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SONNE/096: Auf der Suche nach den Geschwistern der Sonne (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 3/10 - März 2010

Auf der Suche nach den Geschwistern der Sonne

Von Simon F. Portegies Zwart


Heute ist die Sonne eine Einzelgängerin. Entstanden ist sie jedoch gemeinsam mit Tausenden anderer Sterne. Nach ihren stellaren Geschwistern fahnden Forscher nun in direkter kosmischer Nachbarschaft.


In Kürze
Lange vermuteten Astronomen, die Sonne sei schon immer ein einsamer Stern gewesen. Doch die meisten Sterne entstehen in Sternhaufen. Untersuchungen an Meteoriten und Kometenbahnen deuten nun darauf hin, dass auch die Sonne keine Ausnahme machte.

Der Geburtshaufen der Sonne könnte aus bis zu 3500 Sternen bestanden haben, die sich in einer Region mit nur zehn Lichtjahren Durchmesser drängten. Dann fiel dieser Haufen allerdings auseinander.

Längst haben sich die Geschwister der Sonne, die dort etwa zeitgleich mit ihr entstanden waren, rund um die halbe Galaxis verteilt. Doch die Chancen stehen gut, dass der Astrometriesatellit Gaia einige von ihnen identifizieren wird. So ließen sich zahlreiche Lücken unseres Wissens über die Frühzeit des Sonnensystems schließen.

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So manchen ergreift unter dem dunklen Himmel einer sternklaren Nacht das Gefühl der Einsamkeit. Kein Wunder: Der Nachthimmel ist genau deshalb so dunkel, weil auch unser Sonnensystem recht abgelegen ist. Selbst unsere nächsten stellaren Nachbarn erscheinen gerade einmal als winzige Lichtpunkte, und unsere schnellsten Raumsonden wären Zehntausende von Jahren zu ihnen unterwegs. Wir leben also auf einer kleinen Insel in einem riesigen kosmischen Meer. Doch nicht jeder Stern ist so abgelegen. Etwa jeder zehnte gehört zu einem Sternhaufen, einem wenige Lichtjahre durchmessenden Schwarm aus Hunderten oder auch Zehntausenden von Sternen. Tatsächlich entstehen sogar die meisten Sterne in solchen Haufen. Gewöhnlich lösen sich diese Ansamm lungen aber im Verlauf von Jahrmilliarden wieder auf, und ihre Mitglieder verteilen sich in der Milchstraße.

Immer mehr Indizien sprechen dafür, dass auch die Sonne erst allmählich in ihre abgeschiedene Lage geriet. Während die Astronomen unser Zentralgestirn lange Zeit für ein »Einzelkind« hielten, gehen mittlerweile viele von ihnen davon aus, dass es vielleicht 1000 oder mehr Geschwister besitzt, die alle etwa zur selben Zeit geboren wurden. Anders gesagt: Als das Sonnensystem im Entstehen begriffen war, erschien der umgebende Weltraum möglicherweise bei Weitem nicht so leer. Hätten wir schon damals die Gelegenheit gehabt, ihn zu betrachten, wären unsere Augen vom Licht geblendet worden. Unser Blick wäre auf einen mit hellen Sternen übersäten Nachthimmel gefallen, von denen einige heller leuchteten als der heutige Vollmond. Manche von ihnen hätten wir sogar am Taghimmel entdecken können.

Doch der Sternhaufen, zu dem unsere Sonne vermutlich gehörte, existiert schon lange nicht mehr. Wie er ausgesehen haben könnte, darüber lassen sich allerdings eine ganze Reihe von Überlegungen anstellen. Aus vielen Beobachtungsdaten habe ich einige Eigenschaften dieses Haufens ermittelt und daraus auf die Bahnen geschlossen, auf denen die früheren Haufenmitglieder durch die Galaxis unterwegs sein könnten, und auf ihre jetzigen Aufenthaltsorte. Obwohl sie sich mit Millionen anderer Sterne vermischt haben, können wir sie so vielleicht doch identifizieren. Hierzu bietet das Satellitenobservatorium Gaia, das die europäische Raumfahrtorganisation Esa 2012 starten will, die nächste große Chance. Dem »Global Astrometric Interferometer for Astrophysics« würden sich die stellaren Geschwister der Sonne durch entsprechende Bahnen ebenso wie durch ihre sonnenähnliche Zusammensetzung verraten. Und im Erfolgsfall böte sich endlich die Gelegenheit, die Bedingungen zu rekonstruieren, unter denen unser Sonnensystem einst aus einer formlosen Wolke aus Gas und Staub entstanden ist.

