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UMWELTLABOR/295: Der wahre Preis - mit Absicht verkannt ... (SB)



Die Produktion von Lebensmitteln kostet Menschenleben. Ein nicht unwesentlicher Verdacht fällt dabei auf den Luftschadstoff Ozon, der gerade zur Erntezeit bei stabiler Hochdruckwetterlage seine Spitzenwerte erreicht. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sterben mehr Menschen an Tagen mit hoher Ozonkonzentration. Zudem gibt es Hinweise auf eine krebsfördernde Wirkung des Stoffs, die bislang nicht weiter verfolgt, aber auch nicht widerlegt wurden. Die Erkenntnisse der letzten Jahre, daß seine gesundheitsgefährdende Wirkung unterschätzt wird und Schwellen- wie Grenzwerte nach unten korrigiert werden müßten, hatten bisher weltweit keine Konsequenzen für die Luftwarnsysteme oder Arbeitsbedingungen. Bereits 2011 machte eine kalifornische Studie darauf aufmerksam, daß kleinste Änderungen von 10 ppb entsprechend 19 Mikrogramm pro Kubikmeter mehr Ozon in der Atemluft zu starken Einschränkungen der Befindlichkeit und Leistungsfähigkeit z.B. von Landarbeitern führt, ohne daß an den Arbeitsbedingungen etwas geändert worden wäre. Auch hierzulande wird die Bevölkerung zur Sommer- und Erntezeit nur dann nachdrücklich über die Ozonsituation informiert, wenn Informationsschwellenwerte oder Grenzwertüberschreitungen das gebieten. Anstrengung und Bewegung im Freien - also Arbeit - sollten eigentlich laut Umweltbundesamt in den Stunden erhöhter Ozonbelastung vermieden werden.


Bild einer typischen ländlichen Region in Norddeutschland nach einigen Tagen mit stabiler Hochdruckwetterlage in der Mittagshitze. Ein fast wolkenloser Himmel, Felder, Windräder und ein kleiner Fischteich laden zum Verweilen ein. - Foto: © 2018 by Schattenblick

Sonne, Hitze und kein Entkommen vor Ozon!
Arbeit in ländlicher Idylle sollte nur noch an frühen Morgenstunden stattfinden.
Foto: © 2018 by Schattenblick

Denkt man sich 10 oder 20 Jahre zurück, war Ozon an heißen Sommertagen ein vieldiskutiertes Thema. Eine hohe Lufttemperatur begünstigt gemeinsam mit intensiver Sonneneinstrahlung die Bildung des dreiwertigen Sauerstoffs in Bodennähe, ein Reizgas, das die Augen tränen läßt, Atem- und Kreislaufprobleme mit sich bringt und die körperliche Leistungsfähigkeit insgesamt beeinträchtigt. Ältere und empfindliche Menschen oder Personen mit Herz- und Kreislauferkrankungen werden im Doppelpack betroffen. Das körpereigene Kühlsystem ist bei Hitze überbelastet, mögliche Folgen sind Regulationsstörungen, Kreislaufprobleme, Kopfschmerzen, Erschöpfung und Benommenheit.

Derzeit erleben wir einen besonders heißen Sommer, der sich laut einer Warnung des Umweltbundesamts [1] bereits zu einem zweiten "Jahrhundertsommer" nach dem von 2003 auswachsen und diesen sogar übertreffen könnte. Doch von einem neuen Ozonsommer mit ähnlichen Spitzenwerten wie 2003 ist nicht die Rede. Man könnte meinen, daß das Problem des Sommersmogs gelöst sei. Doch weit gefehlt.

