte ist, umso früher hatten Strahlung und Materie dieselbe Dichte, umso kleiner war damals das überschaubare Universum, und umso kleiner ist dann auch die typische Längenskala in der Galaxienverteilung.

Messungen dieser Skala sind erst seit Kurzem möglich, weil sie sehr groß ist. Um sie zu bestimmen, müssen Galaxien bis in ernormen Entfernungen beobachtet werden, und zwar auf einem ausgedehnten Gebiet des Himmels, weil ein Ausschnitt der Strukturen erfasst werden muss, der im Vergleich zur typischen Skala genügend groß ist. Seitdem solche Beobachtungen möglich sind, ergeben sie eine Materiedichte, die wieder knapp 30 Prozent der kritischen Dichte entspricht, in sehr guter Übereinstimmung mit den Messungen der Temperaturschwankungen im kosmischen Mikrowellenhintergrund.


Die Kartierung Dunkler Materie

Wenn tatsächlich eine Form Dunkler Materie die großräumigen kosmischen Strukturen bestimmt, die grundsätzlich nicht mit Licht in Wechselwirkung tritt, wie können wir dann Strukturen aus Dunkler Materie finden und abbilden?

Eine Methode, die Verteilung Dunkler Materie empirisch zu erschließen, haben wir schon besprochen, nämlich die, welche auf der Bewegung von Sternen in Galaxien und von Galaxien in Galaxienhaufen beruht. Dabei macht man sich das vermutete Gleichgewicht zwischen Gravitation und Zentrifugalkraft zunutze, schließt aus der gemessenen Geschwindigkeit auf die Gravitationskraft, die zu ihrer Stabilisierung nötig ist, und damit auf die gesamte gravitierende Masse. Der radiale Verlauf der Geschwindigkeit zeigt, wie die Massendichte vom Zentrum der Galaxie oder des Galaxienhaufens nach außen abfällt.

Diese Methode hat den Vorteil, dass die Bewegung der jeweiligen Testobjekte, ob es nun Sterne oder Galaxien sind, in ihren Gravitationsfeldern direkt beobachtbar ist; Geschwindigkeiten lassen sich mit modernen Spektrografen sehr genau messen. Sie hat aber zugleich zwei Nachteile. Zum einen beruht jede Umrechnung der beobachteten Geschwindigkeiten in Massen auf Gleichgewichtsannahmen von der Art, dass die Gravitationskraft genau durch die Zentrifugalkraft ausgeglichen werde. Das ist gewiss im Mittel für viele Galaxien recht gut erfüllt, aber wir können uns selten wirklich darauf verlassen. Galaxien stehen nicht isoliert im Raum und sind keine statischen Gebilde, sondern begegnen anderen Galaxien, werden dabei verändert und gehen im Laufe langer kosmischer Zeiträume von einem Gleichgewichtszustand in einen neuen über. In welchem physikalischen Zustand die Galaxien gerade sind, deren Masse wir bestimmen wollen, können wir anhand ihres Aussehens vermuten, aber sicher können wir uns nicht sein. Bei Galaxienhaufen ist es noch schwieriger, von einem Gleichgewicht auszugehen, weil sie kosmologisch jünger sind, aber auch länger brauchen, um ihren Gleichgewichtszustand zu erreichen.

Hinzu kommt, dass wir spektroskopisch nur den Anteil der Geschwindigkeit sehen können, der längs der Sichtlinie liegt, weil die Verschiebung der Spektrallinien allein durch die Bewegung der Lichtquelle vom Beobachter weg oder zu ihm hin zustande kommt. Um die Verteilung der Masse wirklich zu bestimmen, wäre auch die Richtung der Bewegung im Raum erforderlich, die uns aber nicht zugänglich ist. Wir müssen uns also damit behelfen, zusätzlich zur gemessenen Geschwindigkeit Bahnformen anzunehmen, auf denen die Sterne in den Galaxien oder die Galaxien in den Galaxienhaufen umlaufen. Dabei wird zum Beispiel oft vorausgesetzt, dass die Bahnen tangential verlaufen, also Kreise um das Massenzentrum beschreiben. Das kann im Mittel schon stimmen, aber solche Symmetrieannahmen sind besonders bei vergleichsweise jungen Objekten wie Galaxienhaufen, die möglicherweise fernab von einem Gleichgewichtszustand sind, mit Vorsicht zu betrachten.

