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ASTRO/132: Verliert das Universum Energie? (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 11/10 - November 2010

Kosmologie
Verliert das Universum Energie?

Von Tamara M. Davis


Früh lernt jeder Physikstudent den Energieerhaltungssatz: Die Gesamtenergie eines abgeschlossenen Systems bleibt konstant. Doch das Universum als Ganzes scheint dieses Grundgesetz zu verletzen.


In Kürze
Weil das Universum expandiert und Galaxien sich von uns entfernen, erfährt ihr Licht eine Rotverschiebung und wird dadurch energieärmer.
Diese scheinbare Verletzung des Energieerhaltungssatzes widerspricht tatsächlich nicht den anerkannten physikalischen Gesetzen.
Die Energie einzelner Photonen bleibt nach Interpretation der Autorin erhalten, und alle Prozesse in den Galaxien erfüllen den Energiesatz.

Energie kann weder erzeugt noch zerstört werden. Diesen Erhaltungssatz betrachten Physikern als unantastbar. Er beherrscht jeden Lebensbereich - das Aufwärmen einer Tasse Kaffee, die chemischen Reaktionen, mit denen Blätter Sauerstoff erzeugen, die Bahn der Erde um die Sonne, die Nahrung, die wir brauchen, damit unser Herz schlägt. Ohne Essen können wir nicht leben, das Auto fährt nicht ohne Kraftstoff, und Perpetuum mobiles sind pure Fiktion. Darum schöpfen wir mit Recht sofort Verdacht, wenn ein Experiment den Energieerhaltungssatz zu verletzen scheint. Kommt so etwas überhaupt vor?

Kehren wir einmal kurz der Erde den Rücken und wenden uns dem Weltall zu. Fast alle Informationen über den fernen Weltraum gewinnen wir in Form von Licht, das auf seinem langen Weg von fernen Galaxien durch das expandierende Universum eine Rotverschiebung erfährt; die elektromagnetischen Wellen werden gemäß Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie gestreckt. Doch wir wissen: Je größer die Wellenlänge, desto kleiner die Energie. Das wirft die Frage auf, wohin die Energie verschwindet, wenn das Licht durch die kosmische Expansion röter wird. Geht sie verloren - und verletzt damit das Erhaltungsprinzip?

Wie die moderne Physik zeigt, geraten viele unserer Grundannahmen ins Wanken, wenn wir uns aus dem vertrauten Alltag in extreme Bereiche von Zeit und Raum hinauswagen. Seit Einstein wissen wir, dass Gleichzeitigkeit nichts Absolutes ist, sondern von der Perspektive des Beobachters abhängt, und dass auch Abstand und Dauer relative Begriffe sind. Neuerdings vermuten wir sogar, dass die Kontinuität von Zeit und Raum ebenso illusionär ist wie das täuschend glatte Aussehen eines polierten Festkörpers. Worauf können wir uns in der Physik überhaupt noch verlassen? Welches unserer ängstlich festgehaltenen Prinzipien verstellt uns die Sicht und macht uns blind für tiefere Wahrheiten? Wir Physiker sind doch gewohnt, das Bekannte in Frage zu stellen, um herauszufinden, wo unser Wissen nicht ausreicht oder einfach falsch ist. Die Geschichte ist übersät mit dem Abfall abgelegter Irrtümer. Gehört die Erhaltung der Energie dazu?

Nein. Im Maßstab einzelner Photonen bleibt die Energie stets erhalten, selbst wenn Rotverschiebung eintritt. Das Gleiche gilt für Phänomene, die innerhalb unserer Milchstraße stattfinden. Erst in kosmologischen Größenordnungen wird die Energie zu einem wirklich subtilen Begriff - und da beginnt es interessant zu werden.


Symmetrien und Erhaltungsgrößen

Die Energieerhaltung wurde nicht nur empirisch unzählige Male bestätigt, sondern auch theoretisch sprechen starke Gründe dafür. Unser Grundvertrauen stützt sich auf die deutsche Mathematikerin Emmy Noether, die vor fast 100 Jahren entdeckte, dass alle Erhaltungssätze auf natürlichen Symmetrien beruhen.