Der Informationsschwellenwert von 180 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft wurde dieses Jahr schon einige Male an verschiedenen Meßstellen überschritten. [2] Das Nordrheinwestfälische Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz (LANUV) meldete beispielsweise noch am vergangenen Wochenende zum vierten Mal Werte über 180 Mikrogramm in Münster-Geist und in Lünen-Niederaden. Die Werte von Rodenkirchen, die exakt bei 180 Mikrogramm pro Kubikmeter lagen, sowie die aus Solingen, Wuppertal und Leverkusen, die diese Grenze nur knapp nicht erreichten, wurden jedoch nicht in diesen regionalen Nachrichten erwähnt, obwohl auch hier die Luft stark mit Ozon angereichert war. [3] Dies ist nur ein Beispiel von vielen. [4] Einen Ozonalarm, der bei 240 Mikrogramm ausgerufen werden muß, gab es in diesem Jahr bundesweit noch nicht.

Auch wenn die Höhe der Ozon-Spitzenkonzentrationen und die Häufigkeit sehr hoher Belastungen tatsächlich in den letzten 30 Jahren deutlich abgenommen haben und sich immer seltener für Schlagzeilen eignen, wurde doch der 2010 eingeführte Zielwert für den Schutz der menschlichen Gesundheit von 120 Mikrogramm pro Kubikmeter schon bis Ende Juli dieses Jahres an vielen Orten doppelt so häufig überschritten wie erlaubt. [5] Der Zielwert für den Schutz der Vegetation wurde in vielen ländlichen und hoch liegenden Räumen um 7 Prozent und mehr überschritten. [6] Zudem haben im Unterschied zu der Entwicklung der Spitzenwerte die Ozon-Jahresmittelwerte im gleichen Zeitraum beständig zugenommen. Doch diese Daten sind nicht meldepflichtig, dringen somit gar nicht an das Ohr der Öffentlichkeit, weil die wenigen Mikrogramme unter dem Grenzwert offiziell aus dem Raster fallen und überschrittene Zielwerte erst in der Jahresbilanz relevant werden.

Auch wenn es auf diese Weise weggeregelt wurde, ist und bleibt Ozon in Bodennähe ein Pflanzen-, Menschen- und Tiergesundheit schädigendes Problem. Verwirrt es möglicherweise, daß Ozon in der oberen Atmosphäre ein wichtiges, schützenswertes Spurengas darstellt, das den Planeten vor der Sonneneinstrahlung abschirmt, hier unten auf der Erde ist es ein Luftschadstoff, der im Unterschied zu anderen nicht aus Rauchfängen, Schlöten und Auspuffen entweicht, sondern durch komplexe photochemische Prozesse aus Vorläuferstoffen indirekt gebildet wird, wenn verschiedene Bedingungen zusammentreffen: Bei einer möglichst stabilen Hochdruckwetterlage, die durch intensive Sonneneinstrahlung, hohe Wärme und Windstille gekennzeichnet ist, und einer ausreichenden Menge an Stickoxiden und flüchtigen, organischen Verbindungen, die aus Farben, Lacken, Reinigungsmitteln, Klebstoffen oder Lösungsmitteln entweichen können, werden aus dem Luftsauerstoff in einer komplizierten Reaktion sogenannte Hydroxyl-Radikale freigesetzt, die mit Sauerstoff (O2) zum dreiatomigen Ozon (O3) weiterreagieren. Selbst Pflanzen oder sogar Böden enthalten ausreichend Kohlenwasserstoffe, bzw. ätherische Öle, die in die Luft entweichen und zum Ozonbildungsprozeß beitragen können, so daß die notwendige chemische Umgebung für die Ozonentstehung fast überall gegeben ist, selbst in vermeintlich reinster Luft, auf dem Land oder im duftenden Gras. Zudem werden Stickoxide u.a. Chemikalien der täglich verwendeten Alltagschemie durch die Luft in ländliche Regionen getragen, das Versprühen von Agrochemikalien und Düngemitteln sorgen für eine weitere Ergänzung des Cocktails an sogenannten Vorläuferstoffen, so daß die Ozonbildung nur noch von Wärme und Sonneneinstrahlung abhängt, was landwirtschaftlich genutzte Gebiete sogar mehr als städtische für den Ozonsmog prädestiniert.