Massen zwingen aber nicht nur Planeten, Sterne und Galaxien auf gekrümmte Bahnen, sondern auch Photonen. Lichtstrahlen, die dicht an einer Masse vorbeigehen, werden ebenfalls abgelenkt, so dass sie sich ganz ähnlich zur Masse hin krümmen, als ob sie durch eine gewöhnliche gläserne Sammellinse abgelenkt würden. (siehe Bild S. 42) Deswegen heißt diese Lichtablenkung auch Gravitationslinseneffekt. Schon Isaak Newton hat vermutet, dass Massen Licht ablenken könnten, aber weil er sich Licht nicht als Strom von Teilchen vorstellte, fehlten ihm die Konzepte, den Effekt auch beschreiben zu können. Das tat 1801 der damalige Direktor der Münchner Sternwarte, Johann Georg Soldner, wobei er beim Leser um Verständnis dafür bat, dass er Licht wie aus Teilchen zusammengesetzt behandelte. Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie bietet für diesen Effekt eine geometrische Erklärung, die aber zu einer doppelt so starken Lichtablenkung führt wie der newtonsche Zugang. Während einer totalen Sonnenfinsternis wurde 1919 Einsteins verdoppelte Vorhersage bestätigt.

Als optische Systeme betrachtet, sind Gravitationslinsen schier unbrauchbar. Die Lichtablenkung ist differenziell, so dass benachbarte Strahlen, die in etwas unterschiedlichem Abstand an einer Masse vorbeilaufen, etwas verschiedene Ablenkungen erfahren. Kreisrunde Lichtquellen, wenn es sie im Universum gäbe, blieben deswegen nach einer Abbildung durch eine Gravitationslinse nicht kreisrund, sondern würden elliptisch verformt, denn der Teil der Quelle, der näher an der Gravitationslinse stünde, würde stärker abgelenkt als der fernere Teil. Mit Begriffen der Optik ausgedrückt, sind Gravitationslinsen furchtbar astigmatisch, von ihren langen Brennweiten ganz abgesehen.

Es ist aber gerade ihr Astigmatismus, der die Gravitationslinsen für die Astronomie so wertvoll macht. Wären sie perfekte optische Linsen, wie in Brillen, Kameras oder Ferngläsern, so würden wir von ihrer Existenz nichts merken. Gerade die Verzerrungen, die ihr Astigmatismus hervorruft, verraten uns ihre Anwesenheit, und sie sind messbar. Dieser Effekt ist leicht zu verstehen. Stellen wir uns vor, wir betrachten eine fein gemusterte Tapete durch ein unregelmäßig dickes Glas. Das Tapetenmuster erscheint verzerrt. Aus dem Grad der Verzerrung können wir die Dicke des Glases ermitteln, indem wir die Gesetze der geometrischen Optik anwenden.

Auf genau diese Weise lässt sich nun auch der Gravitationslinseneffekt verwenden, um Dunkle Materie nicht nur aufzuspüren, sondern um sogar ihre Verteilung zu bestimmen. Wir benötigen dafür lediglich eine fein gemusterte kosmische Tapete und die Gesetze der Gravitationslinsenoptik. Glücklicherweise stehen uns beide zur Verfügung. Gravitationslinsen können durch einfache Gesetze beschrieben werden, die den Grad der messbaren Verzerrung zur Verteilung der vorhandenen Materie in Beziehung setzen. Es gibt auch eine Art kosmischer Tapete, denn bei genügend langer Belichtung stellt sich heraus, dass der Himmel von fernen Galaxien geradezu übersät ist. Etwa 30 solcher unscheinbarer Galaxienbildchen finden sich in jeder Quadratbogenminute auf tiefen Bildern des Himmels. Auf langen Belichtungen mit dem Weltraumteleskop Hubble erscheinen sogar mehr als 100 davon. Der Vollmond mit seinem Durchmesser von 30 Bogenminuten verbirgt hinter sich zwischen 25.000 und 80.000 dieser Hintergrundgalaxien.

Wären alle diese Galaxien kreisrund, so könnten wir anhand ihrer Verzerrung messen, wie stark der Gravitationslinseneffekt von Ort zu Ort am Himmel schwankt. Leider sind die Galaxien nicht kreisrund, sondern haben zum Teil abenteuerliche Formen. Mittelt man aber über mehrere Bilder, überlagern sich diese so, dass in der Summe ein Bild entsteht, das ohne die Wirkung einer Gravitationslinse ungefähr rund ist, und an dem dann die Verzerrung durch eine eventuell vorhandene Gravitationslinse abgelesen werden kann. Dabei kommt uns zugute, dass es so viele von diesen fernen Galaxien auf jeder Quadratbogenminute gibt. Wir können zum Beispiel ohne Weiteres die Bilder von jeweils zehn Galaxien zusammenfassen und trotzdem auf jeder Quadratbogenminute immer noch drei bis zehn solcher gemittelten (und damit hinreichend »runden«) Bilder erzeugen, die uns eine Messung des Gravitationslinseneffekts erlauben.

