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FORSCHUNG/782: Biodiversitätsforschung - Die Vielfalt zwischen den Arten (Einblicke - Uni Oldenburg)


Einblicke - Forschungsmagazin der Universität Oldenburg
Nr. 53/Frühjahr 2011

Die Vielfalt zwischen den Arten

Von Helmut Hillebrand und Anja Fitter


Das Artensterben nimmt rasant zu - eine Nachricht, die die Biodiversitätsforschung auch über Wissenschaftsgrenzen hinaus bekannt gemacht hat. Doch der Forschungszweig darf sich nicht auf reine Bestandserhebungen beschränken. Er muss sich neu orientieren und interdisziplinär vernetzen. Die mikrobiologische Forschung geht hier mit gutem Beispiel voran.


Die Europäische Auster - stark gefährdet. Der Kabeljau in der Nordsee - nimmt in seinen Beständen immer mehr ab. Das gefleckte Sandröschen - bis auf einen kleinen Bestand auf Norderney - ausgestorben. Erschreckend deutlich mehren sich die Anzeichen für das weltweite Artensterben. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen hat sich die Aussterberate gegenüber dem fossilen Hintergrundwert um den Faktor 1.000 erhöht. Die Ursachen sind vielfältig: Die intensivere Nutzung der menschlichen Lebensräume, der globale Temperaturanstieg und das Einschleppen fremder Arten beschleunigen die Veränderung der heimischen Biodiversität. Während der Rückgang der Artenvielfalt in Landökosystemen vor unser aller Augen stattfindet, vollzieht sich in den Weltmeeren ein ähnlicher dramatischer Wandel im Verborgenen. Die Produktion marinen Phytoplanktons beispielsweise geht inzwischen, so die Prognose von Wissenschaftlern in der Zeitschrift Nature, um jährlich ein Prozent zurück. Nicht zu unterschätzen ist die Bedeutung dieser Entwicklung: Photosynthetisch aktiven Meeresorganismen produzieren nicht weniger als die Hälfte aller organischen Substanz weltweit.

Traditionell lag das Augenmerk der Biodiversitätsforschung im Wesentlichen auf der Erfassung der Arten in ihren Lebensgemeinschaften und ihrem Verbreitungsgebiet. Ein imponierendes Beispiel für solche Untersuchungen ist der Census of Marine Life, eine Studie, die das Nachrichtenmagazin Der Spiegel treffend als "Volkszählung im Meer" charakterisiert hat. 2.600 Wissenschaftler aus rund 80 Ländern erfassten zehn Jahre lang die Lebensgemeinschaften in den Weltmeeren. Ziel war die Beantwortung der Fragen, was in den Ozeanen lebt, was bereits verloren gegangen und was in Zukunft überlebensfähig ist.

Biodiversitätsforschung kann sich allerdings mit solchen Bestandserhebungen nicht zufrieden geben. Denn die Frage nach den Konsequenzen des weltweiten Artenverlusts ist nicht allein durch quantitative Verfahren zu beantworten. Die Geschwindigkeit des Artenschwunds macht Entscheidungen notwendig, Entscheidungen über den Schutz von Ökosystemen, die gerade auch für den Menschen von essentieller Bedeutung sind. Solche Entscheidungen können nur auf der Basis eines grundlegenden Verständnisses der Interaktionen zwischen Organismen und Ökosystemprozessen getroffen werden. Eine Neuorientierung der Biodiversitätsforschung ist also notwendig.

Hinter dem Begriff Biodiversität verbergen sich multiple Eigenschaften ökologischer Gemeinschaften, die durch die Anzahl und Identität verschiedener Spezies nur unvollkommen erfasst werden. In Ökosystemen stehen die Organismen in einem engen Verhältnis zueinander und zu den Prozessen, die das jeweilige Ökosystem ausmachen. Alle Lebensräume beherbergen dominante und weniger dominante Arten. Diese Arten erfüllen in den Systemen unterschiedliche Funktionen und besetzen verschiedene "Nischen". Ökosysteme sind komplex organisiert und reagieren daher vielgestaltig auf Störungen.

Verstand man unter Diversität lange Zeit lediglich ein Maß für Vielfalt, die sich in Reaktion auf veränderte Umgebungsbedingungen wandelt, so wird sie heute als eine Triebkraft verstanden, die Prozesse in Ökosystemen steuert. Mit dem Begriff der "Funktionellen Diversitätsforschung" soll die neue Herausforderung deutlich gemacht werden. Stoff- und Energieflüsse in Ökosystemen und deren Stabilität müssen nach diesem Ansatz in Abhängigkeit von der Vielfalt der Lebensgemeinschaften analysiert werden. Diese Vielfalt umschließt innerartliche Variationen, Anpassungsfähigkeit und Dominanzverhältnisse zwischen den Arten. Im Gegensatz zur traditionellen Biodiversitätsforschung trägt mikrobiologische Forschung diesen Zusammenhängen schon lange Rechnung, da hier der Artenbegriff nur eine untergeordnete Rolle spielt. Diversität von Mikroorganismen wird von der Mikrobiologie in der Hauptsache als Diversität von Prozessen verstanden. Sie ist zum Beispiel in den anaeroben - also sauerstofffreien - Zonen der Meere abhängig von chemischen Verbindungen, die den Bakterien zur Energiegewinnung zur Verfügung stehen. Und die Produkte solcher Stoffwechselprozesse bilden die Energiegrundlagen für andere Mikroorganismen und bestimmen damit wiederum deren Diversität.