Den bislang überzeugendsten Beleg dafür, dass unsere Sonne tatsächlich Geschwister besitzt, fanden Shogo Tachibana, der jetzt an der Universität Tokio lehrt, und Gary R. Huss, jetzt an der University of Hawaii in Manoa, im Jahr 2003. Als die beiden Forscher zwei Meteoriten aus der Frühzeit des Sonnensystems untersuchten, welche die Jahrmilliarden wohl nahezu unverändert überstanden haben, stießen sie in chemischen Verbindungen, in denen sie mit Eisen gerechnet hatten, auf Nickel-60. Dieses Isotop entsteht, wenn Eisen-60 radioaktiv zerfällt - die bewussten Verbindungen aber bilden sich nur, wenn tatsächlich Eisen vorliegt. Folglich muss das Eisen-60 - in einem seiner Halbwertszeit entsprechenden Zeitraum - sowohl synthetisiert worden als auch ins Sonnensystem gelangt und schließlich in die Meteoriten eingelagert worden sein, denn sonst hätten sich diese chemischen Verbindungen nicht bilden können. Nach neuesten Schätzungen beträgt die radioaktive Halbwertszeit von Eisen-60 rund 2,6 Millionen Jahre. Kosmisch gesehen ist dies nur ein Augenblick: Das Eisen muss also aus unmittelbarer Nachbarschaft stammen, und als wahrscheinlichste Quelle gilt die Explosion eines Sterns.


Eine Supernova in weniger als fünf Lichtjahren Entfernung

Aus den Ergebnissen von Tachibana und Huss sowie aus weiteren Isotopenmessungen zog das Team um Leslie Looney von der University of Illinois im Jahr 2006 den Schluss: Als unsere Sonne gerade einmal 1,8 Millionen Jahre alt war, muss es in weniger als fünf, vielleicht so gar in gerade einmal 0,07 Lichtjahren Entfernung zu einer Supernova gekommen sein. (Diese Abschätzungen müssen nun unwesentlich korrigiert werden, da die genannte, erst im August 2009 veröffentlichte Halbwertszeit von Eisen-60 um 1,1 Millionen Jahre höher liegt als ursprünglich vermutet.)

Wäre die Sonne damals genauso einsam gewesen wie heute, müsste der Zufall bei diesem Ereignis eine große Rolle gespielt haben. Schließlich wären die Supernova und die Entstehung der Sonne räumlich wie zeitlich fast zusammengefallen. Geriet also ein massereicher Stern zufällig in die Umgebung der jungen Sonne, um just dort zu explodieren? Doch keine andere Supernova fand je so nahe bei der Sonne statt; ein solches Ereignis hätte wahrscheinlich alles Leben auf der Erde ausgelöscht. Weitaus plausibler ist die Annahme, dass die junge Sonne und der explodierte Stern ein und demselben dicht gepackten Sternhaufen angehörten. Dann ist eine nahe Supernova längst nicht mehr so unwahrscheinlich.

Die Vorstellung, dass die Sonne Teil eines Sternhaufens war, steht im Widerspruch zu dem, was noch immer in vielen Lehrbüchern zu lesen ist. Traditionell fassten Astronomen Sternhaufen in zwei Kategorien: galaktische oder offene Haufen sowie Kugelsternhaufen. Offene Sternhaufen sind jung, ihre Sterndichte ist nicht sehr hoch, und sie finden sich hauptsächlich in oder nahe der Milchstraßenebene. Das protoypische Beispiel für sie ist M44, die Krippe oder Praesepe. Diesen Sternhaufen kann man unter bestimmten Bedingungen selbst mit unbewehrtem Auge als Nebelfleck am Nachthimmel entdecken, tatsächlich aber ist er eine Ansammlung von bis zu 350 Sternen, die alle vor rund 700 Millionen Jahren entstanden.

