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BERICHT/114: Vor 50 Jahren - Erste Karte vom Kongsfjord auf Vestspitsbergen (TU Dresden)


Dresdner UniversitätsJournal Nr. 16 vom 16. Oktober 2012

Vor 50 Jahren: Erste Karte vom Kongsfjord auf Vestspitsbergen

Von Klaus Wilk



Wissenschaftsgeschichte: Ulrich Voigt von der TH Dresden forschte auf Spitzbergen und wurde einziger Vollzeit-Glaziologe der DDR


Im Sommer vor einem halben Jahrhundert stach ein Expeditionsschiff namens "Prof. Albrecht Penck" von Warnemünde aus in See. Der klare Kurs hieß: Richtung Spitzbergen. An Bord des vom damaligen Nationalkomitee für Geodäsie und Geophysik bei der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gecharterten Forschungs-Potts, der von dem wissenschaftlichen "Kapitän" Prof. Wolfgang Pillewizer "gesteuert" wurde, war auch der Dresdner Physik-Assistent Ulrich Voigt von der Technischen Hochschule Dresden (TH), der späteren TU Dresden. Sie hatten das Ziel, hydrologische und geodätische Aufgaben sowie glaziologische Rätsel zu lösen.

Der im oberösterreichischen Steyr gebürtige Pillewizer gründete 1960 das erste deutsche Kartographische Institut an der Dresdner Hochschule, an der dann die akademische Ausbildung erfolgte. Er hatte bereits mehrere Vermessungen auf Spitzbergen und im wildesten und schroffesten Hochgebirge der Welt, dem Karakorum in Pakistan, vorgenommen. Und so regte der schon seit frühester Jugend begeisterte Bergsportler auch Erkundungstouren für die Hochgebirgstopografie und Gletscherforschung mit DDR-Wissenschaftlern an.

Diese Sommer-Expedition leitete Wolfgang Pillewizer und hatte seine "Besatzun" selbst "angeheuert". Da er Mitte der 1950er Jahre den Dresdner Studenten Ulrich Voigt, der sich in der Bibliothek des Deutschen Alpenvereins in München etwas Geld verdiente, kennenlernte, kam der Lehrstuhl-Leiter 1962 erneut auf den Sachsen zu.

"'Wir brauchen zwei wissenschaftlich interessierte Bergsteiger', wünschte Chef Pillewizer", erinnert sich Ulrich Voigt. "Das war natürlich eine Riesenchance für einen Assistenten in der DDR zu jener Zeit. Und ich habe sie genutzt", freut sich noch heute der 78-Jährige. Also gehörten er und sein Kletterkamerad Siegfried Meier zur Forschungs-Schiffscrew. Die Reisevorbereitungen für Spitzbergen seien unkompliziert gewesen, so berichtet Ulrich Voigt, "denn man benötigte keine Visa und auch kein Geld, da es sowieso kaum etwas zu kaufen gab. Wir konnten forschen, wie wir wollten."

Das ermöglichte ein seit 1921 geltendes Traktat, mit dem Norwegen das zwischen Grönlandsee und Barentsee sowie dem Nordpolarmeer vorgelagerte Eiland verwaltete. "Für mich als geborene Landratte war allerdings die Überfahrt auf dem kleinen Kahn bei oftmals rauer See furchtbar", weiß der Elbestädter noch genau. Allein waren die Deutschen bei der Ankunft aber nicht, denn etwa 1000 Norweger und 3000 Sowjetbürger hatten im Kohlebergbau noch Arbeit.

"Unsere Aufgabe bestand zuerst darin, fotogrammetrische Bewegungsmessungen an Gletschern vorzunehmen. Ein Netz von Messpunkten gab uns die Möglichkeit, Profile der Gletscherbewegungen mittels Fotogrammetrie zu erstellen", erläutert der Wissenschaftler. Damit hatte die Forschungsgruppe die Grundlagen für eine Karte dieses arktischen Gletschergebietes im Maßstab 1: 25.000 geschaffen, die für die Geo-Wissenschaft und die Menschen vor Ort äußerst bedeutsam war.