Für gewöhnlich denkt man bei Symmetrie an ein Spiegelbild, an eine Art Reflexion oder vielleicht an eine Drehung. Ein gleichseitiges Dreieck ist symmetrisch, weil man, wenn man es seitlich umklappt oder um ein Drittel dreht, wieder genau dieselbe Form erhält. Auch ein Quadrat ist symmetrisch, aber man muss es nur um ein Viertel drehen, damit es mit sich identisch wird. Das »symmetrischste« zweidimensionale Objekt ist der Kreis, denn man kann ihn beliebig rollen und um jede Achse durch den Mittelpunkt spiegeln, ohne dass er sich ändert - er besitzt kontinuierliche Symmetrie.

Auch physikalische Gesetze können symmetrisch sein. Das Verstreichen der Zeit verändert die Naturgesetze nicht; wenn man ein Experiment - zum Beispiel die Kollision von Billardkugeln unter gegebenem Stoßwinkel - oft wiederholt, kommt immer dasselbe heraus. Diese Eigenschaft heißt Zeitsymmetrie. Die Naturgesetze ändern sich nicht je nachdem, wo man sich gerade aufhält, also gilt räumliche Symmetrie. Sie hängen auch nicht von der Richtung ab, in die man schaut: Es herrscht Rotationssymmetrie. Gewiss, die Aussicht ändert sich je nach Standort, Zeitpunkt und Richtung der Beobachtung - aber die physikalischen Grundgesetze, die vorschreiben, wie die Aussicht sich verändert, gelten unabhängig von Ort, Orientierung und Zeit der Beobachtung. Ein in diesem Sinn situationsunabhängiges Gesetz ist - wie der Kreis - kontinuierlich symmetrisch.

Unseren Vergleich des Universums mit einem expandierenden Luftballon dürfen wir nicht allzu wörtlich nehmen

Nach Emmy Noether entspricht jeder kontinuierlichen Symmetrie ein Erhaltungssatz und umgekehrt. Insbesondere folgt aus der Raumsymmetrie die Impulserhaltung, aus der Rotationssymmetrie die Drehimpulserhaltung und aus der Zeitsymmetrie die Erhaltung der Energie.

Darum steht und fällt der Energiesatz mit der Aussage, dass jetzt dieselben physikalischen Gesetze gelten wie in der Vergangenheit und in der Zukunft. Bräche die Zeitsymmetrie zusammen, wäre dies das Ende der Energieerhaltung. Das ist der Punkt, an dem Einsteins Universum den Energiesatz ins Wanken bringen könnte.

Um nachzusehen, ob die Gegenwart mit der Vergangenheit übereinstimmt und somit die Energie im Universum erhalten bleibt, betrachtet man am besten durch ein astronomisches Teleskop die Vergangenheit in voller Aktion. Unsere Fernrohre sind nicht so stark, dass wir mit ihnen bis in jene Zeit schauen können, als sich die ersten Galaxien bildeten, oder gar noch weiter zurück zum heißen Nachglanz des Urknalls selbst. Das Licht, das schließlich den Spiegel unseres Teleskops erreicht, war Milliarden Jahre unterwegs, ohne ein anderes Objekt zu treffen; seine Wellenlänge gibt Auskunft über das Schicksal der universellen Energie.


Kosmologische Rotverschiebung

In den 1920er Jahren entdeckte der amerikanische Astronom Edwin Hubble, dass das Licht der meisten Galaxien zu Rot hin verschoben ist: Die Wellenlänge der Photonen, die von den Atomen einer weit entfernten Galaxie emittiert oder absorbiert werden, erscheint uns gegenüber den von den gleichen Atomen auf der Erde emittierten Wellenlängen als gedehnt - und zwar ungefähr proportional zur Entfernung der Galaxie. Seit dieser Entdeckung schließen Astronomen aus der Rotverschiebung ferner kosmischer Objekte auf deren Distanz.