Dazu gibt es an Tagen mit besonders hoher Luftverschmutzung in der Stadt einen paradoxen, ozonreduzierenden Effekt: In geringer Konzentration beschleunigen Stickoxide die Ozonbildung. Verändert sich das Verhältnis von Stickoxiden und Kohlenwasserstoffen in der Luft zugunsten der Stickoxide, reagieren diese direkt mit den Hydroxyl-Radikalen und fangen gewissermaßen den reaktiven Sauerstoff ab, ehe er an Kohlenwasserstoffe andocken kann und eine weitere grundlegende Vorstufe im Ozonbildungsmechanismus erzeugt. Auf diese Weise wird in Städten und Industriezonen die Reaktion zu Ozon gebremst und das etwa umgekehrt proportional zum ebensowenig wünschenswerten Anstieg der sonstigen Luftverschmutzung.

Einen nicht unerheblichen Beitrag zum augenblicklichen Trend fallender Spitzenwerte (s.o.) bei den Ozonkonzentrationen haben natürlich Luftfilter oder Katalysatoren in Verbrennungsmotoren und Industrieschornsteinen, die einen Teil der ozonbildenden Reagenzien zurückhalten. Doch ohne Frage wird weiterhin Ozon gebildet, das laut einer gründlichen Analyse europäischer und weltweiter Zeitreihenstudien, REVIHAAP [7], die im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) durchgeführt wurde, sogar größere Effekte auf die Gesundheit haben kann, als bislang angenommen.

Die Studie legt einen Zusammenhang zwischen der Höhe der Ozonkonzentration und der täglichen Gesamt-Mortalität nahe. Es wurden vor allem vorzeitige Todesfälle von Menschen festgehalten, die an Erkrankungen der Atemwege oder des Herz-Kreislaufsystems litten, wobei sich die kritische Ausprägungen der Erkrankungen durch die Ozonwirkung verstärken konnte. Die WHO zieht am Ende des Berichts das Fazit, daß die derzeit in der EU geltenden Zielwerte aus gesundheitlicher Sicht zu hoch angesetzt sein könnten und einer dringenden Überprüfung bedürfen.

Das Umweltbundesamt macht 2017 in seinen aktuellen Informationen zur Ozonbelastung darauf aufmerksam, daß zudem Hinweise aus tierexperimentellen Studien existieren, nach denen der hochreaktive Wirkstoff Ozon Zelldeformationen oder Mutationen in den Zellen des Atemtraktes auslösen kann. Diese könnten eine Krebsentstehung begünstigen. Die Datenlage ist jedoch nicht aussagekräftig genug, um eine abschließende Beurteilung bezüglich des krebserregenden Potentials von Ozon treffen zu können. Offen bleibt, inwiefern dieser Verdachtsmoment inzwischen wissenschaftlich weiterverfolgt wurde. Widerlegt wurde er nicht. [8]

Ein in dieser Diskussion wenig beachteter Beitrag, der unlängst vom Deutschlandfunk im Zusammenhang mit einer Sendung über Niedrigdoseneffekte aufgegriffen wurde [9], stammt von dem amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Prof. Matthew J. Neidell (Columbia Universität, New York). Er hat sich auf Zusammenhänge zwischen Umwelt, Gesundheit und Ökonomie spezialisiert und vor ein paar Jahren eine Untersuchung an kalifornischen Plantagenarbeiten unter dokumentierten Ozonwerten durchgeführt, die nicht nach Arbeitsstunden bezahlt werden, sondern nach der Menge an Obst, die sie ernten. [10] In der 36seitigen Studie wird mithilfe einer Korrelation zwischen der Ozonbelastung und des erwirtschafteten Ernteertrags nahegelegt, daß schon kleinste Änderungen der Schadstoffkonzentration einen gravierenden Einfluß auf Wohlbefinden und Gesundheit haben. Mit jedem Anstieg der Ozonbelastung um 10 ppb (parts per billion/ Teile pro Milliarde) verringerte sich die Erntemenge um im Wortlaut der Studie "robuste 4,2 Prozent", in manchen Fällen sogar 5 Prozent und mehr, was für die Lohnarbeiter mit konkreten Lohneinbußen verbunden war. Auf übliche europäische Größenordnungen umgerechnet, handelt es sich dabei um den Anstieg der Ozonbelastung um 19 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft. Der umgekehrte Effekt ließ sich ebenfalls nachweisen.