Als unsere Sonne gerade einmal 1,8 Millionen Jahre alt war, explodierte in nächster Nähe ein riesiger Stern

Im Gegensatz zu offenen Sternhaufen sind Kugelsternhaufen sehr alt, dicht bevölkert und rund um die Galaxis zu finden. Den ersten seiner Art hatte der italienische Astronom Giovanni Maraldi im Jahr 1746 entdeckt: M15 enthält etwa eine Million Sterne und ist rund zwölf Milliarden Jahre alt.

Doch unsere Sonne passt weder in die eine noch in die andere Kategorie von Sternhaufen. Ihr relativ hohes Alter von 4,6 Milliarden Jahren deutet auf einen Ursprung in einem Kugelsternhaufen hin, ihre Position in der Milchstraßenebene eher auf einen galaktischen Haufen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurde allerdings klar, dass sich nicht alle Sternhaufen eindeutig einem der beiden klassischen Typen zuordnen lassen (siehe SdW 1/2004, S. 24).

Zu verdanken ist dies ursprünglich dem Sternhaufen R136 in der Großen Magellanschen Wolke. Als ihn die Astronomen im Jahr 1960 entdeckt hatten, hielten sie R136 zunächst für einen einzelnen, riesenhaften Stern mit 2000-facher Sonnenmasse, der 100 Millionen Mal stärker als die Sonne leuchtet. Im Jahr 1985 zeigten jedoch Gerd Weigelt und Gerhard Baier, beide damals an der Universität Erlangen-Nürnberg, mit Hilfe eines hochauflösenden Abbildungsverfahrens, dass R136 ein nur wenige Millionen Jahre alter Haufen ist, der aus rund 10.000 Sternen besteht. Seine Sterndichte ist so groß wie die eines Kugelsternhaufens, doch sein Alter ist das eines galaktischen Sternhaufens. R136 ist also das fehlende Glied, das beide Typen von Sternhaufen miteinander verbindet.

Seither haben Beobachter viele weitere ähnliche Haufen aufgespürt, doch damals herrschte großes Erstaunen unter den Theoretikern. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass Sterne auch heute noch in derart dichten Haufen entstehen. Gleichzeitig waren wir erleichtert, denn wir konnten die Daten auch nicht durch die Existenz eines einzelnen Riesensterns erklären. So oder so waren wir aber gezwungen, all unser Wissen über Sternhaufen zu überdenken. Mittlerweile gehen wir davon aus, dass alle Sterne einschließlich der Sonne in dichten Haufen wie R136 entstehen. Ein Sternhaufen wie dieser bildet sich aus einer interstellaren Gaswolke, um sich dann je nach seiner Masse und physikalischen Umgebung entweder zu einem galaktischen oder zu einem Kugelsternhaufen weiterzuentwickeln.

In solchen Haufen werden einige wenige sehr massereiche Sterne von vielen Leichtgewichten begleitet. Die Exemplare mit der geringsten Masse, etwa einem Zehntel der Sonnenmasse, stellen die Mehrzahl der Haufenmitglieder. Darüber hinaus gilt auf der gesamten Massenskala die Faustregel: Betrachtet man Sterne einer bestimmten Masse, so ist ihre Anzahl 20-mal höher als jene von Sternen der zehnfachen Masse.

Wenn wir davon ausgehen, dass einst ein Stern von 15- bis 25-facher Sonnenmasse in der Nähe der Sonne zur Supernova wurde, können wir also schließen, dass der Geburtshaufen der Sonne rund 1500 kleinere Sterne als diesen enthielt, und kennen so auch seine Mindestmasse. Die maximale Masse ergibt sich aus einer weiteren Überlegung. Damit massereiche Sterne, die als Supernova explodieren, ihre kleineren Geschwister nennenswert mit Materie anreichern können, müssen sie sich eher nahe dem Haufenzentrum befinden. In einem größeren Haufen aber benötigen massereiche Sterne längere Zeit, um sich dort anzusammeln. Auf Basis dieser Rahmenbedingungen zeigen meine Simulationen, dass der Haufen vermutlich weniger als 3500 Sterne enthielt.

