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ORNITHOLOGIE/374: Mehr als bisher gedacht - Vogelnester sind Multifunktionsbauten (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 9/2016

Mehr als bisher gedacht: Vogelnester sind Multifunktionsbauten

von Bernd Leisler


Wer brütet, benötigt ein Nest. Wichtige Funktionen von Nestern sind, die Eier am Fortrollen zu hindern, Schutz vor Wetter oder Feinden zu bieten. Nester veranschaulichen das breite Spektrum der "Baukunst" der Vögel, das von simplen, in den nackten Boden gescharrten Mulden bis zu aufwendigen und kunstvollen Konstruktionen reicht. Sie haben Ornithologen seit jeher fasziniert und wissenschaftlich angeregt, ähnlich wie etwa der Vogelgesang oder Vogelzug. In vielen Kulturen gilt das Vogelnest sogar als Metapher für Geburt, Harmonie, Familie oder eine gute Mutter. Einige Merkmale von Nestern sind in ihrer Funktion jedoch bis vor Kurzem unentdeckt geblieben.

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Lange Zeit waren sich die Wissenschaftler einig, dass der Bau und die Eigenschaften von Nestern der natürlichen Selektion unterliegen. Das Nest galt als geeigneter Behälter für die sichere und erfolgreiche Entwicklung von Eiern und Jungvögeln, darüber hinaus noch als physischer Schutz für die Altvögel. Nester können aber viele weitere Funktionen haben, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Balz und Paarbildung oder der Stimulation bzw. Synchronisation von Brutpartnern. Bei vielen Vogelarten spielen Zahl und Größe bzw. Qualität der von Männchen gebauten Nester eine wichtige Rolle bei der Werbung um Weibchen, so zum Beispiel beim Zaunkönig. Mehrere oder bessere Nester zu bauen erhöht die Chancen bei der Auswahl und steigert so den Fortpflanzungserfolg. Die Weibchen wiederum profitieren davon, weil sie vielleicht ein hochwertigeres Nest präsentiert bekommen oder weil die Baumeister solcher Prachtbauten eben auch die erfahreneren Männchen bzw. besseren Väter sind. Auffälliges Nestbauverhalten, Vergrößerung und Ausschmückung eines Nests auch nach der Paarbildung können als externe Signale an den Partner oder andere Individuen dienen und deren Verhalten beeinflussen. Die Nestbauer, seien es Männchen oder Weibchen oder beide Partner gemeinsam, demonstrieren mit ihrer (Bau-)Leistung Eigenschaften, die quasi körperunabhängige Merkmale darstellen. Hierzu gehören die Bereitschaft und das Ausmaß, in die Brut zu investieren oder ein Revier zu verteidigen. Deshalb unterliegen derartige Merkmale in erster Linie der sexuellen und der sozialen Selektion.

Bei der Betrachtung von Nestern kommen also verschiedene Formen der Selektion zum Ausdruck, nämlich die natürliche, die sexuelle und die soziale. Sie nehmen in unterschiedlicher Weise Einfluss auf Form und Funktion von Nestern. Mehrere jüngere Studien und Experimente haben erstaunliche und überraschende Erkenntnisse ans Licht gebracht, obwohl doch über Ornithologen-Generationen hinweg alles über "das Vogelnest" gesagt zu sein schien.


Form und Funktion von Nestern unter dem Einfluss der natürlichen Selektion
Technische Aufgaben und Mikroklima

Ein Nest dient als Behältnis für die Brut wie für die Adulten, es soll vor widrigen Umweltbedingungen schützen und ein für die Embryonal- bzw. Jungvogelentwicklung geeignetes Mikroklima bieten. Dazu tragen neben dem Neststandort sowohl die Art des Nistmaterials als auch die Konstruktionsweise bei. Das Design von Napfnestern, wie sie häufig von Offenbrütern gebaut werden, wird neueren Studien zufolge stärker von den statischen Anforderungen der Gewichtsbelastung durch die Alt- und Jungvögel als durch die Erfordernisse der Wärmeisolation bestimmt. Zudem sollte das Nestinnere nicht zu eng sein, um ein übermäßiges Gedränge der heranwachsenden Nestlinge und dadurch bedingte Brutverluste zu vermeiden. Die Thermoregulation wird durch die Art des Nistmaterials und der Nestkonstruktion wesentlich beeinflusst. Ein regennasses Nest muss schnell abtrocknen können, Extreme wie Kälte bzw. Hitze sind zu vermeiden. In erster Linie ist es die gute Isolation durch die in kleinsten Hohlräumen der Nestwand und des Nistmaterials eingeschlossene Luft, die den Abfluss der vom brütenden Vogel produzierten Wärme verringert. Größe und Wärmedämmung des Nests können an die Umgebungstemperatur angepasst werden und in Abhängigkeit von Brutsaison, Höhenstufe und geographischer Breite variieren. Das bedeutet, dass jahreszeitlich früher, in höheren Gebirgslagen oder weiter nördlich erbaute Nester besser isoliert sind als solche unter wärmeren Konditionen. Solche Unterschiede lassen sich sowohl innerartlich als auch zwischenartlich nachweisen.