Auch hier auf der Erde finden ständig solche Verschiebungen statt. Angenommen, Sie fahren an einer Radarfalle vorbei, mit der die Polizei gern Temposünder überführt. Während Ihr Auto sich dem Gerät nähert, würden Ihnen die elektromagnetischen Radarwellen - wenn Sie sie sehen könnten - ein wenig gestaucht erscheinen; nachdem Sie das Gerät passiert haben, sähen die Wellen etwas gestreckt aus. Das ist der Dopplereffekt - das elektromagnetische Pendant zu dem bekannten akustischen Phänomen, dass sich die Tonhöhe einer Hupe beim Vorbeifahren zu ändern scheint. Das Polizeiradargerät ermittelt aus der Dopplerverschiebung der reflektierten Radarstrahlen Ihre Geschwindigkeit. Auch wenn Wellen wie diese nicht im sichtbaren Bereich liegen, sprechen die Physiker bei deren Dehnung von Rotverschiebung.

Doch die kosmologische Rotverschiebung hat nach gängiger Auffassung einen anderen Grund. Dopplerverschiebung entsteht durch die Relativbewegung von Sender und Empfänger. Dabei verlieren oder gewinnen die Photonen keine Energie; sie sehen nur für den Empfänger anders aus als für den Sender. Hingegen wird die kosmologische Rotverschiebung den Lehrbüchern zufolge dadurch verursacht, dass der Raum, durch den das Licht wandert, sich selbst ausdehnt wie ein aufgeblasener Luftballon.

Darum kann eine kosmologische Rotverschiebung auch dann eintreten, wenn es gar keine Relativbewegung zu geben scheint; das zeigt das folgende Gedankenexperiment. Stellen wir uns eine weit entfernte Galaxie vor, die mit unserer Milchstraße durch ein langes Seil verbunden ist. Relativ zu uns ruht die Galaxie, obgleich die Galaxien in ihrer Nachbarschaft sich von uns entfernen. Dennoch lässt sich ausrechnen, dass das Licht, das uns von der angebundenen Galaxie erreicht, eine gewisse Rotverschiebung aufweist, wenn das Seil unterdessen gekappt wurde; sie ist nur nicht so stark wie die der benachbarten Galaxien, die ungehindert an der Expansion teilnehmen. Diese Rotverschiebung wird üblicherweise der Dehnung des vom Licht durchquerten Raums zugeschrieben.


WEITERE KOSMISCHE RÄTSEL

Expandiert der Raum innerhalb unserer Milchstraße?
Nein. Die kosmische Expansion beeinflusst die Dynamik innerhalb einer Galaxie nicht. Nachdem sich eine Galaxie durch lokale Gravitationseffekte gebildet hat, vermag die Expansion die Galaxie nicht mehr auseinanderzuziehen.

Erleiden die von fernen Galaxien stammenden Photonen die Rotverschiebung, weil die Dichte des Universums abgenommen hat und sie deshalb aus Gebieten höherer Gravitation zu uns gelangen?
Das stimmt zwar, aber da das Universum zu jeder Zeit homogen war, herrschte vor und hinter einem Photon dieselbe Dichte. Darum mussten die Photonen kein Schwerefeld überwinden.

Ist die Entropie mit der Zeitsymmetrie vereinbar?
Ja. Bei komplexen Teilchenwechselwirkungen, etwa wenn ein Ei zerbricht, können wir angeben, in welcher Richtung ein Film des Vorgangs abläuft: in Richtung wachsender Entropie oder zunehmender Unordnung. Dennoch könnte nach den physikalischen Grundgleichungen jede einzelne Wechselwirkung zwischen den Teilchen genauso gut umgekehrt laufen.


