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SONNE/117: Sonnenflecken - neu gezählt (Sterne und Weltraum)


Sterne und Weltraum 10/15 - Oktober 2015
Zeitschrift für Astronomie

Beobachtungen
Sonnenflecken neu gezählt

Von Klaus-Peter Schröder


Die Sonnenfleckenrelativzahl ist ein aussagekräftiger Indikator für die Aktivität unseres Tagesgestirns. Sie wird täglich vom Solar Influence Data Centre (SIDC) im belgischen Uccle ermittelt. Mit Wirkung zum 1. Juli 2015 änderte das SIDC seine Bestimmungsmethode, um die Relativzahlen besser mit älteren Beobachtungen abgleichen zu können. Die »neue« Relativzahl entspricht nun zumindest formal wieder der ursprünglichen Zählweise, die der Schweizer Astronom Rudolf Wolf im 19. Jahrhundert einführte.


Für Amateurastronomen ist die Sonne ein attraktives Himmelsobjekt - nicht nur, weil sie der hellste Stern an unserem Himmel ist, sondern weil sich auf ihrer Oberfläche ständig Veränderungen zeigen, die sich selbst mit einfachen Optiken und ohne komplizierte Zusatzgeräte systematisch sowie wissenschaftlich aussagekräftig beobachten lassen. Unverzichtbar sind allerdings geeignete Maßnahmen zum Schutz der Augen, beispielsweise ein Objektivsonnenfilter hoher Qualität. Damit lassen sich durch ein Teleskop dunkle Flecken, helle Fackeln und Lichtbrücken erkennen, in denen sich die ständig veränderliche Aktivität der Sonne manifestiert (siehe SuW 8/2015, S. 76).

Bereits im Jahr 1849 entwickelte der Züricher Astronom, Mathematiker und Sonnenbeobachter Johann Rudolf Wolf eine Methode, mit der sich aus der täglichen Beobachtung der Sonnenflecken eine sehr einfache und zugleich aussagekräftige Zahl bestimmen lässt: eine für die Fleckenaktivität charakteristische Größe, über deren Mittelwerte sich die Sonnenfleckenaktivität auch über Jahrzehnte hinweg vergleichen und statistisch auswerten lässt - die »Relativzahl« war geboren. Man nehme einfach die Zahl der Gruppen g mal zehn und addiere dazu die Gesamtzahl f aller Einzelflecken. So ergibt sich die Relativzahl R = 10 g + f.

Der in dieser Formel enthaltene Wichtungsfaktor 10 für die Fleckengruppen war zwar intuitiv gewählt worden, er ist aber eine glückliche Wahl. Er spiegelt nämlich die erheblich größere Bedeutung einer neuen Fleckengruppe - und somit eines Aktivitätsgebiets - gegenüber einem einzelnen neuen Fleck in einer bestehenden Gruppe wider. Zugleich entspricht er der mittleren Zahl von Flecken einer Gruppe. Dieser glücklichen Definition ist es zu verdanken, dass sich die Relativzahl, über längere Zeiträume gemittelt, recht gut proportional zu anderen, physikalisch besser definierten Aktivitätsindikatoren verhält, wie beispielsweise die bei der Wellenlänge von 10,7 Zentimetern gemessene solare Radiostrahlung.

Auch in anderer Hinsicht ist die Sonnenfleckenrelativzahl wissenschaftlich wertvoll: Sie lässt sich mit Hilfe historischer Zeichnungen weit zurück, bis in die Zeit von Galileo Galilei vor rund 400 Jahren bestimmen.

Jeder zählt auf seine Weise

Mit der Methode der Relativzahlen werteten im 19. Jahrhundert erst Rudolf Wolf in Zürich und später der deutsche Sonnenforscher Gustav Spörer in Potsdam ältere Zeichnungen aus, die sie in Archiven vorfanden. Um das höhere Auflösungsvermögen der modernen Teleskope zu berücksichtigen, führten die Astronomen bald einen Vorfaktor ein. Diese mit k bezeichnete Korrekturgröße gleicht die Relativzahlreihen verschiedener Beobachter aneinander an. So werden zugleich auch die persönlichen Vorlieben bei der Auslegung der vorgefundenen Fleckensituation berücksichtigt: Einer mag eher dazu neigen, eine sehr lang gestreckte Gruppe als zwei Gruppen zu bewerten oder zählt auch schwächste Poren vielleicht noch als Einzelfleck, während konservative Beobachter wie seinerzeit Rudolf Wolf vielmehr nach dem Prinzip »im Zweifel nicht« vorgehen.