Manche Nester zieren auffällige Anbauten oder Anhängsel. So unterfüttern zum Beispiel mehrere Steinschmätzerarten, die in Höhlen oder Höhlungen brüten, ihre Nester mit Steinen, um Neigungen des Untergrundes auszugleichen und eine ebene Nestunterlage zu schaffen oder um zu verhindern, dass das Nest abrutscht. Verschiedene boden- und höhlenbrütende Bewohner von Trocken- und Wüstengebieten, hierzu zählen sowohl Fliegenschnäpper, Lerchen, Drosseln als auch Zaunkönige, bauen um ihr Nest regelrechte "Vorleger" aus Steinen oder Erdklumpen. Die Mohrenlerche verwendet hierfür sogar luftgetrockneten Dung von Weidetieren. Was ist die Funktion solcher "Nestvorleger"? Offensichtlich erfüllen sie gleich mehrere Aufgaben: Sie können das Nestdesign verbessern, das Mikroklima regulieren, Temperaturextreme abpuffern, das Nest trocken halten oder gar vor Überflutungen schützen, wie etwa beim amerikanischen Felsenzaunkönig. Ähnlich wie die bereits erwähnten Steinschmätzer schaffen sich diese Zaunkönige für ihre in Höhlen oder in Spalten angelegten Nester ein bis zu 1400 g schweres Fundament aus flachen Steinchen, die vom Weibchen zusammengetragen werden. Es gibt sogar regelrecht "gepflasterte" Zugangswege. Experimente belegen, dass ein solcher Vorleger nicht nur vor Durchnässung und Nestabsturz schützt, sondern auch ein Frühwarnsystem vor Nesträubern darstellt, da er zum Beispiel sich nähernde Schlangen hörbar macht. Für die in den eurasischen Steppen lebende Mohrenlerche wurde jüngst eine zusätzliche Funktion von Nestvorlegern beschrieben: Die von den Lerchenweibchen zusammengetragenen großen Dunghaufen bieten Schutz vor Viehtritt, da Weidegänger vermeiden, in Kothaufen zu treten.

Gesundheitsvorsorge

Die Größe eines Nestes bzw. des Nistraums von Höhlenbrütern kann sich positiv auf die Sauberkeit auswirken. Umgekehrt ist es aber auch möglich, dass größere Mengen an Nistmaterial zusammen mit höheren Temperaturen und Feuchtigkeit das Wachstum von Bakterien und die Entwicklung von Parasiten im Nest fördern. Vögel können sich nicht nur Ektoparasiten und Bakterien, die Federn schädigen oder andere pathogene Wirkungen haben, mithilfe diverser Repellentien vom eigenen Leib halten, sie können so auch ihre Kinderstuben vor solchen Plagegeistern schützen. Etliche Arten, zum Beispiel Blaumeisen, nutzen zu diesem Zweck "natürliche Pestizide", das sind in erster Linie aromatische Kräuter, deren sekundäre Pflanzenstoffe eine (vorübergehende) biozide oder antimikrobielle Wirkung entfalten. Solch duftendes Nistmaterial wird sogar regelmäßig erneuert, wenn dessen Wirkung nachlässt. Auf diese Weise wird eine hohe Konzentration an aromatischen Wirkstoffen aufrechterhalten, die die Menge von Bakterien auf den Nestlingen reduziert und sogar deren Immunsystem verbessert. Ähnliches kennt man vom Star. In partnerwerbender Absicht tragen die Männchen zunächst aromatisches Pflanzenmaterial wie Schafgarbe oder Wilde Möhre als "Nistsymbol" im Schnabel, bevor sie es dann in die Nisthöhle eintragen. Die Vorteile, die sowohl dem brütenden Weibchen als auch den heranwachsenden Jungen daraus entstehen, sind bei Staren gut untersucht: Befinden sich im Nistkasten frisch gepflückte Aromapflanzen, die sekundäre Pflanzenstoffe enthalten, dann hemmt das die Entwicklung von Bakterien und verbessert das Brutverhalten der Weibchen. Solche Aromapflanzen tragen also dazu bei, dass Weibchen (Bebrütungs-)Energie sparen und dass sich die Nestlinge gesünder entwickeln bzw. ein höheres Ausfliegegewicht erreichen.