Einfach ist das trotzdem nicht, weil die typischen Verzerrungen, die beispielsweise in der Nähe eines Galaxienhaufens erzeugt werden, etwa zehn Prozent betragen. Kreisrunde Quellen würden demnach als Ellipsen abgebildet, deren beide Achsen sich um zehn Prozent unterscheiden. Der Gravitationslinseneffekt ausgedehnter kosmischer Strukturen ist noch deutlich schwächer und liegt im Prozentbereich.

Dennoch ließen sich mit dieser Methode des schwachen Gravitationslinseneffekts in den letzten Jahren spektakuläre Erfolge erzielen. Am eindrucksvollsten sind vielleicht die Karten der Verteilung Dunkler Materie in Galaxienhaufen, auf denen die Dichte der Dunklen Materie durch Höhenlinien angegeben oder farbig kodiert dargestellt wird: Zwei spektakuläre Beispiele zeigt der Kasten »Dunkle Materie in kollidierenden Galaxienhaufen« auf S. 40. Solche Kartierungen sind auf größeren Skalen als Galaxienhaufen kaum mehr möglich, weil der Gravitationslinseneffekt dort zu schwach wird, aber er kann immer noch statistisch nachgewiesen werden, indem das Signal großer Bereiche am Himmel zusammengefasst wird. So können wir uns sogar von der großräumigen dreidimensionalen Verteilung der Dunklen Materie ein Bild machen (siehe SuW 11/2008, S. 44).

Wir können also mit Hilfe des Gravitationslinseneffekts die Verteilung der Materie in kosmischen Strukturen bis zur Größe von Galaxienhaufen direkt beobachten und auch wenigstens statistisch überprüfen. Im Gegensatz zur Analyse der Bewegung von Sternen in Galaxien oder von Galaxien in Galaxienhaufen, gehen in die Analyse des Gravitationslinseneffekts keinerlei Gleichgewichtsannahmen mehr ein. Der Gravitationslinseneffekt weist Materieverdichtungen nach, ob sie nun dunkel sind oder leuchten, ob sie ein inneres Gleichgewicht erreicht haben oder nicht. Er ist zu einer der wichtigsten Methoden geworden, dem dunklen Universum auf die Spur zu kommen.


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Dunkle Materie in kollidierenden Galaxienhaufen

An zwei Beispielen wollen wir zeigen, welche Einsichten über die Existenz, räumliche Verteilung und Dynamik der Dunklen Materie, aber auch welche neuen Rätsel uns die Beobachtung des Gravitationslinseneffekts in Galaxienhaufen verschaffen kann. Es geht um zwei Galaxienhaufen, die kürzlich jeweils als Produkt einer Kollision von zwei - möglicherweise auch drei - Galaxienhaufen entstanden sind.


Ein direkter Existenzbeweis: Unser erstes Bild zeigt den etwa drei Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxienhaufen 1E 0657.556, auch »Bullet cluster« genannt. Es handelt sich in Wahrheit um zwei Haufen, die etwa senkrecht zu unserer Blickrichtung mit einer Relativgeschwindigkeit von 4500 Kilometern pro Sekunde aufeinander zugerast und vor etwa 100 Millionen Jahren zusammengestoßen sind.

Drei Komponenten des Systems sind dargestellt. Das optische Bild zeigt zahlreiche Galaxien, die sich auf zwei getrennte, etwa zwei Millionen Lichtjahre voneinander entfernte Gebiete konzentrieren. Die Galaxien liegen rechts und links (und deutlich außerhalb) des heißen Haufengases, dessen Röntgenstrahlung hier in Rot dargestellt ist.

Diese Situation ist zu erwarten, wenn wir auf zwei Haufen, die kürzlich zusammengestoßen sind, annähernd senkrecht zu ihrer Bewegungsrichtung blicken: Die nahezu punktförmigen Galaxien der beiden Haufen sind ungehindert aneinander vorbeigeflogen, während die diffusen Plasmaanteile - als Systeme geladener Teilchen - heftige Wechselwirkung miteinander hatten und heute zwei nicht wirklich voneinander getrennte Plasmawolken bilden, die im Wesentlichen zwischen den beiden auseinanderfliegenden Galaxienhaufen liegen. In der rechten Wolke ist rechts oben deutlich eine den heftigen Zusammenstoß bezeugende, hell leuchtende Stoßfront zu erkennen.