Pillewizer forschte über die sogenannte Blockbewegung der Gletscher. Er versuchte herauszubekommen, wie und wann sich die im Wesentlichen als Block auf dem Untergrund gleitenden Gletscher bewegen und dadurch die höchsten Geschwindigkeiten erreichen.

Denn: Ein normaler Alpengletscher bewegt sich am Tag etwa 10 Zentimeter, die Blockgletscher gleiten in dieser Zeit 100-mal schneller. Die Spitzbergen-Forscher erkannten dies und fanden noch heraus, dass die Blockgletscher auf einer Art Wasser-"Bett" gleiten und dadurch so schnell sind. "Das ist in der Glaziologie heute immer noch eine Lehrmeinung", behauptet Ulrich Voigt, der die Auswertung der Expedition leitete. "Die Resultate legten nahe, dass man über den Zeitraum eines kompletten Jahres hinweg forschen müsste, um fest fundierte und nachweisbare Langzeit-Ergebnisse vorlegen zu können." Das war auch eine Gelegenheit für ihn, sein Dissertationsthema zur Glaziologie mit den neuen Erkenntnissen zu erweitern.

Die Bilanzierung des Forschungs-"Unternehmens" nahm Voigt auf seiner Arbeitsstelle der Sektion Bauen, Wasser und Geodäsie an der TH vor, die ihm sein Chef ebenso vermittelt hatte wie eine Honoraranstellung bei der Akademie der Wissenschaften als freiberuflicher Glaziologe. Er war damit der Einzige dieses Faches in der DDR; arbeitete und tauschte sich international mit seinesgleichen aus, von denen es beispielsweise in der Sowjetunion zehnmal mehr als in allen anderen Ländern gab. "Das war eine goldene Zeit für meine berufliche Entwicklung und auch für das Gedeihen unserer Familie, in der mir meine Frau Anita vier Töchter schenkte, die übrigens alle auch in den Bergen unterwegs sind", sagt lächelnd und stolz Uli, wie ihn seine Freunde nennen. In dieser Zeit der Auswertung bereitete er mit Fachleuten die als ganzjährig vorgesehene zweite "Deutsche Spitzbergen-Expedition" vor. Sein besonderes Augenmerk galt der "Überwinterungsgruppe" im Kongsfjord, der Königsbucht.

Das zweite der beiden Akademie-Forschungsschiffe - auf "Meteor" getauft - lichtete im Juli 1964 die Anker; in Ny Alesund ging die Forscher-Besatzung an Land. "Dieser Ort, oder diese Siedlung, steht auf dem 79. Grad nördlicher Breite. Wir hatten vier Monate Dunkelheit und es auch mal mit neugierigen, nach Fressbarem suchenden Eisbären zu tun", schildert Uli Voigt. Sie hatten für zwei Jahre Verpflegung und ein wissenschaftliches Ernährungsprogramm vom Institut in Rehbrücke bei Potsdam mitbekommen. "Knäckebrot war das einzige Nahrungsmittel, das man nicht über bekam. Vorgesehen war auch, dass wir pro Mann und Tag 100 Gramm Wodka konsumieren sollten. Hunderte Flaschen des Getränks mussten mit den anderen Waren vom Kahn gelöscht und neu eingelagert werden", liest der Pensionär in seinen Tagebüchern nach, die er alle in Stenografie-Schrift geführt hat. Die "Meteor" gibt es heute noch.

Die Bergwerksiedlung erlebte 1962 durch eine Gasexplosion ein schweres Grubenunglück mit über 20 Toten. Daraufhin wurde die Kohlenmine geschlossen und Ny Alesund fluchtartig verlassen. "Und genau dort suchten wir eines der übrig gebliebenen, noch nutzbaren Häuser für den Winter aus, in das wir uns einquartierten. Vier Norweger hielten seit dem Unglück die Anlagen in Ordnung", erläutert Voigt, der sich mit den Einwohnern einigermaßen verständigen konnte, da er rasch Norwegisch gelernt hatte.

