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UMWELTLABOR/209: Kunststoffe (3) - Wenn es klebt und bröselt... (SB)


Kunststoffe altern anders als man glaubt

Unverwüstlich? - und es verrottet doch...!


Klassisches Plastik hält man allgemein für unverwüstlich. Sein Ideal übersteht nicht nur große Temperaturschwankungen, sondern auch unbeschadet einen Sturz aus zwei Meter Höhe, es ist weitgehend chemisch inert, leicht formbar, luftdicht, geschmacksneutral, dauerhaft, endlos wiederverwendbar, von geringem Gewicht, schön glatt und unter anderem deshalb für Mikroorganismen völlig uninteressant.

Diese den Kunststoffen allgemein angedichteten Eigenschaften lassen sich in der Praxis sehr leicht relativieren. Die meisten Hartplastikgegenstände überstehen keinen Rausschmiß aus dem Fenster, der glatteste Kunststoff bekommt schnell Kratzer und bei Temperaturen unter Null Grad Celsius läßt sich mancher Kunststoff wie Glas zerbrechen. Kurz gesagt: nichts davon trifft für alle Kunststoffe zu.

Die Mär vom unverrottbaren Plastik ließ aber vor allem ein Szenario von überdimensionalen Müllbergen vor unserem geistigen Auge entstehen, das die Erde mit einem neuen, unverrottbaren Plastikmantel aus überwiegend Verpackungsmaterialien überziehen sollte. Deshalb wurden, wie wir berichteten, Forschungen angestrengt, Werkstoffe zu entwickeln, welche unter Beibehaltung der gewünschten Eigenschaften biologisch abbaubar sind, wobei sowohl kunststoffzersetzende Mikroorganismen gesucht wie neue chemische Varianten synthetisiert werden sollen, um die Lebensdauer von Kunststoffen insgesamt zu begrenzen. Selbst vor dem Einarbeiten artfremder Stoffe wie Stärke und Cellulose schreckten die Wissenschaftler nicht zurück, und so werden zunehmend Materialien geschaffen, denen zu Lasten ihrer eigenen Stabilität gewissermaßen künstliche Sollbruchstellen zugefügt wurden und die daher leicht wieder in ihre Grundbausteine (Monomere) zerfallen bzw. doch noch zum Futter für Bakterien oder Mikroorganismen werden könnten. Wie das in etwa aussieht, haben wir in "UMWELTLABOR/208: Kunststoffe (2) - Wie Plastik verrottet (SB)" beschrieben.

Wenn man bedenkt, daß ein altes, aus Holz gefertigtes, gepflegtes Möbelstück oft viele Jahrhunderte überdauern kann, ohne Zeichen von natürlicher Verwitterung zu zeigen, dann fragt man sich, ob mit der Erfindung des verrottbaren Kunststoffs nicht erst recht die Produktion von Müll und der dazugehörigen Müll- bzw. Wegwerfkultur (spezielle großangelegte, gesicherte Deponien usw.) Vorschub geleistet wurde. Auf einmal müssen viele Dinge viel schneller weggeworfen werden, weil sie wie unsachgemäß gelagerte Lebensmittel unansehnlich werden oder regelrecht vergammeln.

Davon einmal abgesehen gehört der wichtigste Rohstoff der Kunststoff- Industrie - das Erdöl - schon längst zu den begrenzten und begrenzenden Ressourcen, so daß sich im Grunde schon die heutige Menschengeneration keinen produktionsbedingten Kunststoffabfall mehr leisten kann, selbst dann nicht, wenn er nicht auf den Müllhalden vergammelt, sondern sortiert und recyclet oder durch Pyrolyse (Hitzespaltung) in wiederverwendbare Chemikalien zerlegt wird. Auch diese letzte Form der Rückgewinnung ist eine Milchmädchenrechnung: Der größte Teil des wertvollen Rohstoffs geht verloren. Wirklich dauerhaft haltbare Produkte, die nicht weggeworfen werden müßten, wären dagegen wirtschaftlicher.

So kommt bei der Verschwelung von Kunststoffmüll nur ein Bruchteil des Erdöls wieder heraus, das anfangs in die Plastikartikel hineingesteckt worden ist. Zum Vergleich lassen sich beispielsweise aus nur einem Liter Erdöl 13 PET-Flaschen (Flaschen aus dem unlängst in Mode gekommenen Polyethylenterephthalat) fertigen, wobei eine 1 Liter- Flasche nur etwa 5 Gramm wiegt. - Aus 100 Kilogramm Kunststoffmüll (entsprechend 20.000 1 Liter-Flaschen) entstehen jedoch durch Pyrolyse nur 42 Kilogramm Gas und 26 Kilogramm Öl.

Daneben stellt sich die Frage, was aus den Kunststoffen werden wird, deren hohe Lebensdauer absolut lebensnotwendig geworden ist, beispielsweise implantierte Kunststoffteile, die Organe oder Gelenke ersetzen sollen, Dichtungsmaterialien an schwer zugänglichen Stellen oder gar in Hochsicherheitslabors. Hier könnte eine Alterung oder Verwitterung des Materials lebensgefährliche Folgen nach sich ziehen.