Sterne mit 15- bis 25-facher Sonnenmasse explodieren nach einer Lebensdauer von etwa sechs bis zwölf Millionen Jahren, das Exem plar im Geburtshaufen muss also entsprechend lange Zeit vor der Sonne entstanden sein. Dass sich besonders massereiche Sterne eines künftigen Haufens gewöhnlich als erste bilden - mehrere Millionen Jahre vor sonnenähnlichen Sternen -, konnten Astronomen an anderen Himmelsobjekten wie etwa dem berühmten Trapez-Haufen im Orionnebel bereits nachweisen. Ein Haufen der vermuteten Größe ist allerdings gravitativ zu schwach, um sich zu einem Kugelsternhaufen zu entwickeln. Stattdessen geschah wohl Folgendes: Vor ihrem Ende als Supernovae schleuderten die massereichen Sterne im Haufenzentrum riesige Mengen Gas in den Raum und explodierten schließlich. Dadurch verringerte sich die Materiedichte im Haufen und auch sein Gravitationsfeld, so dass er expandierte und nach einer Lebensdauer von 100 bis 200 Millionen Jahren langsam auseinanderfiel.


Die Geburt des Urhaufens

Welche Ereignisse haben zur Geburt der Sonne geführt? Und was geschah danach? J. Jeff Hester und Steven J. Desch von der Arizona State University und ihre Kollegen haben diesen Prozess rekonstruiert. Dabei stützten sie sich auf Beobachtungen zahlreicher Sternhaufen ebenso wie auf die möglichen Eigenschaften jenes Haufens, zu dem einst auch unsere Sonne gehörte.

(Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:)

Zunächst bildet sich eine riesige Wolke aus molekularem Gas und beginnt, unter ihrem eigenen Gewicht zu kollabieren.

In den dichtesten Regionen der Wolke entstehen ein oder mehrere massereiche Sterne.

Jeder dieser massereichen Sterne emittiert ultraviolette Strahlung und ionisiert so das Gas in seiner Umgebung. In der Folge breitet sich eine Schockfront oder Dichtewelle mit einer Geschwindigkeit von einigen Kilometern pro Sekunde nach außen aus.

Binnen weniger Millionen Jahre erreicht die Schockfront Regionen bereits verdichteten Gases und komprimiert diese weiter. Sie kollabieren, so dass Sterne entstehen - darunter auch unsere Sonne.

Einige 100.000 Jahre später erreicht auch die Ionisationsfront die neugeborene Sonne. Das sie umgebende dünne Gas wird nun von dem eintreffenden heißen, ionisierten Gas erhitzt.


Den Geschwistern auf der Spur

Mehrere Indizien deuten darauf hin, dass die Sonne in einem Sternhaufen entstanden ist:

- Meteoriten aus der Frühzeit des Sonnensystems enthalten die Zerfallsprodukte kurzlebiger Radionuklide wie Eisen-60 und Aluminium-26. Quelle der Isotope ist wahrscheinlich ein in der Nähe explodierter Stern. Die räumliche Nähe und das ungefähre zeitliche Zusammentreffen dieser Supernova mit der Entstehung der Sonne ist höchst unwahrscheinlich - es sei denn, unser Zentralgestirn besaß einst noch viele Begleiter.

- Schwere Elemente sind in der Sonne häufiger, als es ihre Position in der Galaxis erwarten lässt. Möglicherweise stammen auch diese Elemente teilweise von dem explodierten Stern.

- Dass Uranus und Neptun wesentlich kleiner als Jupiter und Saturn sind, könnte sich durch Die starke Strahlung eines nahen Sterns erklären lassen, der einst ihre Außenschichten verdampft hat. Näher bei der Sonne gelegene Planeten entgingen diesem Schicksal, weil interplanetarisches Gas sie von der Strahlung abschirmte.


Doch zurück zu der Zeit, bevor das geschah und die Sterne im Haufen noch dicht gepackt waren: Es ist leicht vorstellbar, dass es einen von ihnen damals auf eine Bahn verschlug, die quer durch das Sonnensystem führte. Durch einen solchen engen Vorübergang wären Planeten, Asteroiden und Kometen aus ihren ursprünglichen kreisförmigen Bahnen, die alle in ein und derselben Ebene lagen, herausgerissen und in stark elliptische und geneigte Bahnen geworfen worden. Derartige Umlaufbahnen besitzen tatsächlich viele Kometen, die mehr als 50 Astronomische Einheiten (AE, etwa die mittlere Entfernung Erdene) von der Sonne entfernt sind (und sie damit auch jenseits der Bahn von Pluto umrunden).