Im heißen Haufengas steckt weitaus mehr Masse als in den vielen sichtbaren Galaxien. Leistet also die Masse des Haufengases den wesentlichen Beitrag zur Gravitation, die in diesem komplexen System herrscht? Die Antwort kommt von der Analyse des Gravitationslinseneffekts, der die Bilder von Tausenden weit hinter dem kollidierenden Doppelhaufen stehenden Galaxien beim Durchgang durch den Doppelhaufen verbogen hat.

Die aus der Analyse der Verformung dieser Bilder ermittelte Verteilung der gravitierenden Masse des Doppelhaufens ist in Blau dargestellt. Es zeigt sich, dass der maßgebliche Teil der gravitierenden Masse auf zwei Gebiete verteilt ist, die deutlich außerhalb des leuchtenden Plasmas liegen und mit den beiden Ansammlungen von Galaxien zusammenfallen - obwohl in den Galaxien selbst nur wenige Prozent der Gesamtmasse der beiden Systeme stecken können. Es muss also neben den Galaxien und dem heißen Gas noch eine dritte, den beobachteten Gravitationslinseneffekt maßgeblich bewirkende Komponente geben, die sich beim Zusammenstoß der Haufen gemeinsam mit den Galaxien ungestört weiterbewegt hat - und genau dies erwarten wir von der schwach wechselwirkenden Dunklen Materie! Hier konnten die Astronomen erstmals direkt auf die Existenz der Dunklen Materie schließen, ohne eine spezielle Form des Gravitationsgesetzes annehmen zu müssen.


Ein rätselhafter Fall: Das zweite Bild zeigt den 2,3 Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxienhaufen Abell 520. Wieder spricht alles dafür, dass wir den Zusammenstoß von zwei oder vielleicht auch drei Galaxienhaufen vor uns haben. Auch hier ist in Rot die Verteilung des im Röntgenlicht strahlenden heißen Plasmas dargestellt; die Konturlinien stellen die aus der Analyse des Gravitationslinseneffekts abgeleitete Verteilung der Dunklen Materie dar; und das optische Bild zeigt die Haufengalaxien (weißlich bis gelb), wobei die Galaxien, deren Zugehörigkeit zu Abell 520 spektroskopisch überprüft wurde, mit einem Kreuz gekennzeichnet sind. Hier erweist sich nun gänzlich unerwartet, dass die Galaxien ganz anders verteilt sind als die Dunkle Materie! Insbesondere der Bereich der Maxima Nummer 3 und 4 ist weitgehend galaxienfrei!

Dieser Befund widerspricht unserer bisher für wahr gehaltenen Vorstellung, dass die Dunkle Materie sich in Bezug auf die Gravitation genauso verhält wie baryonische, nicht in der Form geladener Teilchen vorliegende Materie. Gibt es vielleicht eine (noch gänzlich unbekannte) nicht-gravitative Wechselwirkung der Dunkle-Materie-Teilchen miteinander?

(Die Abbildungen der Originalpublikation wurden im Schattenblick nicht veröffentlicht.)


Matthias Bartelmann ist Kosmologe, Direktor am Institut für Theoretische Astrophysik, Zentrum für Astronomie der Universität Heidelberg, und Mitherausgeber von SuW.

Matthias Steinmetz ist wissenschaftlicher Direktor des Astrophysikalischen Instituts Potsdam. Zu seinen wissenschaftlichen Interessen gehört die Entstehung und Entwicklung der Galaxien, insbesondere des Milchstraßensystems.


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Die Dunkle Materie ist ein aktuelles Forschungsthema, das sich mit Gewinn im Unterricht der gymnasialen Oberstufe einsetzen lässt. Dazu haben wir didaktische Materialien erstellt, die unter www.wissenschaft-schulen.de kostenfrei abgerufen werden können. Schüler lernen damit, welche Indizien auf die Existenz dieser rätselhaften Materieform hinweisen und welche Forschungsergebnisse dagegen sprechen. Unser Schulprojekt führen wir in Zusammenarbeit mit der Landesakademie für Lehrerfortbildung in Bad Wildbad und dem Haus der Astronomie in Heidelberg durch.