Spektakuläre Beispiele dafür, wie an das Leben in Großstädten angepasste Vögel gegen Nestparasiten vorgehen, sind Haussperlinge und Hausfinken. In Mexiko City suchen sie beim Nestbau die Filter von gerauchten Zigaretten als Nistmaterial. Je mehr Zigarettenstummel im Nest, desto weniger Milben. In Experimenten mit Parasitenfallen in Nestern, die entweder mit frischen, ungerauchten oder aber mit gerauchten Filtern bestückt waren, gingen die Lästlinge in die Fallen mit den ungerauchten Filtern, während sie den nikotinhaltigen Filtern auswichen.

Vermeidung von Nestprädation

Neben dem Neststandort trägt auch das Design eines Nests dazu bei, es besser vor Nesträubern zu tarnen oder zu verstecken. Besser getarnte Nester sind erfolgreicher und werden (wenn vom Männchen erbaut) von Weibchen eher bevorzugt, wie zum Beispiel bei Honigfressern. Entsprechend kann der Neststandort wichtiger als die Qualität der Nestkonstruktion sein, wie zum Beispiel bei Baya-Webern. Im Versuch wählten Zebrafinken aus einem Angebot aus verschieden gefärbtem Nistmaterial dasjenige, das ihr Nest vor einem gegebenen Hintergrund am besten tarnte. Tyrannen und Töpfervögel verwenden Schlangenhäute als Nistmaterial, Wellenastrilde die Losung von Karnivoren als Nestaccessoires. Beides vermag Nesträuber geruchlich über längere Zeit abzuschrecken.

Gegenüber optisch jagenden Nesträubern hilft, möglichst kleine Nester zu bauen. Für mehrere Arten wie zum Beispiel Amsel und Blassspötter ist belegt, dass kleinere Nester weniger ausgeraubt werden als größere. Einige Arten wie zum Beispiel manche Prachtfinken haben stattdessen den Trick entwickelt, durch den Bau einer dem eigentlichen Nest aufsitzenden Nestattrappe (das sogenannte Hahnennest) Nesträuber in die Irre zu führen. Manche Arten bauen zur Täuschung sogar mehrere zusätzliche Nebennester.

Andere, wie verschiedene Töpfervögel, erschweren Nesträubern den Zugang durch dorniges Nistmaterial, welches die Nester zu uneinnehmbaren Festungen macht. Bodennah brütende Arten versuchen durch den Bau von Steinwällen den Höhlen- oder Nesteingang zu verkleinern. Eine spezielle Barriere gegen baumkletternde Schlangen sind Harzflüsse, die Spechte durch Hacken von Löchern unterhalb des Fluglochs gezielt erzeugen. Andere Arten seilen ihre umbauten Nester ab, um sie für kletternde Schlangen schwerer erreichbar zu machen.


Sexuell bzw. sozial selektierte Funktionen

Der Nestbau selbst als auch diverse Merkmale von Nestern wie ihre Größe oder die Verwendung bestimmter Materialien können Artgenossen über eine Reihe von Eigenschaften des Baumeisters informieren: Sie signalisieren die Kondition des Nestbauers, seine kognitiven und morphologischen Fähigkeiten, seinen beabsichtigten elterlichen Aufwand oder sein Geschick, den Neststandort bzw. Nistmaterial gegenüber konkurrierenden Mitbewohnern zu verteidigen. Derartige Signale werden von Artgenossen wahrgenommen und beurteilt.