Die innere Dynamik des Sonnensystems, nicht einmal der gravitative Einfluss des Planeten Jupiter, scheint dafür eine Erklärung zu liefern. Am wahrscheinlichsten ist daher, dass die Kometenbahnen einst durch einen Stern durcheinandergebracht wurden, der in einem Abstand von etwa 1000 AE an der Sonne vorüber zog. Daraus lässt sich auch schließen, dass kein stellarer Eindringling je näher als 100 AE an die Sonne herangekommen ist, denn die Planeten selbst besitzen außerordentlich reguläre Umlaufbahnen.

Die Kometenbahnen wurden einst durch einen Stern durcheinander gebracht, der nahe an der Sonne vorüberzog

Diese Überlegungen erlaubten mir nun, die Ausdehnung des Haufens abzuschätzen. Eine hinreichend große Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein Stern während der Lebensdauer des Haufens in einem Abstand von 1000 AE an der Sonne vorüberzieht, ergibt sich erst bei einem Haufendurchmesser von weniger als zehn Lichtjahren. Andererseits muss er größer als drei Lichtjahre gewesen sein, damit im gleichen Zeitraum und wiederum mit hinreichender Wahrscheinlichkeit kein Stern näher als 100 AE an die Sonne herankam. Kurz gesagt: Der Geburtshaufen der Sonne ähnelte R136, wies aber eine deutlich geringere Sterndichte auf. So standen die Sterne auch weit genug auseinander, um die Entstehung von Planeten nicht zu behindern.

Doch wo in der Galaxis befand sich dieser Geburtshaufen einst? Das Sonnensystem bewegt sich mehr oder weniger innerhalb der gaaktischen Scheibe auf einer nahezu kreisl förmigen Bahn um das galaktische Zentrum. Derzeit ist es rund 30.000 Lichtjahre vom Zentrum entfernt, befindet sich etwa 15 Lichtjahre oberhalb der galaktischen Ebene und bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von rund 234 Kilometer pro Sekunde. Die Sonne hat das galaktische Zentrum seit ihrer Entstehung also schon 27-mal umrundet. Allerdings ist ihre Bahn nicht geschlossen. Vielmehr wurde ihr vom Gravitationsfeld der Milchstraße - das Astronomen aus der Bewegung von Sternen und interstellaren Gaswolken ermitteln können - eine komplexere Bahn aufgezwungen.


Unerklärliches Ergebnis

Unter der bislang vorläufigen Annahme, dass dieses Gravitationsfeld in den vergangenen 4,6 Milliarden Jahren unverändert blieb, habe ich die Bahn des Sonnensystems zeitlich zurückverfolgt. Das Ergebnis meiner Berechnungen: Die Sonne entstand 33.000 Lichtjahre vom galaktischen Zentrum entfernt und etwa 200 Lichtjahre oberhalb der galaktischen Ebene. Dieses Resultat ist allerdings verwirrend. Denn die Region um den berechneten Geburtsort der Sonne ist ärmer an schweren Elementen - deren Häufigkeit zu den Außenbezirken der Milchstraße hin abnimmt -, als es ihr Vorkommen in der Sonne erwarten ließe. Machten die Forscher allein die solaren Werte zur Basis ihrer Überlegungen, würden sie vielmehr erwarten, dass die Sonne 9000 Lichtjahre näher am galaktischen Zentrum entstanden ist.

Eine Erklärung für diese Diskrepanz steht indessen noch aus. Vielleicht hat ja dieselbe Supernova, die einst die Meteoriten mit Eisen-60 anreicherte, auch die Sonne mit zusätzlichen schweren Elementen versorgt? Oder meine Bahnberechnungen sind falsch, weil sich das Gravitationsfeld der Milchstraße im Lauf der Zeit doch verändert hat. Oder aber die Bahn des Sonnensystems unterlag zeitweise dem Einfluss naher Sterne oder Gaswolken.

