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FORSCHUNG/996: Neutrinos - Große Geheimnisse um kleine Teilchen (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 7/13 - Juli 2013

Neutrinos
Große Geheimnisse um kleine Teilchen

Von Marianne Göger-Neff, Lothar Oberauer und Stefan Schönert



Mit Großexperimenten enträtseln Forscher die letzten noch unbekannten Eigenschaften der Neutrinos. Außerdem nutzen sie die Geisterteilchen zunehmend auch als Sonden zur Erkundung des Erdinneren sowie für neuartige Teleskope in der Astronomie.


AUF EINEN BLICK
 
Auf dem Weg zu einer neuen Physik

1. Myriaden Neutrinos durchdringen jede Sekunde unseren Körper; sie sind die häufigsten Teilchen im Universum. Seit über 80 Jahren versuchen Physiker, die Geheimnisse der Geisterteilchen zu enträtseln.

2. In einer Vielzahl von Großexperimenten sind sie heute dabei, ihre Eigenschaften - vor allem die Masse - genau zu bestimmen. Davon hängt ab, wie das Standardmodell der Materie erweitert werden muss.

3. Fortschrittliche Neutrinoteleskope werden künftig nicht nur den Kollaps ausgebrannter Sterne in unserer Galaxie direkt beobachten, sondern auch ins Innere junger aktiver Galaxien mit ihren supermassereichen Schwarzen Löchern blicken können.


»Neutrinophysik ist die Kunst, aus der Beobachtung von nichts viel zu lernen.«
(Haim Harari, *1940, israelischer Teilchenphysiker)


Neutrinos sind neben Photonen die häufigsten Teilchen im Universum. Da ist es erstaunlich, dass wir bis heute nur wenige ihrer Eigenschaften kennen und noch weniger davon auch erklären können. Der Grund dafür liegt in ihrer ausgesprochen schwachen Wechselwirkung mit anderer Materie. Obwohl unseren Körper in jeder Sekunde Myriaden dieser Teilchen durchqueren, werden im Lauf unseres Lebens nur vereinzelte dort überhaupt eine Reaktion auslösen. Für Neutrinos ist die Welt transparent: Mühelos dringen sie durch Wände aus Blei, durch Ozeane, felsige Kontinente, ja ganze Planeten und Sterne.

Kein Wunder, dass es riesige Detektoren spezieller Bauart braucht, um ihre Eigenschaften zu erforschen. Vor allem müssen diese sorgfältig gegen störende radioaktive und kosmische Hintergrundstrahlung abgeschirmt werden. Daher werden die Experimente meist unter Tage aufgebaut, etwa in ehemaligen Bergwerksstollen oder Straßentunnels. Dennoch ist den mysteriösen Partikeln nur schwer beizukommen. Auch nach über einem halben Jahrhundert physikalischer Untersuchung des Phänomens bleiben wesentliche Fragen offen: Welche Masse haben Neutrinos? Gibt es außer den drei heute bekannten noch weitere Typen? Sind sie womöglich identisch mit ihren Antiteilchen?

Neutrinos entstehen massenhaft in den Kraftwerken des Kosmos: im Inneren von Sternen, in aktiven Galaxienkernen, bei Sternexplosionen - ja sogar bereits beim Urknall. In jedem Kubikzentimeter des Universums sind mehrere hundert Hintergrundneutrinos anzutreffen, die sich bereits kurz nach dem Urknall, dem Anfang von Raum und Zeit, bildeten. Genauer gesagt geschah das nach etwa einer Sekunde, als das Universum bereits so weit abgekühlt und ausgedünnt war, dass Prozesse wie die Paarerzeugung und -vernichtung von Elektronen (e-) und Positronen (e+) zu Neutrinos (v) und Antineutrinos (⊽) (kurz: e- + e+ ↔ v + ⊽) endeten und das kosmische Urgas für Neutrinos transparent wurde. Seitdem sind Urknallneutrinos - ähnlich wie die kosmische Hintergrundstrahlung mit ihren Photonen - heute auf eine Temperatur von etwa zwei Kelvin (entspricht 0,1 Millielektronvolt, meV) abgekühlt.