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Gewöhnlich sind es die Männchen, die größere oder stärker geschmückte Nester oder gar mehrere Nester (sogenannte Wahl- bzw. Schaunester) bauen, um ihren Paarungs- und Fortpflanzungserfolg zu erhöhen. So steigern sie ihre Chancen, "bessere" oder gleich mehrere Weibchen als Brutpartner zu gewinnen. Nicht nur beim Zaunkönig, sondern auch beim Oryxweber verbessert die Anzahl der von den Männchen erbauten Wahlnester deren Chancen bei der Damenwelt. Beim Textorweber wiederum spielt bei der Partnerwerbung die Qualität der Nestkonstruktion eine herausragende Rolle, bei der Beutelmeise ist es die Nestgröße. Dekorieren männliche Stare ihre Bruthöhlen mit Grünmaterial, werden sie von "besseren" Weibchen (also solchen mit größerer Fruchtbarkeit oder besseren Brutpflegequalitäten) gewählt. Hierfür gibt es experimentelle Belege: Vermehrt man experimentell das Grünmaterial, mit dem männliche Einfarbstare ihre Nester garnieren, verschärft dies die Konkurrenz unter den Weibchen und erhöht deren Testosteronwerte. Besonderer Nestbau oder "Zierrat" als Qualitätsanzeiger eines Männchens und eine Vorliebe der Weibchen genau hierfür können sich entwickeln, wenn die Weibchen von ihrer Präferenz Vorteile erzielen, nämlich direkte Vorteile in Form von Energieersparnis, verstärkter väterlicher Brutpflege oder indirekte genetische Vorteile in Form "guter väterlicher Gene" für den Nachwuchs.

Sexuell selektierte Körpermerkmale eines Individuums, seien es ein Prachtkleid oder die Komplexität von Gesang, welche als Qualitätsmerkmal dienen, sind mit Kosten verbunden und variieren dementsprechend in ihrer Ausprägung. Bei den externen Nestmerkmalen scheint dies nicht anders zu sein. Heute wissen wir aus vergleichenden und experimentellen Studien, dass der Nestbau tatsächlich ein enorm energieaufwendiger und risikoreicher Prozess ist. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Individuen in besserer Körperkondition bzw. Vögel, denen experimentell Extrafutter angeboten wird, größere und schwerere Nester bauen und diese auch noch in kürzerer Zeit fertig stellen. Zudem variieren die individuellen Fähigkeiten beim Nestbau beträchtlich. Bei Staren gibt es Männchen, die von Jahr zu Jahr fleißig Grünmaterial eintragen, während sich andere Männchen dafür kaum interessieren. Inzwischen ist für eine Reihe von Arten belegt, dass sowohl die Größe als auch die Art der Ausführung des Nests individuell konstant sind. Bei Rauchschwalben ist die Nestgröße eines Individuums erblich festgelegt und bleibt über Jahre hinweg konstant. Diese Beispiele zeigen anschaulich, wie hier Selektion ansetzt.

Angeben mit Luxusheimen

Erst spät erkannte man, dass Individuen auch noch nach der Paarbildung ihre Attraktivität durch elaborierten Nestbau bzw. besondere Nestmerkmale steigern und damit den elterlichen Aufwand des Partners günstig beeinflussen können. Haben Brutpartner eine "Antenne" für die Wahl eines "Top-Partners" und investieren selbst mehr in die Brut, hat das einen adaptiven Effekt. Das ist vor allem bei Arten zu erwarten, bei denen sich beide Elternteile gleichermaßen bei der Brutpflege einsetzen. Sind Weibchen die "Top"-Baumeister, profitieren sie davon, dass sich ihre Männchen mehr für die Brut engagieren. Umgekehrt können sich männliche "Top"-Architekten eher ihrer Vaterschaft sicher sein, einen früheren Brutbeginn und mehr Nachwuchs erwarten.

Die überzeugendsten experimentellen Hinweise für diesen Effekt stammen von Höhlenbrütern wie Blaumeise, Steinsperling oder Starenarten: Werden Nestgröße und Menge aromatischer Pflanzen in Blaumeisennestern, die ja bekanntlich allein von den Weibchen gebaut werden, verringert, dann reduzieren die Männchen ihren elterlichen Aufwand. Umgekehrt investieren die Männchen mehr Energie in ihre Brut, wenn die Nester experimentell mit mehr Grünmaterial ausgestattet werden. Auch beim Steinsperling bauen allein die Weibchen das Nest und dekorieren es mit Federn. Im Versuch zusätzlich angebotene Federn arbeiteten sie nicht in die Nestwand ein, sondern platzierten sie möglichst auffällig am Nestrand. Als Reaktion darauf erbrachten ihre Männchen mehr Einsatz sowohl für die Partnerin als auch für die Brut. Das Resultat: Größere Gelege, stärkere Nestverteidigung, weniger Eindringlinge und seltenere Brutaufgabe durch das Männchen. Auch weibliche Stare, Einfarbstare und Haussperlingsmännchen setzen demonstrativ Federn in die Nestwand, um ihre eigene Qualität dem Partner zu signalisieren.