Eigenartige Physik

Photonen, die in einem expandierenden Universum unterwegs sind, verlieren also anscheinend Energie. Wie ist das mit Materie? Büßt auch sie Energie ein? Wenn wir die Bewegung von Materie im Universum beschreiben, unterscheiden wir zwei Arten. Ein Objekt kann sich einfach mit dem allgemeinen Strom der kosmischen Expansion von uns entfernen, so wie Punkte auf einem Luftballon beim Aufblasen. Außer diesem passiven Mitschwimmen kann das Objekt zusätzlich Eigenbewegungen ausführen, weil es durch lokale Effekte - die Gravitationsanziehung einer nahen Galaxie oder den Rückstoß einer Rakete - aus dem glatten Fluss der Expansion herausbugsiert wird.

Galaxien haben immer wenigstens ein bisschen Eigenbewegung, aber bei fernen Systemen, die sich rascher entfernen als nähere, ist die Eigengeschwindigkeit klein gegenüber ihrem Expansionstempo. Im größten Maßstab sind die Galaxien gleichmäßig verteilt; darum können lokale Effekte vernachlässigt werden, und die Galaxien folgen im Wesentlichen der Expansion. Sie können wie die Punkte auf dem Ballon betrachtet werden - als Markierungen für das expandierende Gefüge des Raums.

Ein mitbewegter Bezugsrahmen, wie ihn die Galaxien definieren, hat große Vorteile. Unter anderem liefert er einen universellen Zeitmaßstab, so dass jedermann in jeder mitbewegten Galaxie übereinstimmend feststellt, wie lange der Urknall zurückliegt. Wenn ein intergalaktischer Reisender einige Milliarden Jahre lang durchs All treibt, wird er viele dieser Markierungsgalaxien passieren. Doch da das Universum expandiert, bewegen sie sich voneinander weg, und unser Reisender scheint relativ zu den Galaxien, an denen er sukzessive vorbeischwebt, immer langsamer zu werden. Etwas scheint ihn zu bremsen.

Das heißt, die Materie verliert durch Verlangsamung Energie - wie das Licht durch Vergrößerung der Wellenlänge. Auf den ersten Blick scheinen beide Vorgänge nichts gemein zu haben. Doch interessanterweise vereinigt die Quantenmechanik die beiden. Ihr zufolge haben Teilchen mit Masse auch Welleneigenschaften. Der französische Physiker Louis de Broglie erhielt 1929 den Nobelpreis für die Entdeckung, dass mit zunehmendem Impuls eines Teilchens seine Wellenlänge kleiner wird - und damit seine Energie größer.

Materieteilchen können großen Impuls durch viel Masse oder hohe Geschwindigkeit gewinnen, oder durch beides. Das erklärt beispielsweise, warum ein Tennisball nicht wellenförmig zu zappeln scheint, nachdem er den Schläger verlassen hat. Tennisbälle haben quantenmechanisch gesehen ungeheuer viel Masse, und bei einer Geschwindigkeit von rund 145 Kilometer pro Stunde beträgt ihre Wellenlänge 10-34 Meter - für den Gegner kein Grund, seinerseits zapplig zu werden. Andererseits hat ein Elektron bei gleicher Geschwindigkeit eine Wellenlänge von 1,8 x 10-5 Meter; das ist zwar auch wenig, aber um 29 Größenordnungen mehr als beim Tennisball und für das Verhalten von Elektronen durchaus bedeutsam.

Wenn man ausrechnet, wie viel Relativgeschwindigkeit Masseteilchen verlieren, während sie ihre sich entfernenden Nachbarn passieren, findet man, dass die De-Broglie-Wellenlänge der Teilchen in exakt demselben Maß zunimmt wie die Wellenlänge eines Photons. Somit scheinen sich Licht und Materie genau gleich zu verhalten, wenn es um den Energieverlust im expandierenden Universum geht, und in beiden Fällen wird anscheinend die Energieerhaltung verletzt. Im Fall der Materie wird das Paradox durch die Tatsache erklärt, dass wir die Geschwindigkeit in unterschiedlichen Bezugssystemen messen - das heißt, relativ zu den sich entfernenden Galaxien. Wie wir sehen werden, geschieht mit Photonen etwas Ähnliches.


