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WERKSTOFFE/041: Statt Nahrungsmittel - Ein Hemd aus Milchsäure (SB)


Neue nachwachsende Rohstoffe für die Textilindustrie

Potentielle Nahrungsmittel werden als chemische Substrate verbraucht


Bei diesem neueren Auswurf der industriellen Konsumgesellschaft soll es sich laut Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe e.V. um einen ernst gemeinten Beitrag zur Nutzung nachwachsender Rohstoffe und Schonung schwindender Rohölressourcen handeln. Man könnte allerdings auch vermuten, daß auf diesem etwas kuriosen Weg ein nicht zum Verzehr gedachtes, gentechnisches Agrarprodukt salonfähig gemacht werden sollte, als seinerzeit eine Meldung der Fachagentur mit dem offiziellen Titel "Ein Biofasershirt erobert jetzt den Bergsport" durch die Medien ging. Der nicht besonders aufschlußreiche Begriff "Biofasershirt" kann vieles bedeuten. Damit kann von einem schlichten Baumwollhemd aus dem Agrarprodukt Baumwolle bis zu synthetischen Polymerfasern, die aus von Pflanzen gewonnenen Rohstoffen wie Cellulose oder Pflanzenzuckern hergestellt werden, alles mögliche gemeint sein.

In diesem Fall sollte das Augenmerk auf eine relativ neue Textilfaser gelenkt werden, dem sogenannten Polylactid (auch Polymilchsäure), die nicht nur für Funktionsbekleidung interessant ist. Wörtlich hieß es in dem ursprünglichen Bericht vor vier Jahren:

Mit Oberbekleidung aus nachwachsenden Rohstoffen macht Salewa herkömmlichen Funktionstextilien Konkurrenz. IngeoTM heißt die Faser, die nicht nur besonderen Tragekomfort verspricht, sondern auch ein gutes Gewissen. Bei Globetrotter und Sport Scheck sind T-shirts und Trägertops jetzt erhältlich.
(Informationsdienst Wissenschaft, 11. März 2005)

Was so technisch (bzw. chemisch) klingt, wird vom Produzenten tatsächlich als Naturfaser verkauft, die neben Baumwolle, Flachs und Hanf auch für Bekleidung in Frage kommt.

Doch genaugenommen ist IngeoTM alias Polyactid keine Naturfaser, sondern eine aus Naturstoffen bzw. pflanzlichen Kohlenstoffen gewonnene synthetische Faser, die sich inzwischen auf dem textilen Markt etablieren konnte. Und was an keiner Stelle erwähnt wird, ist die Tatsache, daß fast ausschließlich Mais, ein potentielles Nahrungsmittel, zur Erzeugung des dafür notwendigen Rohstoffs verwendet wird.

Polymilchsäure steht chemisch nicht einmal in der Tradition von halbsynthetisch hergestellter Kunstseide und Viskose, bei denen das Abfallprodukt Zellulose chemisch in ihre einzelnen Bauteile auseinandergenommen und wieder neu zusammengesetzt wird. Denn hier werden die Milchsäure-Monomere durch Biotechnologie hergestellt, d.h. durch gentechnisch veränderte Mikroorganismen.

Und ob man überhaupt ein biotechnologisches Verfahren (in dem Mikroorganismen durch gewaltsam lebensfeindliche Umweltbedingungen gezwungen werden, ihren Stoffwechsel so zu modifizieren, daß sie bevorzugt Ausgangssubstrate in gewünschte Chemieprodukte umsetzen) als Naturverfahren bezeichnen kann, ist wohl sehr zu bestreiten. Die Biotechnologie, die auch noch einen künstlich manipulierten Stoffwechsel als "Bioprozeß" betrachtet und "bio" mit "natürlich" gleichsetzt, schmückt sich allerdings gern mit den Federn eines vermeintlichen Naturprodukts.

Das Verfahren selbst ist schon seit Ende des 19. Jahrhunderts bekannt und hat sich seither wenig geändert. Nach wie vor wird der Ausgangsstoff Milchsäure fermentativ hergestellt, d.h. Bakterien fressen Kohlenhydrate, also Stärke oder Zucker (bevorzugt wird hier Maisstärke eingesetzt), und wandeln sie in Milchsäure um. Bis dahin handelt es sich also genaugenommen um ein sogenanntes biotechnisches Produkt.

Noch während der synthetischen Teilstrecke, auf der die Milchsäure zu Polymilchsäure (PLA) polymerisiert wird, bietet sich das Rohprodukt vielfältigen Fertigstellungsmöglichkeiten an. Im jüngsten Falle wird sie, wie man es gemeinhin mit Kunstfasern praktiziert, noch im halbflüssigen Zustand durch Düsen gepreßt und in entsprechenden Fällbädern dann in dieser Faserform verfestigt, die anschließend auch versponnen und verwebt werden können.