Weil es viel schwieriger ist, Nester von Offenbrütern experimentell zu manipulieren, existieren nur wenige diesbezügliche Studien. Jelinek et al. (2015) vergrößerten die Nester von Drosselrohrsängern, bei denen nur die Weibchen bauen. Daraufhin engagierten sich die Männchen stärker und versorgten die Nestlinge mit mehr Nahrung.

Wenn sich beide Partner am Nestbau beteiligen, kann jeder das beabsichtigte Investment des anderen besser abschätzen und darauf reagieren. Tatsächlich haben Vogelarten, bei denen beide Partner am Nestbau beteiligt sind, relativ größere Nester als Arten, bei denen nur ein Geschlecht baut. Der größere Aufwand beim Nestbau korreliert mit einer intensiveren Versorgung der Jungen als auch mit einem besseren Immunsystem der Elternvögel. Das lässt sich sogar an unterschiedlichen Individuen innerhalb ein und derselben Art zeigen: Elsternpaare mit großen Nestern bringen ihren Nestlingen hochwertigeres Futter als solche mit kleinen Nestern; das hat positive Auswirkungen auf deren Kondition und Immunsystem. Große Nester zeigen also hohen elterlichen Aufwand an.

Ein weiteres Beispiel für wechselseitiges Signalisieren der eigenen Qualität ist das extravagante Nestbauverhalten des Trauersteinschmätzers. Anders als bei anderen Steinschmätzerarten, bei denen ausschließlich die Weibchen das Nest bauen, beteiligen sich hier beide Geschlechter am Nestbau. Die Männchen übernehmen sogar die Hauptlast bei der Konstruktion eines Vorbaues aus flachen Steinchen. Über eine Woche lang schleppen sie Steinchen mit einem Gesamtgewicht von 1,8 kg zu den oft an erhöhten Stellen angebrachten Nestern und häufen diese am Nestrand oder in seiner Umgebung an. Das bedeutet einen gewaltigen Kraftakt, ist doch der energetische Aufwand beim Tragen eines Steinchens um das 2,3-Fache höher als das "Rütteln" von Kolibris. Männchen, die besonders große Steine tragen, sind "gesünder" und haben ein höheres Überlebenspotenzial als die, die weniger schaffen. Mit dieser Art des Gewichtshebens demonstrieren die Männchen ihre "Fitness" und ihre Bereitschaft, in die Brutpflege zu investieren, während umgekehrt die Weibchen so die Leistungsfähigkeit ihrer Partner besser einschätzen können. Untersuchungen spanischer Ornithologen zeigten, dass der Aufwand dieses "übertriebenen" Nestbauens der Männchen direkt mit ihrem späteren Brutinvestment korreliert und außerdem noch die Brutleistung der Weibchen "anspornt". Sie legen ihre Eier früher und haben ein größeres Gelege, wenn ihre Partner vorher mehr Steine getragen haben. Solche Paare haben insgesamt einen höheren Jahresbruterfolg.

Wenn nahe verwandte Arten Unterschiede in ihrer Brutpflege aufweisen, dann hat dies meist ökologische Ursachen. Welche Umweltbedingungen könnten für das exzessive Nestbauverhalten des Trauersteinschmätzers verantwortlich sein? Als Standvogel im mediterranen Klimagebiet bewohnt die Art vegetationsarme felsige Schluchten und Blockhalden mit ganzjährig niedriger Verfügbarkeit von Insekten als Nahrung. Unter solch kargen und variablen Bedingungen erscheint es wichtig, dass jeder der beiden Partner den beabsichtigten elterlichen Aufwand des anderen richtig abschätzen kann.