Auch die Sonne überschüttet uns geradezu permanent mit den Partikeln: In jeder Sekunde durchqueren etwa 100 Milliarden von ihr stammende Neutrinos auf der Erde die Fläche eines Daumennagels. Ein noch höherer Neutrinofluss wurde am 23. Februar 1987 innerhalb von wenigen Sekunden beobachtet. An diesem Tag erreichten mehrere Milliarden Neutrinos jeden Quadratzentimeter der Erde, ausgestrahlt vor über 150.000 Jahren in der Großen Magellanschen Wolke bei der Explosion des Sterns Sanduleak. Rund 20 der Geisterteilchen konnten damals mit riesigen Detektoren - etwa in Japan - nachgewiesen werden. Zusammen mit dem Nachweis der solaren Neutrinos war dies die Geburtsstunde eines neuen Teilgebiets der Astrophysik, der Neutrinoastronomie. Dafür erhielten die Physiker Raymond Davis Jr. sowie Masatoshi Koshiba 2002 den Nobelpreis.


Allgegenwärtige Neutrinos
In jeder Sekunde erreichen uns etwa
• 10 atmosphärische Neutrinos pro cm²
• 350.000 Neutrinos pro cm² aus einem 100 Kilometer entfernten Kernkraftwerk
• 65 Milliarden Neutrinos pro cm² von der Sonne
• 20 Millionen Neutrinos pro cm² aus dem Erdinneren.
Unser Körper emittiert jede Sekunde mehrere tausend Neutrinos beim Zerfall von radioaktivem Kalium, das in unseren Knochen eingebaut ist.
In jedem Kubikzentimeter des Universums befinden sich etwa 300 Neutrinos, die beim Urknall entstanden sind.
Bei der Supernova-Explosion 1987A, die sich etwa 160.000 Lichtjahre von uns entfernt ereignete, wurden zirka 1058 Neutrinos erzeugt. Davon erreichten etwa 15 Milliarden jeden Quadratzentimeter auf der Erde. Nur etwa 20 von ihnen wurden in Neutrinodetektoren nachgewiesen.


Die Eigenschaften der Neutrinos - wie etwa ihre Masse - spielen nicht nur in der Teilchenphysik, sondern auch für die Kosmologie eine zentrale Rolle. Für die Astrophysiker können Neutrinos wertvolle Informationen liefern, über das Innere von Sternen ebenso wie über die energiereichsten Prozesse im Universum. Auch haben sie einen Anteil an der Dunklen Materie und beeinflussen so die Entwicklung der großräumigen Strukturen im Weltall.

Bereits im Jahre 1930 hatte der österreichische Theoretiker Wolfgang Pauli in einer kühnen Vision die Existenz einer neuen Teilchenart postuliert, die später Neutrinos genannt wurden. Er wollte damit das augenscheinliche Verschwinden von Energie beim Betazerfall erklären. Bei diesem Prozess verwandelt sich im Atomkern ein Neutron in ein Proton, wodurch die Ladung des Kerns um eine Einheit steigt. Da aber zugleich ein Elektron (»Betateilchen«) mit einer negativen Ladungseinheit abgegeben wird, bleibt die elektrische Ladung insgesamt unverändert.

Den Experimentatoren war damals aufgefallen, dass die Elektronen bei diesem Kernzerfall offenbar immer nur einen Teil der frei werdenden Energie erhalten. Das konnte natürlich nicht stimmen, denn es widersprach dem ehernen Gesetz der Energieerhaltung. Wohin also flüchtete sich der Rest? Wolfgang Pauli hatte die Idee, dass außer dem Elektron noch ein weiteres unbekanntes, sehr leichtes, elektrisch neutrales Teilchen ausgesandt würde, das die fehlende Energie mit sich fortträgt. Der italienische Physiker Enrico Fermi gab ihm bald den Namen Neutrino, kleines Neutron.

Pauli blieb seiner eigenen Erfindung gegenüber skeptisch: Dieses Teilchen würde auf Grund seiner geringen Masse und schwachen Wechselwirkung wohl nie nachgewiesen werden können. Tatsächlich dauerte es mehr als ein Vierteljahrhundert, bis den amerikanischen Kernphysikern Frederick Reines und Clyde L. Cowan Jr. 1956 mit einem Experiment am Savannah-River-Reaktor der Nachweis gelang. Kernreaktoren sind sehr intensive Quellen von Elektron-Antineutrinos, da die bei der Kernspaltung entstehenden Kerne sehr neutronenreich sind und sich innerhalb kurzer Zeit über mehrere Betazerfälle in stabilere Isotope umwandeln. So werden pro Kernspaltung im Mittel etwa sechs Elektron-Antineutrinos erzeugt.