Ungeachtet der Diskussion um verrottbares oder recyclingfähiges Kunststoffmaterial gibt es nämlich schon heute große Probleme mit Kunststoffprodukten, die, mit vermeintlicher Unverwüstbarkeit protzend und für die Ewigkeit gedacht, sich nun nach zehn, zwanzig oder dreißig Jahren schon als völlig wertlos oder unbrauchbar erweisen.

Zum einen konnte man natürlich zu Beginn des Kunststoffzeitalters auf keine längere Erfahrung mit Kunststoffen zurückblicken, um verläßliche Prognosen zu stellen, zum anderen haben sich inzwischen auch die Umweltbedingungen für Kunststoffe, d.h. die Zusammensetzung der Luft (hier vor allem der hohe Anteil an kunststoffzersetzendem Ozon) sowie die Strahlungsintensität der Sonne zum Nachteil für fast alle bekannten Kunststoffe verändert. Vielleicht erinnert der eine oder andere noch die berühmten Specksohlen, die in den siebziger Jahren große Mode waren. Ihr Vorteil war eine unvergleichbare Rutschfestigkeit auf feuchtem und glattem Untergrund bei angenehm abgefederten Laufgefühl. Niemand würde heute mehr auf die Idee kommen, solche ausgesprochen gehfreundlichen Weichgummisohlen in den Verkehr zu bringen, denn sie halten unter den heutigen Strahlungs- und Luftbedingungen selbst im Schuhkasten bestenfalls ein paar Monate.

Kunststoff verschleißt nicht nur oder reibt sich ab, es verliert bei Anwesenheit von Ozon seine Farbe, wird durch Säuren angegriffen, kristallisiert bei tiefen Temperaturen aus, trennt sich auf und gleicht schließlich immer mehr dem ursprünglichen Rohstoff: eine ölige, schmierige oder klebrige, undefinierbare Substanz.

So klagen Restaurateure, die sich mit dem Erhalt von moderner Kunst und den Errungenschaften der zeitgenössischen Geschichte befassen, über besondere Schwierigkeiten bei der Restauration von Kunststoffmaterialien, mit der sie kaum Erfahrung haben und für die es auch keine bewährten Restaurationstechniken gibt.

Schon vor Jahren hatten Chemiker als Teil des Forschungsprogrammes zur Bewahrung der Schätze des Landes, "Save America's Treasures", den Zustand der rund hundert maßgeschneiderten Raumanzüge aus der Zeit der Apollo-Missionen begutachtet, die im Besitz des National Air and Space Museums/Smithsonian Institution (NASM) in Washington sind; einige davon waren nie benutzt worden, manche wurden beim Training und andere während der ersten bemannten Raumfahrtmissionen eingesetzt. Die meisten der Anzüge wurden in den letzten zwanzig Jahren bei fünf Grad Celsius und 45 Prozent relativer Luftfeuchtigkeit gelagert (waren also weder Mikroorganismen noch kunststoffunfreundlichen Umweltchemikalien ausgesetzt). Dennoch sind die anderthalb Zentimeter dicken PVC- Plastikschläuche des lebenserhaltenden Systems, durch welches die Astronauten mit Atemluft oder Kühlwasser versorgt wurden, mit einer klebrigen Substanz überzogen, der Kunststoff selbst hat sich gelbbraun verfärbt und ist brüchig geworden.

PVC, Polyvinylchlorid, besteht aus Ethen-Monomeren, bei denen ein Wasserstoff- durch ein Chlor-Atom ersetzt wurde. Das sogenannte Vinylchlorid ist der Ausgangsstoff des PVC-Kunststoffs, einer der frühesten Kunststoffe, der seit jeher als besonders verrottungsfest galt und vielseitig in Fußbodenbelägen, Kabelisolierungen, Schallplatten, Borsten, Kunstleder, Flaschen, Apparaten usw. verarbeitet wurde.

Wie schon im UMWELTLABOR/208: Kunststoffe (2) - Wie Plastik verrottet (SB) angedeutet, besteht Kunststoff gewöhnlich nicht nur aus dem strukturgebenden Kunststoffgerüst, sondern aus einer Vielzahl weiterer Zusatzstoffe, die dem flüssigen Kunststoffbrei vor dem Aushärten zugesetzt werden, die nicht polymerisieren und bestimmte Eigenschaften des Endprodukts sicherstellen sollen.

Die Elastizität und Biegsamkeit des Materials wird beispielsweise durch den Zusatz eines Weichmachers (hier meist DOP, Dioctylphtalat) gewährleistet, der sich aber im Laufe der Jahre wieder unvorhergesehen von dem Kunststoff trennt und an dessen Oberfläche einen klebrigen Film bildet. Ohne Weichmacher ist das verbliebene PVC-Gerüst spröde und instabil, was bei Fußböden zu den bekannten unschönen Rissen, bei Kabeln jedoch zu Sicherheitsproblemen wie gefährlichen Kurzschlüssen führen kann. Zudem reagiert das ausgeschwitzte Dioctylphtalat mit der Feuchtigkeit und dem Sauerstoff der Luft, wobei Säuren entstehen, die das PVC-Polymer zusätzlich angreifen.