Die Wissenschaftler kommen am Ende der Studie zu dem Schluß, daß der amerikanische Staat mit jeder Senkung der Schwellenwerte der derzeitigen Ozonstandards um 10 ppb jährliche Kosten an Arbeitskräften durch Ausfälle und medizinischen Maßnahmen von 1,1 Milliarden Dollar einsparen könnte.

Daß aus den Erkenntnissen solcher Studien bislang weltweit keine Konsequenzen gezogen wurden, um Schwellen- und Grenzwerte der Luftschadstoff-Warnsysteme nach unten zu korrigieren, wirft die Frage auf, ob die Sorge um Gesundheit und Wohlbefinden der Bevölkerung vielleicht anderen, als vorrangig erachteten Interessen weichen muß. Läßt sich doch nicht leugnen, daß sich gegen Ozon nichts mehr unternehmen läßt, wenn es erstmal die Atemluft kontaminiert.

Um die gesundheitlichen Belastungen durch Ozon zu verringern, müssen zunächst die Emissionen jener Schadstoffe gesenkt werden, welche die Ozonbildung befördern (s.o.). Das wäre aber unabdingbar mit einer drastischen Drosselung der industriellen Produktion, des Verkehrs, der Energiegewinnung sowie der Lösungsmittelverwendung in Industrie, Gewerbe und Haushalten verbunden. Maßnahmen, die schon allein im Hinblick auf den unweigerlich bevorstehenden Klimacrash vergeblich diskutiert, von Wissenschaftlern und Aktivisten seit langem gefordert, aber nur sehr zögerlich und sporadisch umgesetzt werden. Es ist fraglich, daß drohende gesundheitliche Konsequenzen einen größeren Zugzwang haben könnten, etwas an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen zu verändern.


Anmerkungen:


[1] http://www.fr.de/wissen/klimawandel/klimawandel/rekord-sommer-umweltbundesamt-fordert-hitze-aktionsplaene-a-1553983

[2] https://www.umweltbundesamt.de/daten/luft/ozon-belastung#textpart-1

[3] https://www.ardmediathek.de/radio/Quarks-Topthemen-aus-der-Wissenschaft/Ozonalarm-in-NRW/WDR-5/Audio-Podcast?bcastId=33674816&documentId=54411200

[4] Tagesaktuelle Werte der Luftschadstoffe und Ozon finden Sie im Schattenblick unter:
INFOPOOL → UMWELT → UMWELTDATEN
z.B. für Schleswig-Holstein:
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/ip_umwelt_umweltd_luft-sh.shtml

[5] 120 µg/m³ (Mikrogramm pro Kubikmeter) über 8 Stunden gilt europaweit als Zielwert, der nicht öfter als 25 mal im Jahr überschritten werden soll. Deutschlandweit wurden laut Umweltbundesamt [2] die Werte bis Ende Juli 2018 im Durchschnitt zwischen 30 und 65 mal überschritten. Zielwerte sollen zwar möglichst eingehalten werden, sie sind aber keine Grenzwerte, die eingehalten werden müssen.
Ab dem Informationsschwellenwert 180 µg/m³ werden Warnungen für empfindliche Personen herausgegeben, ab 240 µg/m³ gibt es Ozonalarm, der für alle Menschen gilt.

[6] https://www.sz-online.de/nachrichten/viel-sonne-viel-ozon-3969025.html

[7] Die Studie läßt sich hier herunterladen:
http://www.euro.who.int/en/health-topics/environment-and-health/air-quality/publications/2013/review-of-evidence-on-health-aspects-of-air-pollution-revihaap-project-final-technical-report

[8] https://www.umweltbundesamt.de/daten/luft/ozon-belastung

[9] https://www.deutschlandfunk.de/umweltgifte-welche-dosis-ist-schaedlich.740.de.html?dram:article_id=421157

[10] http://www.nber.org/papers/w17004



2. August 2018


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