Für den Nachweis verwendeten die US-Physiker den umgekehrten Prozess, den »inversen Betazerfall«. Dabei fängt ein Proton im Atomkern ein Antineutrino ein, so dass aus der Reaktion ein Neutron sowie ein Positron hervorgehen (siehe Kasten unten). Der Detektor von Reines und Cowan enthielt eine spezielle Flüssigkeit (den »Szintillator«), die Lichtblitze aussendet, wenn sie beim Durchgang von energiereichen geladenen Teilchen oder Photonen angeregt wird.


Wie man Neutrinos einfängt: Der inverse Betazerfall
Beim Betazerfall wird ein Elektron frei. Die Umkehrreaktion ist der inverse Betazerfall: Ein einfallendes Antineutrino reagiert mit einem Proton zu einem Positron (Antiteilchen des Elektrons) und einem Neutron. Beide neu entstandenen Teilchen verursachen ein charakteristisches Signal im Detektor, da das Positron praktisch sofort mit einem Elektron unter Aussendung von Gammastrahlung zerstrahlt, und das Neutron nach kurzer Zeit von einem Atomkern eingefangen wird. Diese beiden Signale in kurzer zeitlicher Abfolge nennt man Koinzidenz. Dadurch können störende andere Signale reduziert werden. Forscher verwenden meist Isotope mit einer besonders hohen Einfangwahrscheinlichkeit für Neutronen, etwa Gadolinium, Helium-3 oder Cadmium.
Grafik der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht


Botschaften aus dem Inneren von Sternen und von den ersten Momenten des Urknalls
Das Positron erzeugte so ein kurzes Lichtsignal, das Photoverstärker registrierten. Das zugleich frei werdende Neutron wurde kurze Zeit später von einem der Cadmiumatomkerne eingefangen, die als flüssiges Cadmiumchlorid dem Szintillator beigemischt waren (Cadmium ist ein starker Neutronenabsorber). Die Kombination dieser beiden Signale verriet den Forschern, dass ein Antineutrino im Detektor reagiert hatte. Die Ausbeute war freilich mager: Pro Stunde registrierte der tonnenschwere Detektor etwa ein Ereignis, bei einem Teilchenstrom von etwa 1013 Neutrinos pro Quadratzentimeter und Sekunde! Dennoch galt damit die Vorhersage von Pauli als bestätigt, und zum ersten Mal wurde die extrem geringe Nachweiswahrscheinlichkeit der Neutrinos gemessen. Dafür erhielt Frederick Reines 1995 den Nobelpreis.

Seit dieser Entdeckung haben sich Forscher intensiv mit den besonderen Eigenschaften der Neutrinos beschäftigt. Innerhalb des so genannten Standardmodells der Teilchenphysik treten Neutrinos zwar als Elementarbausteine auf, doch sollten sie selbst eigentlich keine Ruhemasse haben. Das Standardmodell der Teilchenphysik beschreibt alle bekannten Elementarteilchen wie Neutrinos, Quarks und Leptonen sowie ihre Wechselwirkungen. Von den vier Fundamentalkräften spielt dabei auf mikroskopischer Ebene die Gravitation keine Rolle, sondern nur die elektromagnetische, die starke und die schwache Kraft. Quarks und Leptonen kommen jeweils in drei Sorten vor. Nur die Quarks partizipieren an allen drei Wechselwirkungen, die geladenen Leptonen (Elektron, Myon und Tau) nur an der elektromagnetischen und schwachen Wechselwirkung. Wie ihre geladenen Leptonenpartner kommen die elektrisch neutralen Neutrinos in drei Sorten (Flavors) vor: Elektron-, Myon- und Tau-Neutrino. Sie reagieren ausschließlich auf die schwache Wechselwirkung. Deshalb können Neutrinos Materie weit gehend ungehindert durchdringen. Dass ihre Ruhemasse im Standardmodell verschwindet, hat besondere, allerdings etwas komplizierte Gründe. Das Myon- und Tau-Neutrino wurden in Experimenten an großen Teilchenbeschleunigern nachgewiesen.

