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MELDUNG/001: Alle Jahre wieder... neue Gerüchte um die Schokolade (SB)


Alle Jahre wieder

Neue Schokoladengerüchte zur Weihnachtszeit


Erst gut - dann schlecht - dann wieder gut! Wer die in den Medien verbreiteten Nachrichten zu einem der populärsten Konsumartikel in der Bundesrepublik verfolgt, erlebt ein Wechselbad der Gefühle, Bewertungen und Gesundheitsprognosen. Dabei kann etwas, von dem jeder Bundesbürger jährlich pro Kopf etwa acht Kilo verzehrt, nämlich Schokolade in Form von gefüllten Tafeln und Pralinen, nicht wirklich schlecht sein. Immerhin glauben über 82 Millionen Menschen, daß ihnen Schokaladeessen in irgendeiner Weise gut tut und wenn es nur gute Laune macht.

Mediziner sehen darin allerdings ein besonders von Frauen bevorzugtes Suchtmittel, das ein schwer zu widerstehendes Verlangen erzeugt, aber überwiegend schädlich ist: Der darin enthaltene Zucker soll die Zähne angreifen, das Fett Herz und Gefäße schädigen, die Kalorien das Gewicht in die Höhe treiben und das darin enthaltene Kakaopulver sogar Migräneattacken auslösen.

Tatsächlich ist Schokolade sehr viel besser als ihr Ruf und ein durchaus ausgewogen zusammengesetztes Nahrungsmittel: Sie enthält acht Prozent Eiweiß (Proteine), 60 Prozent Kohlenhydrate und 30 Prozent Fett. Eine 100 Gramm-Tafel liefert zwar etwa 520 Kilokalorien, aber auch essentielle Mineralstoffe und Vitamine: Kalium (420 mg), Chlor (270 mg), Phosphor (240 mg), Calcium (220 mg), Magnesium (55 mg), Eisen (1,6 mg), Kupfer (0,3 mg), Zink (0,2 mg), Vitamin A (0,008 mg), Vitamin B1 (0,1 mg), Vitamin B2 (0,24 mg), Vitamin B3 (1,6 mg) und Vitamin E (0,5 mg).

Eine Tafel Schokolade eignet sich also hervorragend als Notration für schlechte Zeiten, auch wenn wichtige Substanzen wie die Vitamine C und D ganz fehlen. Darüber hinaus enthält Schokolade noch einiges mehr, z.B. Phenylethylamin (normal 50-100 mg, höchstens 700 mg), das über die Dopaminausschüttung im Gehirn für ein angenehmes Wohlgefühl sorgen soll, Oxalsäure (auch in Rhababer enthalten) und Coffein (besser bekannt und stärker vertreten in Kaffee oder Tee). Diese Stoffe haben alle keinen Nährwert, wirken jedoch stimulierend auf den Organismus.

Seit wenigen Jahren sind auch Mediziner auf Drängen oder im wissenschaftlichen Auftrag der Schokoladenindustrie dazu übergegangen, den gesundheitlichen Aspekt der Schokoladeninhaltsstoffe nicht mehr zu übersehen. So machte sie erstmals im Jahr 2002 Schlagzeilen, weil man in ihr sekundäre Pflanzeninhaltsstoffe in nennenswerter Dosierung entdeckt zu haben glaubte, die angeblich als Antioxidantien (in der populären Medizin "Radikalenfänger" genannt) Herz- und Kreislauferkrankungen und sogar Krebs vorbeugen sollen. Im September 2003 hieß es dann in der Süddeutschen Zeitung:

Nicht nur ihr Geschmack lockt, eine neue Studie bestätigt, dass Schokolade auch gesund ist - allerdings nur die wirklich bittere. Denn Schokolade enthält so genannte Antioxidantien, die möglicherweise die Gefahr von Herz-Kreislauferkrankungen verringern (Nature, Bd.424, S.1013, 2003). Mauro Serafini und seine Kollegen vom Nationalen Lebensmittel-Institut in Rom betonen aber, dass nur Antioxidantien aus bitterer Schokolade den Weg in den menschlichen Organismus schaffen. Im Durchschnitt fanden die Forscher im Blut ihrer zwölf Versuchspersonen etwa ein Fünftel mehr Antioxidantien, wenn diese eine Stunde vorher eine 100-Gramm-Tafel gegessen hatten. Da Vollmilch-Schokolade nur halb so viele Antioxidantien enthält, durften die Versuchspersonen davon sogar 200 Gramm verschlingen. Dennoch fanden sich bei ihnen keine höheren Antioxidantien-Konzentrationen im Blut.
(SZ, 2. September 2003)