Davon abgesehen, daß sich austretende Phtalate auch auf den menschlichen Organismus schädlich auswirken können, hat der angeblich unverwüstlich weiche PVC deshalb unter besten Konservierungsbedingungen höchstens eine Lebensdauer von 30 bis 35 Jahren.

Die einzig denkbare Schutzmaßnahme, um die Alterung von PVC-Belägen zu verlangsamen, wäre, sie bei geringstmöglicher Luftfeuchtigkeit tiefzukühlen, doch das ist bei Fußbodenbelägen oder Tuppa-Ware wohl schwer möglich und läßt sich nur bei historischem Kunststoffmüll wie den besagten Raumanzügen finanzieren.

Noch schlechter ist es aber um andere Kunststoffe bestellt. Etwa um Zellulosenitrat, das erste synthetische Plastik überhaupt, das in den 1860er Jahren von dem Amerikaner John Wesley Hyatt erfunden und ab 1872 unter dem Handelsnamen "Zelluloid" produziert wurde und kommerziell erfolgreich war. Kämme und Knöpfe, Hemdkragen, Schachteln, Spielzeug und vor allem Filme stellte man in Mengen aus dem neuen Material her. Es war leicht, formbar, wasserfest und gut zu reinigen, hatte aber den Nachteil, daß es leicht entflammbar war. Doch schon heute sind kaum noch Zelluloid-Gegenstände aus der Zeit Ende des 19. Jahrhunderts mehr erhalten.

Chemisch besteht Zelluloid aus hochnitrierter Zellulose, die in Alkohol und Äther (in welchem sich gelöster Campher befand) aufgelöst wurde. Nachdem die flüchtigen Stoffe verdampft sind, bildet sich eine harte Masse, die beim Erhitzen wieder weich und formbar wird.

Auch bei einem solchen Stoff ist verständlich, daß ihm Luftfeuchtigkeit und Sauerstoff zusetzen und in chemischen Reaktionen mit dem Zelluloid ätzende Substanzen wie Salpetersäure und Stickstoffdioxid erzeugen können. Man kann sogar eine Art sich selbst beschleunigende Zersetzung des Materials beobachten: Zunächst bilden sich Risse, dann schrumpft das Zelluloid in sich zusammen, löst sich von den Rändern her auf, bis der Gegenstand zerfällt. Wenn also von den sorgsam gehüteten Andenken nach 40 Jahren nur noch Bruchstücke und eine zerfressene Papiertüte übrig bleiben, kann man noch froh sein, daß die Holzschublade (das verrottungsanfällige Naturprodukt) den Angriff der dabei entstehenden Salpetersäuredämpfe so gut überstanden hat.

Wärmedämm-Materialien aus Kunststoff sparen zwar Energie ein, gehören jedoch ebenfalls auf die Rote Liste der unverwüstlichen Kunststoffprodukte, so beispielsweise die als Durethan U, Moltopren, Vulkollan oder Isovos-Schaum bekannten Polyurethanschaumstoffe, die für Polsterungen und als elastisches Isoliermaterial Verwendung fanden. Besonders in den 70er Jahren waren Sitzmöbel und futuristische Raumlandschaften aus diesem Material modern, die sich heute (30 Jahre später) schon nicht mehr als Sitzobjekte benutzen lassen, vor allem dann, wenn sie auch noch mit porösen Materialien überzogen worden waren oder der Überzug Risse aufweist.

Unter dem Einfluß von Licht und Luft zersetzt sich nämlich auch der PU- Schaum und verfärbt sich dabei zu einem leuchtenden Orangeton. Besonders ozonhaltige Luft beschleunigt diesen Prozeß. Das jeweilige Sitzmöbel verliert dabei sichtlich an Substanz, so daß sich die Restaurateure von historischen Designerobjekten zeitgenössischer Künstler allerhand einfallen lassen müssen, um diese Kunstobjekte der Nachwelt zu erhalten.

Wirklich dauerhafte Konservierungmethoden, die sich vielleicht auf Gebrauchsgegenstände im Alltag übertragen ließen, haben aber selbst diese Fachleute nicht gefunden. Man kann festhalten, daß die chemische Industrie mit ihrer Kunststoffproduktion nicht nur ungeheure Mengen an unbrauchbarem, schwer verrottbaren und zudem giftigen Müll erzeugt, sondern gleichzeitig mit Emissionen die Umwelt so verändert hat, daß dieser einst unverwüstliche Müll zerstört wird und dabei wieder chemische Stoffe freisetzt, die sich jeder weiteren Kontrolle in Bezug auf Gefahren für Umwelt und Gesundheit entziehen. Leider läßt sich weder die Entwicklung rückgängig machen noch kann man angesichts der wachsenden Weltbevölkerung dieser Tage auf Kunststoff verzichten.

Erstveröffentlichung 2001
(überarbeitete und aktualisierte Fassung)

17. Januar 2008