Schon bald wurde den Forschern klar, dass diese Partikel ideale Botschafter für Informationen aus dem Inneren von Sternen und weit entfernten Regionen des Weltalls sind. Die nahezu masselosen Neutrinos bewegen sich praktisch mit Lichtgeschwindigkeit. Sie werden aber nicht wie Sternenlicht von Staubwolken absorbiert. Da sie elektrisch neutral sind, werden sie nicht einmal von Magnetfeldern beeinflusst, sondern weisen schnurgerade zurück auf ihren Entstehungsort.

Das erste Experiment, das sich dies zu Nutze machte, schlugen John Bahcall und Raymond Davis Jr. in den 1960er Jahren vor. Die beiden US-amerikanischen Physiker wollten Neutrinos aus der Sonne einfangen, um damit die Theorie zu testen, dass diese ihre Energie durch Kernfusion von Wasserstoff zu Helium im Sonneninneren gewinnt. Hierbei werden pro erzeugtem Heliumkern zwei Elektron-Neutrinos ausgesandt, die die Sonnenmaterie praktisch ungehindert durchqueren und daher nur rund acht Minuten später auf der Erde eintreffen, während elektromagnetische Strahlung rund 100.000 Jahre braucht, um aus dem dichten Zentrum der Sonne zur Oberfläche vorzudringen.

Der Theoretiker Bahcall hielt es für möglich, mit Chloratomen wenigstens einige wenige der solaren Neutrinos einfangen zu können. Nach seinen Berechnungen sollte sich pro Tag etwa eines von 1030 Chloratomen durch Kollision mit einem Neutrino in ein radioaktives Argonisotop umwandeln. Der Experimentator Davis baute in der Homestake Mine, einer ehemaligen Goldmine in den Rocky Mountains, in 1500 Meter Tiefe ein Experiment auf, das im Wesentlichen aus einem Tank mit 600 Tonnen einer chlorhaltigen Reinigungsflüssigkeit bestand. In ungefähr monatlichen Abständen extrahierte er das bei der Kernreaktion entstandene gasförmige Argon, das er anschließend über seinen radioaktiven Zerfall nachwies. Damit konnte er tatsächlich erstmals Neutrinos von der Sonne detektieren.

Das Resultat stürzte die Forscher jedoch in ein Dilemma. Einerseits bestätigte es die Theorie der solaren Kernfusion, also einen zentralen Teil der Vorstellung, wie Sterne Energie produzieren. Doch registrierte das Experiment nur etwa ein Drittel der prognostizierten Neutrinorate - das Sonnenmodell geriet in eine Krise. Die Theoretiker suchten verzweifelt nach Erklärungen, die sie zunächst vor allem im Aufbau des Experiments oder in theoretischen Annahmen über die Sonne vermuteten. Doch eine ganze Reihe von Folgeexperimenten diagnostizierte ein ähnliches Defizit, das als »solares Neutrinorätsel« vielen Teilchen- und Astrophysikern Kopfzerbrechen bereitete.

Schon früh hatte Bruno Pontecorvo eine kühne Idee: Auf dem Weg von der Sonne zur Erde könnten sich, so spekulierte der italienische Theoretiker, die im Sonneninneren erzeugten Elektron-Neutrinos teilweise in andere Neutrinosorten umgewandelt haben. Was Raymond Davis in seinem Chlortank beobachte, sei demnach nur der Rest des ursprünglichen Teilchenstroms. Pontecorvo nannte diesen Mechanismus Neutrino-Oszillationen (siehe Kasten 49). Da das radiochemische Experiment von Davis aber nur Elektron-Neutrinos nachweisen konnte, ließen sich andere Neutrinosorten damit nicht beobachten.