Funktionelle Diversitätsforschung

Ein derart funktioneller Ansatz wird von den Wissenschaftlern der Universität Oldenburg auch auf Lebensgemeinschaften höherer Organismen übertragen. Die Frage der Kopplung von Diversität und Ökosystemfunktion ist dabei ein Thema der ökologischen und evolutiven Grundlagenforschung. Ihre Beantwortung aber ist für die Nutzung und Nutzbarkeit von Lebensräumen durch den Menschen und das Management von Ökosystemen von lebenswichtiger Bedeutung. Für die funktionelle Diversitätsforschung sind diese Lebensräume keine in sich geschlossenen Systeme. So sind Zu- und Abwanderung von Organismen zwischen den verschiedenen Ökosystemen durchaus übliche Vorgänge. Und auch Nährstoffkonzentrationen in Böden und Gewässern unterliegen einer ständigen Veränderung durch Austauschprozesse.

Diese natürlichen Prozesse werden zunehmend anthropogen verstärkt. Tiere und Pflanzen gelangen etwa auf Handels- und Reisewegen als so genannte Bioinvasoren in neue Lebensräume. Die Schifffahrt ist ein wichtiger Katalysator für solche Entwicklungen. Bekannt ist das Beispiel der Wasserhyazinthe: Sie überwuchert Wasserläufe, entzieht Böden wichtige Nährstoffe und nimmt heimischen Pflanzen das Sonnenlicht. Auch weniger potente Organismen führen zu Veränderungen von Lebensgemeinschaften. Die Konsequenz ist beinahe immer die Tendenz zu einer Homogenisierung der Ökosysteme und damit eine Verschiebung ursprünglicher Dominanzen.

Kann man die Verbreitungsmuster einer Bioinvasion identifizieren, dann lässt sich die Gefahr für die betroffenen Lebensräume besser einschätzen. Nur so wird es möglich, effektive Strategien gegen eine Bioinvasion zu entwickeln. Bereits eingeschleppte Arten allerdings lassen sich kaum noch bekämpfen, wenn sie einmal in neuen Lebensräumen Fuß gefasst haben.


Interdisziplinarität und Vernetzung

Will die Biodiversitätsforschung all diese Prozesse analytisch in den Blick nehmen, so muss sie sich interdisziplinär weiter entwickeln - und dies nicht nur im traditionellen Sinne. Neben Physikern, Chemikern und Mathematikern müssen auch Wissenschaftler der biologischen Teildisziplinen zusammen arbeiten. Für die Erforschung hochdynamischer Systeme müssen sich Evolutionsbiologen, Genetiker, terrestrische und aquatische Biologen miteinander vernetzen. Das Wattenmeer ist ein Paradebeispiel für ein lebensraumübergreifendes System, das ohne die Zusammenarbeit mariner und terrestrischer Ökologen in seiner Komplexität nicht zu erfassen ist. Es wird in der Zukunft nicht nur durch graduelle Veränderungen - wie den Anstieg des Meeresspiegels - beeinflusst werden, sondern auch vermehrt durch veränderte stochastische, d.h. unvorhersehbare Ereignisse wie gewaltige Stürme. Ein angemessenes Verständnis eines hochdynamischen Systems wie des Wattenmeeres ist nur zu erreichen, wenn marine und terrestrische organismische Biodiversitätsforschung und prozessorientierte Ökosystemforschung integriert werden.

Um Ursachen und Folgen des Artensterbens integrativ erforschen zu können, bedarf es neuer Wege in der Diversitätsforschung. Dabei werden beispielsweise organismische Ansätze der Ökologie und Evolution mit ökosystemaren Ansätzen der Biogeochemie vernetzt. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Stoff- und Energieflüsse durch Artenvielfalt beeinflusst werden. Eine Weichenstellung in diese Richtung bedeutet die Einrichtung eines institutsübergreifenden Schwerpunkts in der evolutiven und ökologischen Biodiversitätsforschung, wie ihn die Universität Oldenburg in den letzten fünf Jahren betrieben hat. Nur die Konzentration der verschiedenen Disziplinen an einem Ort erlaubt den direkten wissenschaftlichen Austausch und die Etablierung neuer Forschungsansätze.


DIE AUTOREN

Prof. Dr. Helmut Hillebrand, seit 2008 Hochschullehrer für Planktologie am Institut für Chemie und Biologie des Meeres (ICBM), studierte in Oldenburg Biologie und promovierte 1999 an der Universität Kiel. Es folgte ein vierjähriger Forschungsaufenthalt am Institut für Limnologie an der Universität Uppsala (Schweden). Hillebrand war Juniorprofessor für Marine Ökologie an der Universität Kiel und ging 2004 als Hochschullehrer für Aquatische Ökologie an die Universität Köln. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Regulationsmechanismen aquatischer Lebensgemeinschaften sowie die Bedeutung von Biodiversität für Ökosystemprozesse. Außerdem untersucht er die Nahrungsnetzbeziehungen im Pelagial aquatischer Ökosysteme in Bezug zur ökologischen Stöchiometrie.

Dr. Anja Fitter studierte Biologie an der RWTH Aachen und promovierte an der Universität Hamburg. Von 1994 bis 1997 war sie Wissenschaftliche Angestellte am ICBM und arbeitete dann als Fachredakteurin für die Deutsche Universitätszeitung duz in Bonn und den Georg-Thieme-Verlag. 2005 folgte die Mitarbeit in einem Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zur Rolle des mikrobiellen Nahrungsnetzes in benthischen Lebensgemeinschaften an der Universität Köln. Seit 2011 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin der AG Planktologie am ICBM-Terramare und freiberuflich tätig.


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Quelle:
Einblicke Nr. 53, 26. Jahrgang, Frühjahr 2011, Seite 12-15
Herausgeber: Das Präsidium der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Presse & Kommunikation:
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Einblicke erscheint zweimal im Jahr und informiert
eine breite Öffentlichkeit über die Forschung der
Universität Oldenburg.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juni 2011