Im frühen 20. Jahrhundert legte sich die von Wolf 1864 gegründete Eidgenössische Sternwarte Zürich unter seinem Nachfolger Alfred Wolfer den Reduktionsfaktor 0,6 zu, um ihre Relativzahlen auf diese Weise besser mit den niedrigeren Werten des 19. Jahrhunderts vergleichen zu können. Wolfer zählte wesentlich progressiver als Wolf, der die Konsistenz mit historischen Zahlen noch über eine konservative Zählweise an Stelle eines Reduktionsfaktors erhalten wollte.

Im Jahr 1980 übernahm das Solar Influence Data Centre (SIDC) federführend die Ermittlung der Relativzahlen und setzte die Arbeitsweise der Züricher Sternwarte fort - mit demselben Reduktionsfaktor und einem besonders erfahrenen Bezugsbeobachter. Auch das Sonne-Netz der deutschlandweiten Vereinigung der Sternfreunde e.V. (VdS) ermittelt seit Jahrzehnten die täglichen und die mittleren Relativzahlen. Dabei wird für jeden Beobachter ein persönlicher Reduktionsfaktor bestimmt, der sich aus dem Vergleich zu den Mittelwerten der Gruppe ergibt. Die meisten liegen im Bereich von 0,6 und 1,0 und ermöglichen eine gute Vergleichbarkeit mit der von Wolf eingeführten alten Züricher Relativzahl.

Wie konsistent ist die Relativzahl langfristig?

Somit bot die Züricher oder SIDC-Relativzahl über sehr lange Zeit hinweg einen gewissen Standard. Man sprach von sehr hohen Maxima, wenn die Monatsmittel mehr als 150 erreichten und von schwachen Zyklen, wenn sie nur bei 50 lagen. Der gegenwärtige 24. Zyklus erreichte vor knapp zwei Jahren ein eher mäßig hohes Maximum von 80. Zu einer derartigen Charakterisierung von Zyklen werden stets gleitende Monatsmittel herangezogen, mit einer zeitlichen Basis von mindestens 14 Monaten, um die oft starken Schwankungen zwischen den Monatsmitteln auszugleichen.

Soweit erschien alles in bester Ordnung. Dennoch konnten die Forscher bei genauerer Betrachtung nicht zufrieden sein. Dies ist vor allem dem erneuten Interesse an der historischen Perspektive der Sonnenaktivität und ihrer Veränderungen über lange Zeiträume hinweg geschuldet. So ist seit einigen Jahrzehnten klar, dass der schon von Gustav Spörer vor 130 Jahren und von Edward W. Maunder vor 90 Jahren identifizierte Zeitraum sehr geringer Sonnenaktivität, der etwa von 1645 bis 1715 dauerte, durchaus real ist. Die heute als »Maunder-Minimum« bekannte Phase könnte für damalige Klima-Anomalien in Nordeuropa und Nordamerika mitverantwortlich sein.

In Anbetracht der in den zurückliegenden 20 Jahren wieder abnehmenden Sonnenaktivität entbrannte daher die Frage: Ist der gegenwärtige Zyklus bereits als wenig aktiv anzusehen oder waren es vielmehr die kräftigen Zyklen der 1940er bis 1990er Jahre, die aus dem üblichen Rahmen fielen? Deshalb unterzog ein internationales Team von 40 Experten die vielen verschiedenen Zeitreihen von Relativzahlen und ihre teilweise unterschiedlichen Zählweisen einer genauen Analyse und suchte dabei nach systematischen Effekten, Driften und Konsistenzproblemen.

Der Teufel steckt im Detail

Bei dieser vier Jahre dauernden Arbeit fiel vor allem ein Detail der Züricher Zählweise ins Gewicht, das dort von Max Waldmeier im Jahr 1947 eingeführt und seitdem praktiziert wurde. Im Gegensatz zur ursprünglichen Definition der Relativzahl - und auch zur Vorgehensweise anderer Organisationen wie dem Sonne-Netzwerk der VdS - wurden große Flecken, beispielsweise solche mit Penumbra, gegenüber den anderen mehrfach gezählt und somit stärker gewichtet, auf einer Skala von 1 bis 5.