In anderen Medien wurden die Ergebnisse der Studie so ausgelegt, daß nur Milch die Schokolade ungesund mache. Ohne Milch sei Schokolade quasi ein Jungbrunnen par excellence, der Runzeln, Krebs und anderer altersbedingter Unbill vorbeuge. Die durchaus berechtigte Lust auf Schokolade hat durch solche Meldungen neue Rechtfertigung und moralischen Auftrieb erfahren, seither hielten neue Zartbittermarken mit 60-80% reinem Kakaoanteil Einzug in die Warenhäuser und gelangten sogar in die Regale von Billigsupermärkten wie Aldi und Lidl. Inzwischen ist die Sache mit dem Jungbrunnen längst widerlegt (selbst 8 Kilo Schokolade im Jahr enthalten lange nicht genug davon, um den Menschen tatsächlich vor schädlichen Attacken zu bewahren) und doch hält sich das Gerücht, dunkle Schokolade sei gesünder.

Kakao enthält, wie man seit längerem weiß, sogenannte Polyphenole. Epicatechin ist beispielsweise ein in der Schokolade vorkommendes Flavonoid, das nachweislich die Überproduktion von Blutplättchen, Thrombozyten, bremst, also auch eine leichte Wirkung auf die Blutgefäße besitzt. Da Flavonoide zur Stoffgruppe der Polyphenole gerechnet werden können und durch entsprechende Strukturmerkmale ebenfalls leicht oxidierbar sind, kann man auch sie als Antioxidantien bezeichnen.

Doch selbst wenn Schokolade große Mengen dieser Flavonoide enthielte, was gar nicht so ist, so ist die Theorie der Radikalenangriffe an sich, mit der dann auch die gesundheitsfördernde Wirkung von sogenannten Radikalenfängern begründet wird, sehr fragwürdig:

Dazu muß man wissen, daß sich hinter diesem Thema eine in den letzten Jahren populär gewordene Theorie verbirgt, die wir an dieser Stelle schon häufiger kritisch betrachtet haben. Hierbei spielt der Begriff des "freien Radikals" eine große Rolle, das z.B. durch Photooxidation im Sonnenlicht als freies Sauerstoffradikal entsteht, dann in die Zellen eindringt und sie durch sein aggressives Potential schädigt. Für vorzeitige Alterung, Gefäßschäden bis hin zu Krebs müssen die freien Radikale derzeit als Sündenbock herhalten, obwohl man weder den Übeltäter noch den Wirkmechanismus nachweisen kann. Und das ist durchaus beabsichtigt.

Der Begriff Radikal stammt nämlich eigentlich aus der Chemie und ist ein reines Kunstprodukt, um über eine fiktive (d.h. nicht wirklich nachweisbare Zwischenstufe) eine bis dahin unerklärliche Reaktion erklärbar zu machen. Dementsprechend praktisch wurde das Radikal auch so definiert, daß es nur sehr kurz für Bruchteile von Sekunden auftritt, sofort weiterreagiert und eben nicht nachweisbar ist. Eine der ersten mit diesem Reaktionsmechanismus belegten Reaktionen war die Photooxidation von Fetten (dem "Ranzigwerden") bei dem hiernach freier radikalischer Sauerstoff auftreten sollte, d.h. ein Sauerstoffatom mit einem ungepaarten Elektron "O". Entsprechend werden nun Stoffe, die dieser Reaktion entgegenwirken können, also letztlich leichter oxidierbar sind als Fettsäuren, und die man daher auch als Antioxidantien in fetthaltigen Zubereitungen verwendet, als Radikalenfänger bezeichnet, weil sie angeblich die Kettenreaktion durch das Auffangen des Radikals abbrechen können. Und hier wird die Theorie wieder von der Medizin aufgegriffen, die mit dem Begriff Radikal wieder einmal unerklärliche Phänomene wie die Alterung oder die Krebsentstehung zu erklären sucht.