Polylactid (PLA) an sich ist auch gar nicht neu. Es hat sich bereits schon seit längerem als kompostierbares Cateringgeschirr oder in Verpackungen bewährt, die besonders leicht biologisch abbaubar sein sollen. Man muß nicht einmal Essensreste und Geschirr trennen, sondern kann alles gemeinsam auf den Kompost geben. Auch in Folien oder in der Zahnmedizin und als im Körper abbaubares unschädliches Material (z.B. resorbierbares Nahtmaterial) für chirurgische Eingriffe gibt es eine Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten für Polyactid. Ein Werbegag sind derzeit sogenannte reißfeste Lanyardbänder in bunten Neonfarben, an denen sich Schlüsselbunde oder Handys um den Hals oder am Gürtel tragen lassen.

Als sogenanntes "Nonwoven" (deutsch: nicht verwebtes) Vlies-Material findet es in bestimmten Steppdecken Verwendung (Paradies Polyfill(R) 100% Polyactid). Immer wird hier mit der Vorsilbe "Bio" für das vermeintliche Naturprodukt geworben, dabei könnte diese bestenfalls für "Biotechnologie" stehen.

Im Falle seiner Nutzung als Bekleidungsfaser wird allerdings weder die aus Lebensmitteln gewonnene "BIO"-Herkunft noch die produzierte Milchsäure als besondere Charakteristika hervorgehoben, was wohl kaum verwundert.

Ob sich nämlich ein solcher von natürlich vorkommenden Bakterien leicht abbaubarer Kunststoff unter diesen Voraussetzungen tatsächlich auch für anspruchsvolle "Outdoor"-Oberbekleidung bewährt und welche Trageeigenschaften er besitzt, wird sich erst in der großflächigen Anwendung zeigen. Dafür ist die Polyactid-Fasern-Herstellung allerdings noch zu klein.

Besonders gespannt sein darf man wohl auf die Haltbarkeit der neuen Shirts aus biologisch abbaubarem Material. Auch was die generell enzymhaltigen Waschmittel mit den Milchsäureesterverbindungen machen werden, scheint interessant zu werden. Nach vier Jahren läßt sich darüber bisher noch nichts Neues herausfinden. Die Firma Salewa, die mit 15.000 Freizeithemden und Trägershirts die ersten Milchsäureprodukte auf den Markt brachte, bietet auch heute noch Oberbekleidung mit diesem Rohstoff, allerdings in einer Mischung mit Polyester an. Doch wird in der Produktbeschreibung von "IngeoTM" nur erwähnt, daß es sich um eine aus Mais gewonnene nachwachsende Faser handelt. Die mit Milchsäure verbundenen Assoziationen werden wohl nicht von ungefähr umgangen.

Das Institut für Kunststofftechnologie der Uni Stuttgart (IKT) arbeitet mit Unterstützung der Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe momentan an der Erforschung neuer Vliesmaterialien aus PLA. Der leicht abbaubare "Stoff" könnte u.a. auch für Geotextilien beispielsweise zur Fixierung von Böschungen oder für Filterstoffe genutzt werden. Die möglichen technischen Eigenschaften der neuen Werkstoffe sollen nach Einschätzung des IKT ein besonderes Potential darstellen.

Das Marktvolumen für den pflanzlichen Rohstoff sei beträchtlich: Deutschland wäre europaweit nicht nur größter Produzent, sondern auch größter Verbraucher von Vliesstoffen.

Und sollten sich die neuen Hemden oder Vliesstoffe ebenso schnell in Kompost verarbeiten lassen wie das berühmte Einweg- oder Cateringgeschirr, könnten Verbrauch wie Nachfrage für diese "Einweg-Textilien" auch für modische Produkte geradezu drastisch ansteigen. Schließlich ist dann das modische Outfit nach einer Saison garantiert "verbraucht". Und auch zukünftige Luxus-Wandergenerationen könnten als Vorbild einer ausschließlich verbrauchs- und konsumorientierten Gesellschaft ihre Decken und Hemden überhaupt gleich auf dem Berggipfel lassen, um die karge Erde dort mit kompostierbarer Biomasse zu bereichern und selbst mit "leichterem" Gepäck den Abstieg anzutreten.

Zu was nicht alles entsprechend aufbereiteter Mais verwendet werden kann. Nur essen kann man ihn nicht mehr ...

Erstveröffentlichung 2005
neue, aktualisierte Fassung

17. November 2009