Längere Vergleichsreihen mit und ohne Mehrfachzählung haben in den zurückliegenden zwölf Jahren gezeigt, dass diese Änderung zu einer Inflation der Züricher Relativzahlen ab 1947 von durchschnittlich knapp 20 Prozent führte! Deren Bereinigung stellt nun in der Tat eine große Verbesserung der Konsistenz in der Zeitreihe dar, unter anderem ergibt sich jetzt ein besserer Gleichlauf der neuen Relativzahl zur reinen Gruppenzahl der Sonnenflecken über die zurückliegenden 150 Jahre. Deshalb verwendet das SIDC für die neue Relativzahl zukünftig keine Mehrfachzählung mehr.

Da man nun schon bei der Arbeit war, alle Reduktionsfaktoren besser aneinander und an die Züricher/SIDC Zeitreihe anzugleichen, fiel der Entschluss, den traditionellen Züricher Reduktionsfaktor von 0,6 fallen zu lassen und lieber die historischen und parallelen Zeitreihen durch entsprechend größere Vorfaktoren anzugleichen. Der dadurch auftretende Sprung mag gewöhnungsbedürftig sein, hilft aber nach Ansicht des Expertenteams, die neue von der alten Zeitreihe auf den ersten Blick zu unterscheiden.

Im Vergleich zum alten Züricher Standard haben wir jetzt, ohne dass sich die Aktivität selbst geändert hätte, für die Zeit vor 1947 etwa 67 Prozent (1,0:0,6) größere Relativzahlen und ab 1947 noch etwa 40 Prozent größere, weil seitdem die Mehrfachzählung großer Flecken ausgeglichen werden musste. Trotz seiner relativen Abwertung zu den Zyklen davor bleibt das extrem hohe Maximum des 19. Zyklus im Jahr 1957 der Rekordhalter (siehe Grafiken links). Es erreicht nun Werte von 275 statt knapp 200. Der gegenwärtige, eher schwächliche Zyklus kam in seinem Maximum von vor knapp zwei Jahren nun auf etwa 110 statt 80.

Wissenschaftlicher Gewinn

Ein historischer Vergleich bringt uns zu einem interessanten Ergebnis, das wir dieser Neubewertung der Relativzahl-Zeitreihe verdanken: Das so genannte Dalton-Minimum, das vor 200 Jahren auftrat und weniger lang sowie schwächer ausgeprägt war als das Maunder-Minimum, aber besser dokumentiert ist, brachte zwei schwache Maxima hervor, deren Werte früher etwa 45 betrugen, jetzt aber bei 75 liegen. Das ist nur knapp 30 Prozent schwächer als das gegenwärtige Maximum von 110! Für die nächsten Jahrzehnte darf man daher ähnliche Zustände wie beim Dalton-Minimum auf der Sonne durchaus in Betracht ziehen.

Auf jeden Fall stehen den Sonnenbeobachtern interessante Zeiten bevor - und vielleicht auch den Klimaforschern. Zwar lässt sich das heutige, wärmere Klima wegen des stark erhöhten Kohlendioxidgehalts der Erdatmosphäre nicht direkt mit dem Wetter im Dalton-Minimum vergleichen, aber schon während des ausgeprägten, langen Minimums von 2006 bis 2010 gab es eine interessante Parallele: Sehr kalte Winter traten vermehrt auf. Von den fünf Wintern dieses Zeitraums waren auf der Nordhalbkugel drei sehr kalt; sonst sind es etwa ein bis zwei von zehn Wintern. Ob dies nur ein Zufall kleiner Zahlen war oder doch ein kausaler, wenngleich subtiler Zusammenhang besteht, diese Frage könnte uns ein weiteres Dalton-Minimum sicherlich beantworten.