Kreative Buchführung

Ein kosmologischer Buchhalter, der nachweisen möchte, dass das Universum Energie verliert, wird sich nicht auf ein Objekt zu einer Zeit konzentrieren, sondern versuchen, die gesamte Energie im Universum zu bilanzieren. Zunächst trägt er einfach die in der Gesamtmasse m enthaltene Energie E ein, nach Einsteins berühmter Formel E = mc², in der c für die Lichtgeschwindigkeit steht. Dann addiert er die kinetische Energie hinzu, die von der Eigenbewegung der Materie herrührt. Zu dieser Summe kommt noch die Energie der Strahlung und als besonders komplizierte Aufgabe die Energie sämtlicher Gravitationsfelder um Planeten, Sterne und Galaxien sowie die in chemischen Bindungen und in den Atomkernen steckende Energie. Da Schall und Wärme nur Teilchenbewegungen sind, wurden sie schon berücksichtigt.

Ein Problem ist, dass das Universum unendlich groß sein könnte; dann enthielte es unendlich viel Materie und Energie. Darum muss der Buchhalter einen Trick anwenden. Er zieht eine imaginäre Membran um einen Bereich des Universums und summiert die darin enthaltene Energie (Kasten S. 25). Dann lässt er die Membran wie das Universum expandieren, so dass expansiv mitbewegte Galaxien innerhalb der Membran bleiben. Licht und Materie können die Membran passieren, doch da das Universum homogen ist, tritt gleich viel ein wie aus, und der Betrag innerhalb der Membran bleibt ungefähr konstant. Unser Buchhalter weiß, dass das gesamte Universum aus einer Serie solcher Volumina konstruiert werden kann. Wenn die Energie im Universum insgesamt erhalten bleiben soll, genügt es darum, zu zeigen, dass die Energie in jedem expandierenden Volumen konstant bleibt.


WARUM ENERGIE ZU VERSCHWINDEN SCHEINT

Das Argument für den kosmischen Energieverlust stützt sich auf die Rotverschiebung. Bei der Expansion des Universums scheint der Raum selbst sich zu dehnen. Dabei werden auch die elektromagnetischen Wellen des Lichts gestreckt und zum roten Teil des Spektrums verschoben (unten). Da längere Wellenlänge weniger Energie bedeutet, muss jedes Photon logischerweise auf dem Weg zu uns energieärmer werden.

Aber verliert das Universum als Ganzes Energie? Die Gesamtenergie der Photonen im Universum lässt sich nicht berechnen, doch im Prinzip kann man die Energie innerhalb einer imaginären Membran ermitteln, die zusammen mit dem Universum expandiert (rechts wird das Gebiet in einer Membran zweidimensional dargestellt). Photonen können durch die Membran ein- und austreten, aber wegen der im Großen gleichförmigen Dichte des Alls bleibt die Anzahl der Photonen in dem umschlossenen Gebiet ziemlich konstant. Da jedes Photon im Gebiet bei der Expansion des Raums Energie verliert, legt diese Überlegung nahe, dass die Gesamtenergie der Photonen im Gebiet abnehmen muss - und folglich auch im übrigen Universum.

(Abbildungen der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht.)


Für ruhende Materie, die sich einfach entspannt dem Fluss der Expansion überlässt, ist die Berechnung einfach. Ihre Energie entstammt nur ihrer Masse, und da keine Masse in die Membran eindringt oder sie verlässt, wissen wir, dass die Masse erhalten bleibt. Komplizierter wird es für Strahlung sowie für Materie mit Eigengeschwindigkeit. Obwohl sich die Anzahl der Photonen sowie die der Materieteilchen innerhalb der Membran nicht ändern, sinkt mit der Zeit sowohl die Photonenenergie als auch die kinetische Energie der eigenbewegten Materie. Darum nimmt die Gesamtenergie in der Membran ab.