KASTEN
 
Suche nach der richtigen Mischung

Eine der faszinierendsten Besonderheiten der Neutrinos ist ihre Eigenschaft, zwischen verschiedenen Erscheinungsformen zu wechseln. Neutrinos werden über die schwache Wechselwirkung als Elektron, Myon- oder Tau-Neutrino (den »Flavors«, ve, vµ und vτ) erzeugt.
Die Umwandlung der »Flavors« ist ein quantenmechanischer Effekt, der auftritt, weil (fachlich gesprochen) die so genannten Flavor-Eigenzustände der Neutrinos nicht mit ihren
Masseneigenzuständen (v11, v2 und v3) identisch sind. Dabei wird die Interaktion der Neutrinos über die schwache Wechselwirkung durch den Flavor-Eigenzustand bestimmt, für die Ausbreitung der Neutrinos sind aber die Masseneigenzustände maßgeblich. Betrachtet man die Bewegung eines Neutrinos im quantenmechanischen Wellenbild, so sind bei der Erzeugung des Neutrinos in einem Flavor-Eigenzustand verschiedene Masseneigenzustände überlagert.
Diese breiten sich mit einer leicht unterschiedlichen Wellenlänge aus, und so ändert sich - abhängig vom Abstand zum Ursprungsort - periodisch die Wahrscheinlichkeit dafür, ein Neutrino in seinem ursprünglichen Flavor oder in einem anderen nachzuweisen: Das sind die Neutrino-Oszillationen. Sie hängen von den Massendifferenzen Δm² der beteiligten Zustände ab sowie den so genannten Mischungswinkeln. Letztere beschreiben jeweils die Mischung von zwei der drei Neutrinosorten: Θ12, Θ23, Θ13 (siehe Grafik in der Printausgabe).
Für das Verständnis der Neutrinos ist es sehr wichtig, diese Parameter möglichst genau zu bestimmen. Dazu nutzt man eine Vielzahl von Experimenten mit unterschiedlichen Neutrinoenergien und unterschiedlichen Entfernungen zwischen Quelle und Detektor. Die solaren Neutrinos haben beispielsweise Energien im Bereich von Megaelektronvolt und sind rund 150 Millionen Kilometer unterwegs, bevor sie in einem Detektor auf der Erde nachgewiesen werden. Atmosphärische Neutrinos werden in den obersten Atmosphärenschichten erzeugt und legen so Distanzen zwischen 100 und 12.000 Kilometer bis zum Detektor zurück. Ihre Energie liegt typischerweise im Bereich von Gigaelektronvolt.
Weitere Oszillationsexperimente nutzen Neutrinos aus Kernreaktoren (Energie: MeV, Abstände wenige Meter bis etwa 100 Kilometer) sowie aus großen Teilchenbeschleunigern (Energie: GeV, Abstände: 100 Meter bis 1000 Kilometer). Der Mischungswinkel Θ12 wurde in den solaren Neutrinoexperimenten bestimmt und ist mit rund 34 Grad relativ groß. Der Mischungswinkel Θ23 ließ sich in Experimenten mit atmosphärischen Neutrinos sowie Beschleunigerexperimenten bestimmen und liegt bei etwa 40 bis 45 Grad. Das bedeutet, dass Myon- und Tau-Neutrinos jeweils zu etwa gleichen Anteilen aus v2 und v3 bestehen.
Lange Zeit blieb unklar, ob es auch eine Mischung zwischen der ersten und dritten Neutrinofamilie gibt, oder ob der Mischungswinkel Θ13 exakt gleich null ist. Zur Bestimmung dieses Mischungswinkels sind in den letzten Jahren mehrere Experimente an großen Kernreaktoren gebaut worden: Double Chooz in Frankreich (an dem unsere Gruppe von der TU München beteiligt ist), Daya Bay in China und Reno in Südkorea. All diese Experimente weisen die im Reaktor erzeugten Elektron-Antineutrinos über den inversen Betazerfall nach und verwenden dazu einen Flüssigszintillator mit einem darin gelösten Gadoliniumkomplex, um die Neutronen einzufangen.
Das erwartete Oszillationsminimum liegt in einem Abstand von etwa ein bis zwei Kilometer von dem Reaktor, der als Neutrinoquelle dient. Dort misst man eine kleine Abweichung von dem erwarteten Neutrinofluss, wonach sich etwa fünf bis acht Prozent der Elektron-Antineutrinos in Neutrinos anderer Flavors umgewandelt haben. So konnte kürzlich gezeigt werden, dass der Mischungswinkel Θ13 bei ungefähr neun Grad liegt, was zwar viel kleiner ist als die beiden anderen Mischungswinkel, aber nicht null.
Dieses Ergebnis war eine wichtige Voraussetzung für die Planung zukünftiger Neutrino-Oszillationsexperimente zur Suche nach der so genannten CP-Verletzung. Dieser zufolge laufen Prozesse wie die Neutrino-Oszillationen bei Teilchen und Antiteilchen unterschiedlich ab. Die CP-Verletzung könnte daher eine mögliche Erklärung dafür liefern, wieso wir im Universum heute (fast) keine Antimaterie beobachten, obwohl im Urknall Teilchen und Antiteilchen in gleicher Anzahl entstanden. Um nach kleinen Unterschieden zwischen den Neutrino- und Antineutrino-Oszillationen zu suchen, sollen intensive Neutrino- und Antineutrinostrahlen in Beschleunigern erzeugt und über Distanzen bis zu mehreren tausend Kilometern nachgewiesen werden.