Homogene Zeitreihe

Das wichtigste Ergebnis der hier beschriebenen Bemühungen um die Relativzahl ist also eine Zeitreihe der Sonnenaktivität der letzten vier Jahrhunderte, die wesentlich homogener als zuvor ist und die sich somit besser für das Studium langfristiger Änderungen und etwaiger klimatischer Auswirkungen eignet. Gleichzeitig ist man beim SIDC formal wieder zur ursprünglichen wolfschen Relativzahl-Formel ohne Reduktionsfaktor zurückgekehrt. Weiterhin gilt der progressive Stil der Nachfolger Wolfs, jetzt aber ohne die zwischenzeitlich inflationäre Mehrfachzählung. Das Sonne-Netz der VdS plant in den nächsten Monaten durch Neuberechnung seiner Vorfaktoren ebenfalls eine Umstellung auf diesen neuen SIDC-Standard.

Als Sonnenbeobachter hätte ich mir nur gewünscht, diese Änderungen würden in einem Aktivitätsminimum erfolgen, denn null Flecken ergeben immer eine Relativzahl von Null, egal wie man sie nun zählt und wichtet. Momentan müssen wir jedoch sehr genau darauf achten, von welcher Art Relativzahl denn nun gerade die Rede ist: von der »alten«, oder von der »neuen«?


Klaus-Peter Schröder arbeitet an der Universität Guanajuato in Zentralmexiko als Professor für Astrophysik. Als Student beobachtete er die Sonne über viele Jahre hinweg regelmäßig mit dem eigenen Teleskop, heute ist die stellare wie solare Aktivität einer seiner Forschungsschwerpunkte.


Literaturhinweise

Clette, F. et al.: Revisiting the Sunspot Number. A 400-Year Perspective on the Solar Cycle. In: Space Science Reviews 186, S. 35-103, 2014
Deng, L. H. et al.: Relative Phase Analyses of 10.7 cm Solar Radio Flux with Sunspot Numbers. In: New Astronomy 23-24, S. 1-5, 2013

Dieser Artikel und Weblinks unter:
www.sterne-und-weltraum.de/artikel/1362499


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 67 oben:
Der Schweizer Astronom und Mathematiker Johann Rudolf Wolf (1816-1893) beobachtete die Sonnenflecken systematisch und führte die Relativzahl ein. Für wissenschaftliche Untersuchungen ist sie noch heute wichtig. Das mit dem Weltraumobservatorium SDO aufgenommene Bild zeigt die große Sonnenfleckengruppe vom 23. Oktober 2014.

Grafik S. 67 unten:
Die bei der Wellenlänge von 10,7 Zentimetern gemessene Radiostrahlung (oben) der Sonne schwankt im gleichen Rhythmus wie die Relativzahl (unten) und ist daher ebenfalls ein nützlicher Indikator für die Sonnenaktivität. Die Kurven lassen den Aktivitätszyklus erkennen, dessen Periode von rund elf Jahren Rudolf Wolf erstmals genau bestimmte.

Grafik S. 68:
Der zeitliche Verlauf der neuen SIDC-Relativzahl (oben) ist hier gemeinsam mit der bisherigen Relativzahl dargestellt, die zum Angleich durch 0,6 dividiert wurde. Vor allem die hohen Zyklen nach 1947 haben im Vergleich zur früheren Aktivität etwa 18 Prozent eingebüßt. Durch den Wegfall des früheren Vorfaktors von 0,6 sind die SIDC-Relativzahlen nun um knapp 40 Prozent höher als zuvor, vor 1947 sogar um 67 Prozent. Das Diagramm unten zeigt den zeitlichen Verlauf des Verhältnisses der neuen zur alten Relativzahl.


Der Artikel ist als PDF-Datei mit Abbildungen abrufbar unter:
http://www.spektrum.de/pdf/suw-2015-10-s066-pdf/1364827

© 2015 Klaus-Peter Schröder, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg

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Quelle:
Sterne und Weltraum 10/15 - Oktober 2015, Seite 66 - 69
URL: http://www.spektrum.de/pdf/suw-2015-10-s066-pdf/1364827
Zeitschrift für Astronomie
Herausgeber:
Prof. Dr. Matthias Bartelmann (ZAH, Univ. Heidelberg),
Prof. Dr. Thomas Henning (MPI für Astronomie)
Redaktion Sterne und Weltraum:
Haus der Astronomie, MPIA-Campus
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. November 2015

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