Seither werden alle bekannten und besonders pflanzliche Antioxidantien, die das Ranzigwerden von Fetten verhindern, auf dem Pharmamarkt als Radikalenfänger zur Hemmung der Entstehung von Krebs, Zellschäden, Herz- und Kreislauferkrankungen gehandelt. Dazu gehören die Vitamine A, C und E aber auch andere sekundäre Pflanzeninhaltsstoffe u.a. die gesamte Substanzgruppe der Polyphenole. Diese Stoffe finden sich beispielsweise in Rotwein, der den Cholesterin-Spiegel senken und die Blutgefäßwände entspannen soll, obwohl das nicht unbedingt allein auf die Wirkung der Polyphenole zurückzuführen ist.

Vor diesem Hintergrund muß man auch das folgende Experiment bewerten, das die Theorie, Schokolade könne Alterungsprozessen vorbeugen, ebenfalls ad absurdum führt:

Das italienisch-schottische Team um Serafini verabreichte 12 gesunden Freiwilligen dunkle Schokolade, Milchschokolade oder dunkle Schokolade mit einem Glas Milch. Die glücklichen Versuchspersonen aßen jeweils 100g zartbittere oder 200g Milchschokolade, weil letztere grundsätzlich weniger Polyphenole enthält. Nach einer Stunde wurden die jeweiligen Blutwerte der Probanden gemessen. Dabei ergab sich, dass die Edelbitterschokolade- Konsumenten einen um 20 Prozent erhöhten Antioxidantien-Spiegel aufweisen, während bei den anderen keine Veränderung feststellbar war. Die Forscher schließen daraus, dass Milch den Organismus daran hindert, die Polyphenole aufzunehmen. Wahrscheinlich gehen die Milchproteine und die antioxidativ wirkenden Stoffe eine sekundäre Bindung ein. Milchschokolade enthält also gesundheitsfördernde Stoffe, aber sie können vom Körper nicht verwertet werden.
(telepolis, 6. September 2002)

Dazu kommt noch, daß sich die Versuchsergebnisse letztlich auf jeweils nur 4 Probanden pro Untersuchungseinheit stützen, und somit keinerlei statistische Aussagekraft besitzen.

Darüber hinaus wurde nur Epicatechin im Blut der Probanden gemessen, und hier bei acht von zwölf Probanden in geringerer Konzentration. Ob dieses überhaupt aus der verabreichten Schokolade stammte sowie alles weitere, was in diesem Zusammenhang beschrieben wurde, ist ebenso Spekulation wie der Einfluß, den man den fiktiven Radikalen und Radikalenfängern auf den Organismus nachsagt. Anders gesagt, das Gerücht, Schokolade habe antioxidative und letztlich Alterungsprozesse aufhaltende Eigenschaften, beruht allein auf den Epicatechinwerten, die in exakt vier Probanden gefunden wurden. Und so relativierte einer der beteiligten Wissenschaftler, Alan Crozier die Studie bereits kurz nach ihrer Veröffentlichung:

Ich kann mir vorstellen, dass dies gute Nachrichten für die Schokoholiker sind, die dunkle Schokolade bevorzugen. Aber natürlich möchte ich betonen, dass wir von einem moderaten Maß des Verzehrs sprechen! Auf der wissenschaftlicheren Ebene wirft unsere Forschung ein Schlaglicht auf die Möglichkeit, dass die Wirksamkeit von Flavonoiden [Polyphenolen] durch andere Bestandteile von Nahrungsmitteln verschlechtert oder reduziert wird. Es kann gut sein, dass weitere Lebensmittelkombinationen ebenfalls den schützenden und positiven Effekten der Flavonoide entgegenwirken.
(telepolis, 6. September 2002)

Da aber immer wieder neue, angeblich gesunde Aspekte der Schokolade aufgedeckt werden (so wurde im November 2004 behauptet, das darin enthaltene Theobromin soll sich positiv auf Reizhusten auswirken), hält sich das Gerücht von gesunder, dunkler Schokolade, obgleich im Laufe der Jahre ebenfalls schwerwiegende Umweltgifte wie Kadmium in Bitterschokolade nachgewiesen wurden, was aber von den Schokoladenliebenden schnell wieder verdrängt wurde:

Das Schwermetall Kadmium ist dagegen in allen Bitterschokoladen nachweisbar. Kakaopflanzen nehmen es über ihre Wurzeln auf. Ein natürlicher Prozess. Vor allem bei Edelkakao, der auf vulkanischen Böden wächst. Einen Grenzwert für Kadmium in Schokolade gibt es noch nicht. Nur eine Empfehlung des Bundesinstituts für Risikobewertung BfR.