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Grafik der Originalpublikation:

Abhängig von Massendifferenz Δm² und Mischungswinkel Θ wandeln sich die Neutrinos bei ihrer Ausbreitung periodisch ineinander um (hier für zwei Neutrinosorten dargestellt). Die Amplitude P bezeichnet den Neutrinofluss. Die blauen und roten Anteile summieren sich immer zu 100 Prozent.
 
KASTEN ENDE


Die These des Italieners forderte natürlich die Experimentatoren heraus. Als Erstem gelang es mit dem japanischen Super-Kamiokande-Experiment, das 1996 unter der Leitung des Physikers Yoji Totsuka in Betrieb gegangen war, die zuvor nur hypothetischen Neutrino-Oszillationen nachzuweisen. In dem Tscherenkow-Detektor mit seinen 50.000 Kubikmetern hochreinen Wassers lassen sich Energie und Richtung der atmosphärischen Neutrinos bestimmen. Diese entstehen, wenn energiereiche geladene Teilchen aus dem Weltall (kosmische Strahlung) in den oberen Atmosphärenschichten mit Luftmolekülen kollidieren. Dabei werden in etwa doppelt so viele Myon-Neutrinos (und -Antineutrinos) wie Elektron-Neutrinos produziert. Im Detektor lassen sich diese Neutrinos wieder über den Umkehrprozess, das heißt die Erzeugung eines Myons beziehungsweise Elektrons, nachweisen. Mehrere Forschergruppen hatten seit den 1980er Jahren aber ein wesentlich kleineres Verhältnis der beiden Neutrinosorten beobachtet. Wo lag der Fehler?

Mit Super-Kamiokande wurde klar: Von den gesuchten Myon-Neutrinos, die vorher die ganze Erde durchquert hatten (die also »von unten« in das Experiment einschlugen), wurden mehr umgewandelt als von jenen, die direkt von oben in den Detektor eindrangen. Diese Abhängigkeit von der Laufstrecke ist charakteristisch für Neutrino-Oszillationen, die damit erstmals zweifelsfrei bewiesen waren. Gleichzeitig zeigte das auch, dass Neutrinos nicht masselos sind, wie zunächst angenommen. Denn nur wenn sich ihre Ruhemassen von null unterscheiden, können sich die drei Typen ineinander umwandeln.


Eine Falle aus 1000 Tonnen schweren Wassers
Endgültig wurde das solare Neutrinorätsel mit Hilfe des kanadischen Solar Neutrino Observatory SNO im Jahr 2001 gelöst. Das SNO-Experiment steht in 2000 Meter Tiefe in einer alten Nickelmine in der Nähe von Sudbury im kanadischen Ontario. Unter der Leitung seines ersten Direktors Arthur B. McDonald beobachteten die Forscher die Streuung der Neutrinos in einem riesigen Tank, der mit 1000 Tonnen von schwerem Wasser (D2O) gefüllt war. Im Gegensatz zu Davis' Chloratomkernen kann Deuterium mit verschiedenen Neutrinos auf unterschiedliche Weise reagieren, so dass das Experiment zwischen den diversen Neutrinosorten unterscheiden kann. SNO konnte so erstmals zweifelsfrei nachweisen:

- Der gesamte Neutrinofluss stimmt mit der Vorhersage des Sonnenmodells überein,

- Zwei Drittel der Neutrinos haben sich jedoch auf dem Weg zur Erde durch Oszillationen in andere Neutrinosorten umgewandelt. Daher konnten sie in den früheren Experimenten nicht nachgewiesen werden.

