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UMWELTLABOR/221: Bioindikator 3 - Die Flechte für alles Schlechte (SB)


Ein Zeichen für alles Schlechte,

die wuchernde, gelbe Flechte


Viele von uns halten Flechten allgemein für einen Hautausschlag. Doch dieser hat mit den Flechten, die man in der Natur entdecken kann, nichts gemein. Wie jene archaische Lebensform, die vermutlich als eine der ersten chlorophyllhaltigen Gewächse die karge Erde besiedelt hat, in ihrer natürlichen Umgebung vorkommt und aussieht, wissen die wenigsten, denn Flechten sind klein, unscheinbar und waren lange Zeit beinahe ganz ausgestorben.

Vor allem in großen Städten und industriellen Ballungsgebieten waren sie über Jahrzehnte nicht mehr zu finden. Doch seit einiger Zeit sieht man sie auch hier wieder auf Baumrinden, Mauern und Dachziegeln wuchern. Daß sie weitgehend verschwunden waren, liegt an ihrer Empfindlichkeit gegenüber Luftschadstoffen. Und dieser Umstand macht sie als Bioindikatoren für Wissenschaftler ebenso wie für den laienhaften Naturbeobachter interessant und wertvoll.

Gerade für letzteren, der sich um die Beschaffenheit der Atmosphäre und der unmittelbaren Luftumgebung sorgt, aber wenig analytische Hilfsmittel zur Hand hat, können diese unscheinbaren Veränderungen mit entsprechendem Hintergrundwissen sehr aufschlußreich sein.

Flechten, die weder Wurzeln, Wurzelgeflechte, Rhizome wie andere Pflanzen und auch keine Hyphen wie Pilze besitzen, leben praktisch von dem, was entweder die unmittelbare Oberfläche des Untergrunds hergibt, oder was mit der Luft an sie herangetragen wird. Letzteres scheint sie jedoch neuerdings nicht mehr zu stören.

So berichtete Andreas Kleinebenne schon vor einiger Zeit im Deutschlandfunk über eine schmale Pappelallee am Niederrhein, im Einzugsbereich der Düffel, eines Naturschutzgebiets westlich von Kleve, das sich längs des Rheins bis zur niederländischen Grenze erstreckt:

Die schöne Pappelallee, von der Landesgemeinschaft Naturschutz und Umwelt gerade zur Allee des Monats November gewählt, zeigt unübersehbar die Rückkehr der Flechten. Drei bis vier Arten pro Stamm kann Dietrich Cerff hier mittlerweile wieder ausmachen:

"Es gibt Krustenflechten, das sind wirklich Krusten, die ganz flach auf der Baumrinde und auf'm Gestein anliegen.

Es gibt Blattflechten, die man so mit dem Fingernagel abpulen kann, die so 'n blättrigen Wuchs haben. Und es gibt Strauchflechten, die so büschelförmig wachsen an einer Stelle am Gestein oder am Baum festsitzen, und dann eben wie so 'n kleiner Ministrauch davon hochragen. Und dann gibt es noch die Bartflechten, die wie der Name sagt, die hängen wirklich bartförmig von Zweigen oder vom Stamm herunter. Der Flechtenkörper, der besteht aus einem Geflecht von ganz dünnen Fäden." (DLF, 4. Februar 2004)

Ramalia, wie die büschelförmige Strauchflechte mit botanischem Namen heißt, reagiert besonders empfindlich auf Schadstoffe. Da Flechten ihre Nahrung anders als Blütenpflanzen aufnehmen, werden sie nicht nur von außen, sondern auch innerlich durch die aus den Luftschadstoffen entstehenden Säuren zerfressen und ausgetrocknet. Das zerstörte Gewebe kann kein Wasser mehr speichern. Die Sonne tut ihr übriges.

Daß Flechten nun überall wieder gedeihen, liegt vor allem daran, daß der Gehalt an Schwefeldioxid in der Luft durch die Treibstoff- und Rauchgasentschwefelung, Schwefelfilter und Katalysatoren deutlich reduziert werden konnte. Gab es 1954 in Bonn nur noch 10 Flechten- und Moosarten, so wurden inzwischen schon wieder über 80 verschiedene Arten gezählt.

Schwefeldioxid war der gefährlichste Bestandteil des sauren Regens, weil daraus in Verbindung mit Wasser die sogenannte schwefelige Säure (H2SO3) entsteht. Wenn wir vom sauren Regen sprechen, dann meinen wir stärkere Säuregrade des Regens, die auf Luftverschmutzung durch den Menschen zurückgehen. Durch Industrieabgase und privat erzeugten Umweltschmutz gelangen auch noch anorganische Oxide in die Luft, die mit Wasser unterschiedlich starke Säuren bilden. Schwefeldioxid (SO2) kann beispielsweise in der Atmosphäre auch noch weiter zu Schwefeltrioxid (SO3) reagieren. Daraus entsteht mit Wasser die äußerst starke Schwefelsäure (H2SO4).