Dunkle Schokolade sollte demnach pro Kilogramm nicht mehr als 0,3 Milligramm Kadmium enthalten. 24 Schokoladen im Test halten diese Empfehlung ein. Nur die Tobago Edelbitter von Rausch liegt deutlich darüber. Sie enthält 0,45 Milligramm Kadmium pro Kilogramm Schokolade. Auch das gibt Punktabzug. Ein Grenzwert für Kadmium in Schokolade wäre hilfreich, könnte aber auch das Aus für bestimmte Anbauländer und Kakaosorten bedeuten.
(Stiftung Warentest/hgn/mah, 23. November 2007)

Da der giftige Einfluß von Kadmium auf den Organismus u.a. angeblich ebenfalls über die Erzeugung von "Radikalen" funktionieren soll, ließe sich wissenschaftlich begründen, warum Schokolade bisher nie als besonders krankmachend auffällig wurde. Offenbar reichen die darin enthaltenen Polyphenole gewissermaßen als Gegenmittel aus, um die Wirkung der Schwermetalle zu neutralisieren.

Schaut man auf das Datum der veröffentlichten Dokumente, dann werden die Diskussionen um Schokolade offenbar immer in den letzten Monaten des Jahres geführt, so daß man dahinter den Versuch einer Einflußnahme auf das Verbraucherverhalten zur Weihnachtszeit vermuten könnte.

Dieses Jahr hieß es ebenfalls wieder im November: Mediziner hätten den Zusammenhang zwischen Magnesium im Blut und Zahnfleischentzündungen untersucht, für den sie sogar den deutschen MILLER-Preis erhielten.

Die Wissenschaftler aus der Universitätszahnklinik Greifswald überzeugten die Gutachterkommission mit ihren Forschungsergebnissen zu Beziehungen zwischen dem Versorgungsgrad der Bevölkerung mit Magnesium und der Zahngesundheit. Anhand 4.000 Probanden wiesen die Greifswalder Wissenschaftler nach, daß eine ausreichend hohe Magnesium-Konzentration im Blut offenbar mit weniger Entzündungen des Zahnfleischs einhergeht, sowie einem verbesserten Erhalt der Zähne. Auch die altersbedingte Zunahme der Parodontitis (Entzündungen des Zahnhalteapparates) und der Zahnverlust über eine fünf Jahre dauernde Nachuntersuchungszeit verliefen bei ausreichender Magnesiumzufuhr wesentlich langsamer. "Nach den Ergebnissen dieser Studie sind insbesondere Diabetiker und junge Frauen von einer Unterversorgung mit Magnesium betroffen", erklärten die Preisträger um Prof. Peter Meisel in München und legten damit die Schlußfolgerung nah, daß den beiden Gruppen möglicherweise der diätische Verzicht auf Schokolade gemein sein könnte. Denn:

"Die gute Nachricht dabei ist, dass dunkle Schokolade reichlich Magnesium enthält und darüber hinaus auch Inhaltsstoffe mit günstigen Wirkungen auf das Herz-Kreislaufsystem."
(Informationsdienst Wissenschaft - Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, 18. November 2009)

hieß es am Ende dieses Berichts. Nun, der Zuckergehalt von Schokoladenartikeln wirkt auch hier bekanntlich kontraproduktiv und einen Markt für Naschwerk ohne süßen Zucker, gerade zur Weihnachtszeit, gibt es bekanntlich noch nicht.

Ergo bleibt alles beim alten. Es gibt aber keinen Grund, sich das Vergnügen und spürbare Wohlbehagen, den der Genuß von Schokolade nachvollziehbar mit sich bringt, zu versagen, selbst wenn man auf Wunderheilungen verzichten muß. Ganz unbestritten ist Schokolade gesund - nur für die Wissenschaft bleibt das Geheimnis der schwarzen Bohnen nach wie vor im dunklen.

Erstveröffentlichung 2007
neue, aktualisierte Fassung
8. Dezember 2009