Statussymbole

Nestsignale dienen nicht nur der Kommunikation innerhalb des Paares, sondern werden auch als Statussymbole gegenüber anderen Artgenossen verwendet. Das zeigt zum Beispiel eine Langzeitstudie über die Nestdekoration von Schwarzmilanen in Spanien. Bei diesem territorialen Greifvogel bauen beide Geschlechter das Nest und dekorieren es häufig mit auffälligen Materialien, die sie aus großer Entfernung herbeischaffen. Dabei bevorzugen sie Fetzen weißer Plastikfolien. Im Versuch angebotene andere Farben oder andere Materialien lehnten die Milane fast immer ab. Mit dem weißen Plastikdekor stellen Milane im mittleren Lebensalter ihre Kampfkraft zur Schau. Die Nestinhaber waren beim Kampf gegen Konkurrenten um Revier, Horst und Nahrungsquellen umso erfolgreicher, je mehr ein Nest mit Plastik dekoriert war. Die Reviergrenzen von "Plastikbesitzern" wurden stärker respektiert. Junge oder alte Tiere schmückten ihre Nester hingegen nur wenig oder gar nicht. In einem Versuch dekorierte man alle Nester opulenter, indem man zusätzlich weiße Plastikfetzen aufs Nest legte. Als Reaktion darauf wurden diese Paare nun von Nichtbrütern stärker herausgefordert. Interessanterweise wehrten sich aber nur Vögel im besten Lebensalter gegen diese Attacken, während junge oder alte Paare die Dekoration gleich wieder entfernten. Offensichtlich wollten sie nicht stärker erscheinen als sie wirklich waren. Dies ist ein Hinweis darauf, dass eine derartige Nestdekoration ein "ehrliches" Signal darstellt und mit der Kampfkraft der Besitzer übereinstimmt. Im Falle der Schwarzmilane ist also ein Nest-Attribut (weiße Plastikfetzen) durch Konkurrenz zwischen Artgenossen zu einem Statussignal geworden, welches verlässliche Information über die Dominanz in sozialen Interaktionen übermittelt (soziale Selektion).


Multifunktionalität erschwert Forschung

Ein Merkmal als Signal zu identifizieren, ist schwierig. Denn die Vorteile für den Sender wie den Empfänger von Signalen sind nicht immer offensichtlich. Nicht nur das Baumaterial von Nestern ist in komplexer Weise verwoben, sondern sozusagen auch dessen Funktionen. Wie viele andere biologische Strukturen können auch Merkmale des Nests gleichzeitig mehrere Funktionen beinhalten, die sich nicht wechselseitig ausschließen. Zusätzlich kann ein und dasselbe Merkmal bei verschiedenen Arten unterschiedliche Funktionen erfüllen.

Ein Beispiel: (1) Das Einbauen von Federn in ein Nest kann die Qualität eines Individuums anzeigen und dessen Partner dazu bewegen, seine Brutfürsorge zu erhöhen. (2) Andererseits mögen die eingetragenen Federn lediglich der Wärmeisolation während der Bebrütung dienen. (3) Darüber hinaus können ins Nest gebrachte Federn eine bakterizide Wirkung entfalten. (4) Einige Prachtfinken bevorzugen für die Auspolsterung ihrer dunklen Nester helle Federn, nicht etwa um den Partner zu stimulieren, sondern um die Sichtverhältnisse zu verbessern. Diese Möglichkeiten zeigen, wie kompliziert es sein kann, unterschiedliche Funktionen eines Nestmerkmals bzw. eines Nistmaterials richtig zu erkennen und experimentell zu untersuchen.

Darüber hinaus gibt es die verschiedensten Einschränkungen, die einem potenziell luxuriöseren Nestbau Grenzen setzen. Dazu gehören Konstruktionszwänge oder die Risiken von Nestprädation, Brutparasitismus oder Nestparasiten. Alle diese Faktoren machen Kompromisse im Nestbauverhalten und der Elaboration von Nestern erforderlich. Da Offenbrüter generell stärker unter Nestprädation zu leiden haben als Höhlenbrüter, haben sie einen geringeren Spielraum für "unpraktische" oder ästhetische Übertreibungen. Dem Entstehen von "Signalen aus dem Vogelnest" sind oft enge Grenzen gesetzt.


Dr. Bernd Leisler studierte und habilitierte in Wien. Als langjähriger wissenschaftlicher Mitarbeiter des MPI Ornithologie, Vogelwarte Radolfzell, untersuchte er hauptsächlich verhaltensökologische und ökomorphologische Fragen.


Literatur zum Thema:

Hansell M 2000: Bird nests and construction behaviour. Cambridge Univ. Press

Jelinek V, Pozgayova M, Honza M, Prochazka P 2016: Nest as an extended phenotype signal of female quality in the Great Reed Warbler. J. Avian Biol. 47: 1-10

Leisler B 2016: Botschaften aus dem Vogelnest. Vogelwarte 54: 109-124

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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 9/2016
63. Jahrgang, September 2016, S. 12-18
mit freundlicher Genehmigung des Autors und des AULA-Verlags
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Oktober 2016

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