Die Lage wird sogar noch komplizierter, wenn der Buchhalter die Dunkle Energie berücksichtigen will, welche die kosmische Expansion beschleunigt. Wesen und Eigenschaften der Dunklen Energie sind noch völlig rätselhaft, aber anscheinend verdünnt sie sich nicht im Lauf der Expansion. Somit wächst mit wachsendem Membranvolumen auch der Energiebetrag in diesem Volumen, wobei die zusätzliche Energie aus dem Nichts zu kommen scheint! Man könnte meinen, dass die Zunahme der Dunklen Energie die Verluste aller anderen Energieformen ausgleicht, aber das ist nicht der Fall. Selbst wenn wir die Dunkle Energie einkalkulieren, bleibt die Gesamtenergie innerhalb der Membran nicht erhalten.

Ein kosmologischer Buchhalter wird versuchen, die gesamte Energie im Universum zu bilanzieren

Wie vereinbart unser Buchhalter diese wechselnden Energien mit dem Noether-Theorem? Tatsächlich muss er bald einsehen, dass es keinen Grund gibt, warum es für unser wandelhaftes Universum gelten soll. Gemäß der allgemeinen Relativitätstheorie krümmen Materie und Energie den Raum, und je nachdem, wie Materie und Energie sich bewegen - oder sich in einem expandierenden Raum ausbreiten -, verändert sich entsprechend die Form des Raums. Im Alltag sind diese Effekte praktisch unmerklich klein, aber im kosmischen Maßstab können sie eine Rolle spielen.

Diese Formbarkeit des Raums hat zur Folge, dass das Universum nicht zeitsymmetrisch ist. Am einfachsten führt man sich diesen Umstand anhand der Billardkugeln vor Augen. Wenn wir mehrere Filme eines speziellen Stoßes betrachten, der auf einem Tisch mit veränderlicher Geometrie gespielt wird - zum Beispiel auf einem anfangs flachen Tisch, der sich mit der Zeit krümmt -, sieht jeder Film anders aus als die übrigen; man könnte angeben, wann und in welcher Reihenfolge die Filme gedreht wurden. Die Zeitsymmetrie wäre gebrochen (siehe Kasten S. 26/27).


ENERGIEERHALTUNG UND GEOMETRIE DER RAUMZEIT

Erhaltungssätze hängen eng mit natürlichen Symmetrien zusammen. Insbesondere bleibt die Energie erhalten, wenn die Naturgesetze zeitsymmetrisch sind. Man spricht von Zeitsymmetrie, falls das Resultat eines Experiments nicht davon abhängt, wann es durchgeführt wird. Wenn gleichartige Experimente zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich ausgehen, kann die Energieerhaltung verletzt sein. Ein Beispiel wäre ein Stoß über Bande auf einem Billardtisch, der während des Spiels seine Geometrie verändert. Da unser Universum in kosmologischem Maßstab eine veränderliche Geometrie hat, ist die universelle Energie vielleicht keine Erhaltungsgröße.

Gekrümmter Billardtisch
Um auf einem Tisch mit gekrümmter - nichteuklidischer - Geometrie zu spielen, muss man die Stöße der Geometrie anpassen. Falls die Geometrie zeitlich konstant bleibt, wird der exakt gleiche Stoß auch in Zukunft funktionieren. Wegen dieser Zeitsymmetrie bleibt die Energie in einem Universum mit fester Geometrie konstant.

Veränderliche Geometrie
Wenn die Geometrie des Billardtischs sich zeitlich ändert, gehen Stöße, die in der Vergangenheit funktionierten, beim nächsten Mal vielleicht daneben - die Zeitsymmetrie ist gebrochen. Etwas Ähnliches kann im Universum geschehen, denn nach der allgemeinen Relativitätstheorie verändert die Bewegung von Materie und Energie die Geometrie des Raums. Unter diesen Bedingungen muss die Energie nicht erhalten bleiben.

(Abbildungen der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht.)


Wir sind mit unserem ehrwürdigen Erhaltungsprinzip an eine Grenze gestoßen: Wenn Zeit und Raum selbst veränderlich sind, geht die Zeitsymmetrie verloren, und die Erhaltung der Energie muss nicht mehr gelten.