Widmen wir uns indessen den Geschwistern der Sonne. Auch sie dürften das Milchstraßenzentrum mit Geschwindigkeiten von über 200 Kilometer pro Sekunde umkreisen. Ihre Relativgeschwindigkeiten, also die Geschwindigkeitsunterschiede zwischen den ehemaligen Haufenmitgliedern, hängen aber vor allem von den gegenseitigen Anziehungskräften im ursprünglichen Haufen ab und betragen lediglich wenige Kilometer pro Sekunde. Der ursprüngliche Sternschwarm hat sich während der 27 Umläufe um das galaktische Zentrum darum langsam zu einem gestreckten Bogen ausgebreitet, der sich mittlerweile über die Hälfte einer Umlaufbahn erstrecken dürfte.


Das langsame Sterben des Urhaufens

Bevor der Geburtshaufen der Sonne sich auflöst, drückt er dem Sonnensystem noch seinen Stempel auf. Die Strahlung anderer Sterne »stanzt« seine Form aus, eine nahe Supernova reichert die wachsenden Planeten mit radioaktiven Isotopen an, und die Schwerkraft eines vorbeiziehenden Sterns wirbelt die Umlaufbahnen der Kometen durcheinander.

(Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:)

Binnen 10.000 Jahren hat die durchziehende Ionisationsfront das zirkumsolare Gas weit im Weltraum verteilt. Die protoplanetare Scheibe um die Sonne ist der ultravioletten Strahlung nun direkt ausgesetzt.

In den nachfolgenden 10.000 Jahren werden außen liegende Bereiche der Scheibe durch die Strahlung verdampft, bis sie einen Radius von nur noch rund 50 Astronomischen Einheiten besitzt.

Etwa zwei Millionen Jahre später explodiert ein massereicher Stern. Seine Trümmer, darunter gerade erst erbrütete Radioisotope, erreichen das Sonnensystem. Sie reichern die Vorläufer unserer Planeten an und liefern die Energie für deren frühe geologische Aktivität.

Zu einem unbekannten Zeitpunkt während der folgenden etwa 100 Millionen Jahre zieht ein anderer Stern des Haufens in wenigen tausend Astronomischen Einheiten Entfernung an der Sonne vorüber. Seine Anziehungskraft wirft Kometen in den Außenbereichen des Sonnensystems aus der Bahn. Ihre neuen Umlaufbahnen sind nun stark gegen die Ebene des Systems geneigt, in der sich die Planeten bewegen.

Die Anziehungskraft des Sternhaufens nimmt durch die Selbstzerstörung seiner massereichsten Mitglieder ab, so dass er binnen 100 bis 200 Millionen Jahren zerfällt. Die Haufenmitglieder, darunter die Sonne, treiben nun langsam auseinander.


Eine Familie zerfällt

Indem sie die wahrscheinlichen Bahnen der Geschwister der Sonne berechnen, können Theoretiker abschätzen, wo sich diese heute befinden, und die Beobachter so bei ihrer Suche unterstützen. Bereits die Entdeckung eines einzigen solchen Sterns würde den Forschern helfen, den Ursprung des Sonnensystems zu rekonstruieren.

(Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:)

200 Millionen Jahre nach Entstehung der Sonne
Während sie mit mehr als 200 Kilometer pro Sekunde um das Zentrum der Galaxis kreisen, entfernen sich die Sonne und ihre Geschwister mit einer Geschwindigkeit von nur einigen Kilometern pro Sekunde voneinander.

250 Millionen Jahre nach Entstehung der Sonne
Nachdem sie das galaktische Zentrum zu einem Viertel umrundet haben, sind die Sterne erst über eine Strecke von etwa 100 Lichtjahren verstreut.

nach 4,6 Milliarden Jahren (heute)
Nach 27 Umläufen bilden die Sterne einen Zehntausende von Lichtjahren langen Strom. Etwa 50 von ihnen dürften noch immer maximal 300 Lichtjahre von der Sonne entfernt sein.


Meinen Berechnungen zufolge heißt das aber, dass sich innerhalb eines Radius von 300 Lichtjahren um unsere gegenwärtige Position noch immer etwa 50 Geschwister der Sonne aufhalten. Sucht man in bis zu 3000 Lichtjahren Entfernung, könnte man sogar auf 400 solcher Sterne stoßen! Diese würden der Bahn der Sonne entweder folgen oder ihr vorauseilen, je nachdem, welche Relativgeschwindigkeiten sie ursprünglich besaßen und wann sie sich von dem Sternhaufen ablösten.