Literaturhinweise
Bartelmann, M.: Der kosmische Mikrowellenhintergrund. In: Sterne und Weltraum 50, S. 330-337.
Bartelmann, M.: Das Standardmodell der Kosmologie. Teil 1 in: Sterne und Weltraum, 87, S. 38-47; Teil 2 in: Sterne und Weltraum 97, S. 36-44.
Faure, C., Fohlmeister, J.: Galaxien als natürliche Teleskope. In: Sterne und Weltraum 118, S. 44-52.
Klein, U., Jósza, G., Kenn, F., Oosterloo, T.: Galaxien und dunkle Materie. In: Sterne und Weltraum 95, S. 28-36.
Rau, W.: Auf der Suche nach der dunklen Materie. In: Sterne und Weltraum 15, S. 32-42.
Rix, H.-W.: Perspektiven astronomischer Entdeckungen. In: Sterne und Weltraum 88, S. 32-40.
Schneider, P.: Die Grundfragen der Kosmologie. In: Sterne und Weltraum 77, S. 44-52.
Springel, V.: Die Millennium-Simulation. In: Sterne und Weltraum 116, S. 30-40.

Weblinks zum Thema: www.astronomie-heute.de/artikel/1036677


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 33:
Ein Beispiel für »unsichtbare« Materie: Diese Überlagerung einer optischen Aufnahme der Spiralgalaxie NGC 5055 mit der im Radiobereich kartierten, hier blau dargestellten Emission des neutralen Wasserstoffgases zeigt die riesige Ausdehnung der unsichtbaren galaktischen Gasscheibe im Vergleich zur stellaren Scheibe.

Abb. S. 34 oben:
Falls alle gravitierende Masse in einer Spiralgalaxie so verteilt wäre wie die leuchtende Materie, nähme die Umlaufgeschwindigkeit der Sterne nach außen hin zunächst zu, danach ab (rote Kurve). Die gemessenen Werte (blaue Kurve) bleiben jedoch in den Außenbereichen annähernd konstant.

Abb. S. 34 Mitte:
In unserem Planetensystem ist fast alle gravitierende Masse in der Sonne vereinigt, also innerhalb der Umlaufbahn des Merkur. Dementsprechend fallen die Bahngeschwindigkeiten der umlaufenden Planeten mit zunehmendem Abstand vom Zentrum rasch ab.

Abb. S. 35:
Aus den Daten des Sloan Digital Sky Survey wurde diese Kurve, die so genannte Leuchtkraftfunktion, abgeleitet. Sie gibt an, wie viele Galaxien gegebener Absoluthelligkeit M pro Volumen im Weltraum vorhanden sind. Die Daten beziehen sich auf unsere weitere kosmische Umgebung.

Abb. S. 36, 37:
Galaxienhaufen wie der hier gezeigte Coma-Haufens (links ein Ausschnitt) enthalten einige hundert bis tausend Galaxien, die sich mit Geschwindigkeiten von rund 1000 Kilometern pro Sekunde bewegen. Um sie durch die Schwerkraft an sich zu binden, reicht die Masse der sichtbaren Materie bei Weitem nicht aus. Die diffuse Röntgenemission des Coma-Haufens, hervorgerufen durch heißes Gas, das den gesamten Galaxienhaufen ausfüllt, ist im obigen Bild rot dargestellt und einem optischen Bild des Haufens überlagert.

Abb. S. 38:
Der Satellit WMAP kartierte die kosmische Mikrowellen-Hintergrundstrahlung des gesamten Himmels in hoher Auflösung. Die Strahlung wurde 380.000 Jahre nach dem Urknall emittiert, als sich Atomkerne und Elektronen zu neutraler Materie vereinigten und das Weltall durchsichtig wurde. Die hier farblich dargestellten Schwankungen entsprechen Temperaturdifferenzen von einigen zehn Millionstel Grad.

Abb. S. 39:
Die großräumige Verteilung der Galaxien lässt sich aus spektroskopischen Durchmusterungen des Himmels ableiten und in solchen Fächergrafiken darstellen.

Abb. S. 42, 43:
Eine große Masse, die zwischen einer fernen Quelle und dem Beobachter liegt, lenkt das Licht dieser Quelle ab und wirkt so als »Gravitationslinse«. Bei perfekter Axialsymmetrie sieht der Beobachter ein ringförmiges Bild (Einsteinring, rechts). Abweichungen von der Axialsymmetrie führen zu mehrfachen, verstärkten und verzerrten Bildern (ganz rechts).


© 2010 Matthias Bartelmann und Matthias Steinmetz, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Sterne und Weltraum 8/10 - August 2010, Seite 32 - 43
Zeitschrift für Astronomie
Herausgeber:
Prof. Dr. Matthias Bartelmann (ZAH, Univ. Heidelberg),
Prof. Dr. Thomas Henning (MPI für Astronomie),
Dr. Jakob Staude
Redaktion Sterne und Weltraum:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. September 2010