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BERICHT/046: Mit dem Kamera-Auge der Wissenschaft (uni'kon Uni Konstanz)


uni'kon 42|2011 - Universität Konstanz

Mit dem Kamera-Auge der Wissenschaft

Von Jürgen Graf


Prof. Dr. Martin Wikelski, Professor für Ornithologie an der Universität Konstanz und zugleich Direktor des Max-Planck-Instituts für Ornithologie in Radolfzell, wirkte vor und hinter der Kamera in der aufsehenerregenden Tierdokumentarfilmreihe "Great Migrations" von National Geographic mit. Für uni'kon erklärt er den wissenschaftlichen Hintergrund der Dokumentarfilme.


"Fliege, kleiner bunter Schmetterling! Für dich gibt es keine Grenzen. Alles Gute wünsch ich dir. Fliegst du fort in fremde Länder, dann bist du ein Gruß von mir", heißt es in dem Kinderlied. Was das Lied jedoch nicht verrät: Der kleine Schmetterling fliegt keineswegs alleine, sondern wird begleitet von Millionen seiner Art. Mit dabei auf seiner kontinenteüberschreitenden Reise: die Kamera von National Geographic.

In der bahnbrechenden Dokumentarfilmreihe "Great Migrations" verfolgte das Filmteam von National Geographic die Massenwanderungen der großen Tierherden und -schwärme über die Kontinente hinweg und bringt nun Tieraufnahmen in nie gesehener Schärfe in die Wohnzimmer. National Geographic profitierte dabei vor allem von zwei Faktoren: Neueste HD-Kameratechnik, die zum ersten Mal für Tieraufnahmen zum Einsatz kam, sowie ein Fundament aus wissenschaftlicher Beratung nah am Puls der Forschung. Einer der wissenschaftlichen Berater ist der Konstanzer Ornithologe Prof. Dr. Martin Wikelski.

Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Zeitlupe, die Sonne scheint durch seine hauchdünnen Flügel hindurch. Luftaufnahmen von einer Herde aus Tausenden von Gnus und Zebras, die über die Savanne der Serengeti donnert. Ein Gepard, der in Zeitlupe seine Beute schlägt. Tausende von Krabben, wie sie vor der Kamera in der Meeresbrandung der Weihnachtsinseln tänzeln. Es ist geradezu eine Symphonie der Bilder, wenn die Kamera in "Great Migrations" so nahe an die Tiere heranzoomt und derart gestochen scharfe Bilder liefert, dass man jede Muskelbewegung und jede Gesichtszuckung der Tiere erkennt. Doch eigentlich hat der Film einen viel weiteren Fokus, als die Bewegung einzelner Tier hochauflösend einzufangen: "Great Migrations" ergründet die Massenphänomene der weltumspannenden Tierwanderungen und ihre globalen Zusammenhänge: Warum überqueren Tier ganze Kontinente, über welche Routen ziehen sie - und wie genau geschieht dies? Nach welchen Mustern bewegen sich die Schwärme und Herden? Wie finden sich die einzelnen Tiere zurecht, durch welche Sinnesleistungen navigieren sie? Wie viel Energie brauchen sie für ihre Reise bis ans andere Ende des Globus? Auf der Spur der Massenwanderungen wird vor allem eines deutlich: Wie erschreckend wenig der Mensch bisher tatsächlich über die Tierwanderungen und ihre ökologischen Zusammenhänge weiß - noch immer ist es schwierig, Tiere über einen längeren Zeitraum zu beobachten. "Hier ist massiver Forschungsbedarf: Wie hängt zum Beispiel Westafrika mit Ost- und Südafrika zusammen, wenn Flughunde zu Hunderttausenden auf ihrer Reise Pflanzensamen und Krankheitserreger transportieren? Wir wollen im Endeffekt Lebenszusammenhänge an sich verstehen, den Puls des Planeten. Wenn wir Tiere nicht systematisch auf ihrer globalen Reise verfolgen können, dann ist die Ökologie, die wir betreiben, eigentlich ziemlich sinnlos", erklärt Martin Wikelski: "Grundlegend ist für uns die einfache Frage: Wo setzt Selektion an? Wie, wann und warum stirbt eigentlich ein Tier? Wenn wir das wissen, dann schlüsselt sich uns die gesamte Biologie auf." Eine Hauptrolle im Film und in Wikelskis Forschung spielt deshalb immer wieder eine verschwindend kleine technische Apparatur: ein Peilsender, der es erlaubt, Tierbewegungen global nachzuverfolgen und biotechnische Daten von der Flügelschlagfrequenz bis zum Stresslevel der Tiere zu gewinnen.

Es erfordert viel Fingerspitzengefühl, um einen der kleinsten Sender der Welt auf dem Rücken eines Schmetterlings anzubringen - und das auch noch vor laufender Filmkamera. Eigens für die Aufnahmen von "Great Migrations" wurde erstmalig ein Monarchfalter mit einem nur wenige Millimeter großen Sender ausgestattet: und zwar hier in Konstanz, im Schmetterlingshaus der Insel Mainau, von Martin Wikelski. Die konsequente "Besenderung" weiterer Tierarten ist ein Schritt für Wikelski, um ein Gesamtbild der ökologischen Zusammenhänge zu erhalten - und Rückschlüsse über das Zugverhalten der Tiere und ihre Beweggründe. "Wir bauen eine globale Bibliothek der Messdaten von Tierbeobachtungen auf", skizziert Wikelski: "In diesem Bereich ist Konstanz im Moment Weltführer." In den Auswertungen dieser Daten zeichnet sich ein Umdenken der Forschung zur Schwarmintelligenz ab: Die traditionelle Lehrmeinung, dass Schwarmtiere ihr Verhalten zum Wohl des gesamten Schwarms ausrichten, macht einer individuelleren Betrachtungsweise Platz: "Das Individuum handelt nicht zum Wohl der Gruppe, sondern nur für sich selbst. Aus den vielen eigennützigen Entscheidungen entsteht etwas, das aussieht wie ein intelligentes Ganzes", erläutert Martin Wikelski: "Die Forschung versteht immer besser, dass es in den Schwärmen kein Leittier gibt, sondern eine Gruppendynamik."

So klein die Sender zur Tierbeobachtung auch sind: Im Grunde ist ihre noch analoge Technik längst veraltet. Ein öffentliches satellitengestütztes Tier-Beobachtungssystem ab 2014, das Tiere live auf jedermanns Handy bringt, wird neue Erkenntnisse über die Massenbewegungen von Tieren bringen - und neue Herausforderungen, schließlich bewegen sich Chancen und Risiken von Überwachungssystemen auf einem schmalen Grat: "Deshalb wollen wir in diesem Projekt alles öffentlich durchführen: Damit niemand es manipulieren oder monopolisieren kann", erklärt Wikelski: "Da entsteht etwas völlig Neues, was den Menschen vielleicht auch mehr Gefühl für das Leben auf dem Planeten gibt."


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Quelle:
uni'kon 42|2011, S. 16-17
Herausgeber: Der Rektor der Universität Konstanz
Redaktion: Dr. Maria Schorpp
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juli 2011