Aber auch wenn die Krümmung sich nicht ändert, ist der Versuch, die Energie des Universums zu bilanzieren, eine unnütze Übung: Die gottähnliche Perspektive unseres Buchhalters trifft auf keinen Beobachter im Universum zu. Insbesondere wird die Energie nicht berücksichtigt, die durch die Passivbewegung der Galaxien relativ zueinander entsteht; die Galaxien scheinen keine kinetische Energie zu haben. Ein weiteres Problem ist die Gravitationsenergie, die mit der gegenseitigen Anziehung der Galaxien verbunden ist. Die allgemeine Relativitätstheorie vermag Gravitationsenergie nicht immer eindeutig in einer Weise zu definieren, die für das Universum als Ganzes gilt.


Kosmische Feinheiten

Demnach bleibt die Gesamtenergie des Alls weder erhalten noch geht sie verloren - sie ist einfach undefinierbar. Wenn wir andererseits den gottähnlichen Standpunkt aufgeben und uns stattdessen auf ein Teilchen zu einer Zeit konzentrieren, finden wir nach Meinung vieler Kosmologen einen natürlicheren Weg, die Reise eines Photons aus einer fernen Galaxie zu beschreiben. Nach dieser Interpretation büßt das Photon letztlich keine Energie ein. Das hat folgenden Grund. Unser Bild des expandierenden Luftballons veranschaulicht zwar die Expansion ganz gut, darf aber nicht allzu wörtlich genommen werden: Der leere Raum hat keine physikalische Realität. Wenn Galaxien sich voneinander entfernen, steht es uns darum frei, diese Relativbewegung wahlweise als »Expansion des Raums« oder als »Bewegung durch den Raum« zu betrachten.


WARUM DIE PHOTONENENERGIE ERHALTEN BLEIBT

Die Rotverschiebung, die wir an fernen Galaxien beobachten, wird gewöhnlich der Dehnung des Raums zugeschrieben; sie kann aber auch durch die Fluchtbewegung der Galaxien gegenüber dem Beobachter erklärt werden. Insofern gleicht sie dem bekannten Dopplereffekt, den man hört, wenn ein hupendes Auto vorbeifährt. Dabei wird zugleich auch die Wellenlänge der vom optischen Warnsignal ausgehenden Photonen beeinflusst (unten). Im Fall des Autos bleibt die Energie erhalten. Ebenso zeigt die Berechnung der galaktischen Rotverschiebung als Dopplereffekt (gegenüberliegende Seite), dass auch die von einer fernen Galaxie ausgehenden Photonen keine Energie verlieren.

Gewöhnliche Dopplerverschiebung
Der Dopplereffekt ist eine Folge der Relativbewegung. Die vom bewegten Lichtsignal ausgehenden Wellen erscheinen nach Blau oder Rot verschoben, wenn sich die Lichtquelle nähert oder entfernt. Der Effekt ist umso größer, je schneller sich die Quelle relativ zum Beobachter bewegt. Das bedeutet aber nicht, dass bei der Dopplerverschiebung die Photonen unterwegs die Farbe wechseln oder Energie verlieren. Sie haben nur vom Standpunkt des Beobachters aus gesehen andere Farben.

Galaktische Rotverschiebung als Dopplereffekt
Die Rotverschiebung einer Galaxie ist identisch mit der Dopplerverschiebung, die ein Beobachter sähe, wenn eine Lichtquelle sich mit derselben Relativgeschwindigkeit entfernte wie die Galaxie - wobei Relativgeschwindigkeit allerdings richtig definiert sein muss. Erstens muss man die Trajektorien der Galaxie und des Beobachters nicht im Raum, sondern in der Raumzeit verfolgen. In unserer schematischen Skizze ist der Raum eine zweidimensionale Fläche, durch welche die Raumzeit-Trajektorien hindurchstoßen. Zweitens muss man die Geschwindigkeit der Galaxie zu der Zeit, als sie das Photon emittierte (lila Pfeil), mit der Geschwindigkeit des Beobachters zu der Zeit vergleichen, als er das Photon empfing (grüner Pfeil). Daraus lässt sich mittels der allgemein-relativistischen Gleichungen die Relativgeschwindigkeit errechnen. Die so ermittelte Dopplerverschiebung stimmt mit der Rotverschiebung der Galaxie überein. Somit lässt sich die Rotverschiebung als Folge der Relativbewegung deuten statt als Raumdehnungseffekt. Darum geht keine Energie verloren.