In dem Dutzend Monate auf dem kalten und meist unwirtlichen Eiland bewältigten die fünf Wissenschaftler ein enormes Forschungs-Pensum abermals zur Bewegung der Gletscher. Erstmals in der Welt beobachteten sie ein Jahr lang den Bewegungsverlauf der riesigen Eismassen und unternahmen dafür erneut fotogrammetrische Messungen während der Polarnacht bei Mondlicht, wobei die Aufnahmen stundenlang belichtet wurden.

Ein weiteres gewichtiges Ergebnis war, dass blockbewegte Gletscher in der Winterzeit nicht wesentlich langsamer verrücken als in den anderen Jahresquartalen. Drei Geodäten werteten die Vorgänge per "Stereo-Komparator" aus. Diese Messungen waren in ihrer Vorbereitung nicht ganz ungefährlich. "Da Messstangen auch mittig auf einem völlig zerissenen Gletscher gesetzt werden sollten, war dies schon ein schwieriges bergsteigerisches Unterfangen. Es hätte aufgrund der Zerissenheit der gigantischen Eismassen auch mal schiefgehen können", schätzt Uli Voigt heute das Risiko ein.

Ebenfalls zum ersten Mal maßen die Forscher die Wassertiefe am Rand des Gletscherabbruchs. "Da die Gletscher in jeder Jahreszeit immer wieder kalben, mussten wir die Messungen äußerst vorsichtig ausführen. Im Sommer ist das mit Booten zu gefährlich, im Winter auf Skiern ging es aber. Bei gefrorenem Fjord galt es, ein Loch ins Eis zu bohren. Dann haben wir an einem Faden ein Senkblei hinabgelassen und so 70 Meter Tiefe nachweisen können", informiert der Dresdner und sagt weiter: "So hatte auch das Messen der Eisdicke einer Kalbungsfront Premiere."

Aber nicht nur die wissenschaftliche Tätigkeit bestimmte den Alltag für die Männer. Freude bereitete, wenn die "Luft"-Post im wahrsten Sinne des Wortes kam. Ein Flugzeug brachte sie und warf die Sendungen ab. Zu Weihnachten auch Geschenke und Post aus der Heimat sowie säckeweise Philateliepost, da die Expedition einen Sonderstempel im Reisegepäck hatte und so viele Wünsche erfüllte.

Der passionierte Bergsteiger hat noch gut in Erinnerung, dass sie zu Feiertagen wie Pfingsten und an freien Wochenenden in nahen Bergen Erstbegehungen an den Felsen bis zum V. Grad der sächsischen Schwierigkeitsskala unternahmen. "Wenn man ein wenig die Seele baumeln lassen wollte, halfen die Stille und riesigen Weiten, die unheimlich beeindruckend für mich waren", so der heutige Ehrenvorsitzende des Sächsischen Bergsteigerbundes.

1994 besuchte Dr. Ulrich Voigt - er konnte zwei Jahre zuvor die 1977 aus politischen Gründen von der TU Dresden abgelehnte Dissertation zur Glaziologie erfolgreich verteidigen - noch einmal Ny Alesund, wo sich vieles verändert hatte. Heute gibt es auf Spitzbergen einen Flugplatz, eine Universität. Deutschland hat die "Alfred-Wegener-Station" aufgebaut; der Ort sei ein Ort der Forschung geworden, meint er. Und an der Hütte, die sie damals bewohnten und die immer wie alle Gebäude stets offen war, versperrte zu seinem Erstaunen ein Schloß den unmittelbaren Zugang. "Eigentlich unverständlich für einen so weltoffenen Ort, von dem schon 1928 der italienische Oberst Nobile und zuvor der norwegische Forscher Roald Amundsen zu ihren Erkundungen und Abenteuern aufbrachen."

Dennoch würde der rüstige Glaziologe auch jetzt gern wieder die starken Veränderungen persönlich aufnehmen, die die Klimaerwärmung den Gletschern Spitzbergens brachte.

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Quelle:
Dresdner UniversitätsJournal, 23. Jg., Nr. 16 vom 16.10.2012, S. 8
Herausgeber: Der Rektor der Technischen Universität Dresden
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. November 2012