Am besten sucht man nach ihnen in der Milchstraßenebene, und zwar entweder in Bewegungsrichtung des Sonnensystems oder genau in entgegengesetzter Richtung. Einer meiner Studenten fahndet bereits in einem Katalog von Sternen, die der europäische Satellit Hipparcos in den frühen 1990er Jahren ausfindig gemacht hat. Doch die Messungen waren wahrscheinlich nicht genau genug, um die gesuchten Exemplare sicher zu identifizieren.

Anders Gaia: Der Satellit soll binnen fünf Jahren mit höchster Genauigkeit die dreidimensionalen Raumpositionen und Geschwindigkeiten von etwa einer Milliarde Sterne messen. Diese Volkszählung wird nahezu alle Sterne erfassen, die sich in einem Radius von mehreren tausend Lichtjahren um die Sonne aufhalten. In diesen Daten können wir dann nach viel versprechenden Kandidaten Ausschau halten und auch ihre Zusammensetzung überprüfen. Sie sollte jener der Sonne ähneln, da die einstige Supernova natürlich nicht nur das junge Sonnensystem, sondern auch andere Sternsysteme im Haufen mit schweren Elementen angereichert hat.

Identifizieren wir auch nur einen einzigen Geschwisterstern der Sonne, würde uns dies wertvolle Informationen über die Frühzeit des Sonnensystems verschaffen - eine Epoche, über die wir bislang kaum etwas wissen. Zudem bieten die Geschwister der Sonne auch exzellente Voraussetzungen für die Suche nach lebensfreundlichen Planeten. Die Sonne treibt heute zwar relativ isoliert durchs Weltall, doch viele ihrer Besonderheiten - nicht zuletzt die Tatsache, dass ihr Licht auch auf einen bewohnten Planeten fällt - lassen sich nur im Kontext ihrer Familiengeschichte begreifen.


Simon F. Portegies Zwart ist Professor für Computer-Astrophysik an der Sternwarte der niederländischen Universität Leiden. Seine Spezialgebiete sind Anwendungen für Hochleistungsrechner und gravitative stellare Dynamik insbesondere in Systemen hoher Sterndichte.


Literatur

Elmegreen, B. et al.: The Formation of Star Clusters. In: American Scientist 86(3), S. 264-273, Mai-Juni 1998.

Hester, J. et al.: The Cradle of the Solar System. In: Science 304, S. 1116-1117, 21. Mai 2004.

Looney, L. et al.: Radioactive Probes of the Supernova-Contaminated Solar Nebula: Evidence That the Sun Was Born in a Cluster. In: Astrophysical Journal 652(2), S. 1755-1762, 1. Dezember 2006.

Portegies Zwart, S.F.: The Lost Siblings of the Sun. In: Astrophysical Journal Letters 696(1), S. L13-L16, 1. Mai 2009.


Diesen Artikel können Sie als Audiodatei beziehen; siehe www.spektrum.de/audio

Weblinks zu diesem Thema finden Sie unter www.spektrum.de/artikel/1019950.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 26:
Bis zu 3500 Sterne könnten einst in unmittelbarer Nähe des gerade entstehenden Sonnensystems geleuchtet haben, einer von ihnen explodierte sogar in direkter kosmischer Nachbarschaft. Sie alle sind oder waren Geschwister der Sonne: Entstanden aus ein und derselben interstellaren Wolke, drängten sie sich ursprünglich in einer Region mit einem Durchmesser von wenigen Lichtjahren. Obwohl sie mittlerweile rund um die Milchstraße verteilt sind, könnten Astronomen einige von ihnen schon bald aufspüren.

Abb. S. 29:
Der Sternhaufen R136 im Tarantelnebel ähnelt dem Geburtshaufen der Sonne, weist allerdings eine erheblich höhere Sterndichte auf.

Abb. S. 32:
Die nächsten Nachbarn
Die Sonne ist gegenwärtig rund 30.000 Lichtjahre vom Zentrum der Milchstraße entfernt. In einem Umkreis von zehn Lichtjahren um unser Zentralgestirn kennen die Astronomen nur elf weitere stellare Nachbarn. Im einstigen Geburtshaufen der Sonne hingegen befanden sich im selben Volumen über 1000 Sterne.


© 2010 Simon F. Portegies Zwart, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 3/10 - März 2010, Seite 26 - 33
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Mai 2010