Dann gibt es aber noch die Stickoxide (NOx), die vor allem aus den Autoabgasen stammen. In den Verbrennungsmotoren von PKW, LKW, Motorrad, Motorboot, Schiff und Flugzeug reagiert (bei den hohen Temperaturen) ein Teil des Luftstickstoffs mit dem Sauerstoff zu giftigen Stickoxiden (NO und NO2). Sie bilden zusammen mit Wasser (H2O) die salpetrige Säure (HNO2) und die Salpetersäure (HNO3). Sowohl das Schwefeldioxid als auch das Stickoxid wirken sich nicht nur im sauren Regen äußerst schädlich aus; sie sind in bestimmten Konzentrationen auch schädliche Atemgifte.

Die Zunahme des Flechtenbewuchs ist aber nicht nur ein gutes Zeichen. So äußerte Professor Jan Peter Frahm, Botaniker an der Uni Bonn, gegenüber dem Deutschlandfunk hier eine ganz andere Meinung:

"Seitdem der Saure Regen verschwunden ist oder zurückgedrängt worden ist, kommt der Stickstoff zum Tragen. Es ist nicht etwa so, daß wir jetzt als neuen Luftschadstoff den Stickstoff haben, denn die Stickstoffemissionen sind sogar leicht rückläufig, aber die Wirkung des Stickstoffes schlägt jetzt erst durch, weil dieser Stickstoff früher durch Sauren Regen neutralisiert wurde."
(DLF, 4. Februar 2004)

Von Neutralisation zu sprechen ist in diesem Zusammenhang zwar nicht ganz richtig, denn bestenfalls kann durch die stärkere Säure eine schwächere aus ihren Salzen verdrängt werden. Wenn also Stickstoff als Nitrat vorliegt, könnte es durch Schwefelsäure verdrängt und damit die Schwefelsäure neutralisiert werden. Dabei würde dann aber eine etwas schwächere stickstoffhaltige Säure freigesetzt.

Dagegen mischen sich zwei unterschiedlich starke Säuren einfach und verstärken sich gegenseitig in ihrer zellzerstörenden Wirkung. Deshalb wurde seinerzeit auch von "saurem Regen" gesprochen und nicht in die schädlichen Einzelwirkungen von Schwefeldioxid, Stickstoffoxiden und Kohlenoxiden unterschieden.

Es gibt aber offensichtlich Flechten, die auf Stickoxide, salpetrige Säure oder Salpetersäure weniger empfindlich reagieren als auf Schwefeldioxide oder Schweflige Säure.

So sind die Flechtenarten, die jetzt vermehrt in die Städte vordringen und in der Landschaft auftauchen, augenscheinlich spezifische Stickstoffindikatoren. Die gleichen Arten findet man nämlich auch auf Felsen und Zweigen, die von Vögeln als Rastplätze benutzt worden sind, die also vogelkotgedüngt waren. Diese Flechten haben sich im Laufe der Evolution an Vogelkot, der naturgemäß sehr stickstoffhaltig ist (Guano), angepaßt.

Auch in der Umgebung von Bauernhöfen tauchen diese Flechtenarten auf, in der Nähe von Stallviehhaltung beispielsweise. Und diese Arten, die spezifisch früher an stickstoffreichen Standorten vorgekommen sind, die sind jetzt überall zu finden. Dazu hieß es im Deutschlandfunk:

Künstliche Düngung durch Nitrate und Phosphate also ist es, die bestimmte Flechten so üppig gedeihen läßt. Überdüngung, die aber auch die selten gewordenen Moore, Heiden, Trockenrasen und Orchideen trifft und bedroht. Was dort mehr im Verborgenen geschieht, springt bei einer bestimmten Flechtenart auch dem Laien geradezu ins Auge - als leuchtende Flecken auf zahlreichen Straßenbäumen: eine Stickstoffzeigerart, die kürzlich von einer europaweiten Arbeitsgemeinschaft der Flechten- und Moosforscher zur Flechte des Jahres 2004 erklärt wurde.
(DLF, 4. Februar 2004)

Gemeint ist die Gelbflechte. Sie heißt so, weil sie leuchtend gelbe, goldgelbe "Flechtenthalli" bildet, die unter günstigen Bedingungen an Baumborke gedeihen. Und günstig heißt in diesem Falle: bei Anwesenheit von Stickoxiden. Da diese Flechte nun auch an Stellen gedeiht, die nicht typisch für Stickstoffreichtum sind, ist dies ein Hinweis auf die Stickstoffoxidbelastung der Luft.

Jeder, der sich für die Stickstoffbelastung seiner Umgebung interessiert, kann anhand des Vorkommens oder Fehlens oder anhand der prozentualen Häufigkeit dieser Flechten leicht eine Eigendiagnose erstellen und abschätzen, wie stark sein Wohnort stickstoffbelastet ist.

Die wuchernde Gelbflechte sollte eine Warnung sein, daß zwar das Schwefelproblem abgenommen hat, aber die Luftverschmutzung nur auf andere schädliche Verbindungen umgelastet wurde, die uns und allen anderen Lebewesen - von der Gelbflechte einmal abgesehen - weiterhin die Luft zum Atmen nehmen.

Erstveröffentlichung 2004
Neue, überarbeitete Fassung

2. Mai 2008