(Abbildungen der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht.)


Die kosmische Rotverschiebung wird normalerweise als Folge der Expansion des Raums erklärt. Aber in Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie ist der Raum relativ; was wirklich zählt, ist die Geschichte einer Galaxie - die Trajektorie, die sie in der Raumzeit beschreibt. Darum sollten wir, wenn wir die Relativgeschwindigkeit der fernen Galaxie in Bezug auf uns berechnen, deren Trajektorie und unsere vergleichen. Der Betrag der Rotverschiebung, den der irdische Beobachter an der Galaxie feststellt, erweist sich als identisch mit der Dopplerverschiebung, die er an einem Auto sähe, das sich mit derselben Relativgeschwindigkeit entfernt (siehe Kasten oben).

Das trifft zu, weil die Raumzeit des Universums in genügend kleinen Bereichen annähernd flach ist. Doch in einer flachen Raumzeit gibt es keine Gravitation und keine Dehnung von Wellen; jede Rotverschiebung muss einfach ein Dopplereffekt sein. Somit können wir uns vorstellen, dass das Licht auf seiner Trajektorie viele winzig kleine Dopplerverschiebungen erleidet. Und genau wie im Fall der vorbeibewegten Hupe - wo uns nicht einfiele, dass der Schall Energie gewinnt oder verliert - bewirkt auch hier die Relativbewegung von Sender und Beobachter bloß, dass die beiden die Photonen aus unterschiedlicher Perspektive sehen, und nicht, dass die Photonen unterwegs Energie verloren haben.

Letzten Endes umgibt also kein Rätsel den Energieverlust der Photonen: Die Energien werden von Galaxien aus gemessen, die sich voneinander entfernen, und die Energieabnahme ist nur eine Frage des Standpunkts und der Relativbewegung. Als wir zu klären versuchten, ob die Energie des ganzen Universums erhalten bleibt, stießen wir an eine fundamentale Grenze, denn wir können der Energie des Universums keinen eindeutigen Wert zuweisen. Darum verletzt das Universum den Energieerhaltungssatz nicht; vielmehr liegt es jenseits von dessen Geltung.


Tamara M. Davis promovierte 2004 an der University of New South Wales in Sidney (Australien). Sie forscht an der University of Queensland in Brisbane (Australien) und ist außerordentliche Professorin an der Universität Kopenhagen. Sie arbeitet mit großen astrophysikalischen Datenmengen, um Aufschluss über das Wesen von Dunkler Materie und Dunkler Energie zu gewinnen. Sie wurde mit dem Early Career Researcher Award der Astronomical Society of Australia und dem Women in Science Award for Australia der UNESCO ausgezeichnet.

Weblinks zu diesem Thema finden Sie unter www.spektrum.de/artikel/1044837.


Literaturhinweise

Bunn, E.F., Hogg, D.W.: The Kinematic Origin of the Cosmological Redshift. In: American Journal of Physics 77(8), S. 688-694, 2009.
Carroll, S.: Spacetime and Geometry: An Introduction to General Relativity. Addison-Wesley, München 2003.
Lineweaver, C.H., Davis, T.M.: Der Urknall - Mythos und Wahrheit. In: Spektrum der Wissenschaft 5/2005, S. 38-47.


© 2010 Tamara M. Davis, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 11/10 - November 2010, Seite 22 - 29
Herausgeber: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. November 2010