Wie rasch sich die drei Neutrinosorten bei ihrer Reise ineinander umwandeln, war seitdem Gegenstand zahlreicher Oszillationsexperimente. Spätestens seit der Beobachtung von Neutrino-Oszillationen war aber klar, dass Neutrinos doch Ruhemasse besitzen. Die Theorie des Standardmodells musste somit erweitert werden.

Die Experimente konzentrieren sich heutzutage im Wesentlichen auf vier Richtungen: die Messung von Neutrino-Oszillationen mit verschiedensten Neutrinoquellen, die präzise Vermessung von Betazerfällen, die Suche nach dem neutrinolosen Doppelbetazerfall sowie Präzisionsmessungen in der Kosmologie.

1. In Neutrino-Oszillationen lassen sich nur die Differenzen der verschiedenen Massen bestimmen, nicht die absoluten Massenwerte selbst. Aus den beobachteten Massendifferenzen konnte man immerhin eine Untergrenze für die Masse ableiten: etwa 0,05 eV/c² oder etwa 10-34 Gramm (zum Vergleich: Das Elektron hat eine Masse von 511.000 eV/c², rund 10-27 Gramm).

2. Bei der direkten Massenbestimmung untersuchen Physiker radioaktive Zerfallsprozesse. Die Idee dabei ist einfach: Wird bei einem radioaktiven Zerfall unter anderem ein Neutrino erzeugt, dann misst man die gesamte auf die übrigen Zerfallsprodukte übertragene Energie. Aus dem Unterschied zwischen der maximal gemessenen Energie und der beim Zerfall insgesamt frei werdenden Energie kann so die Masse des Neutrinos bestimmt werden.

Als Testreaktion dient der Zerfall des radioaktiven Wasserstoffisotops Tritium (3H, Halbwertszeit 12,3 Jahre) in ein Heliumisotop (3He), ein Elektron (e-) sowie ein Elektron-Antineutrino (⊽e gemäß der Formel 3H → 3He+e-+⊽e

Daraus ließ sich bisher eine Obergrenze von 2 eV/c² für die Masse des Elektron-Neutrinos ableiten. Ähnlich konnten aus dem Myon- und dem Tauzerfall Obergrenzen für die Massen von Myon- und Tau-Neutrino ermittelt werden.


Seltene Reaktion soll klären, ob Neutrinos identisch mit ihren eigenen Antiteilchen sind
Ein besonders ehrgeiziges Großexperiment dieses Typs entsteht derzeit am Karlsruher Institut für Technologie KIT. Das KATRIN-Experiment soll die Energieverteilung der beim Tritiumzerfall ausgesandten Elektronen noch detaillierter vermessen und daraus die Massenobergrenze um eine Größenordnung exakter bestimmen. Es verwendet eine neu entwickelte gasförmige Tritiumquelle. Diese ist direkt an ein Spektrometer angeschlossen, so dass die Elektronen auf ihrem Weg dorthin möglichst keine Energie verlieren.

In dem riesigen Spektrometer mit 23 Meter Länge und 10 Meter Durchmesser werden Elektronen im Hochvakuum durch eine Gegenspannung abgebremst, so dass nur solche mit der Maximalenergie den Detektor am anderen Ende erreichen. Durch ein genaues Einstellen der Gegenspannung soll sich das Energiespektrum der Elektronen mit einer Präzision von unter 1 eV vermessen lassen. KATRIN soll im nächsten Jahr den Messbetrieb aufnehmen und die Neutrinomasse bis auf 200 meV/c² genau eingrenzen.

3. Beim doppelten Betazerfall verwandeln sich in einem Atomkern zwei Neutronen zu zwei Protonen (die im Kern verbleiben), zwei Elektronen sowie zwei Neutrinos. Er tritt in der Natur zwar sehr selten auf, ist aber im Standardmodell zulässig und im Labor auch schon beobachtet worden. Er betrifft Atomkerne, bei denen der einfache Betazerfall (mit nur einem emittierten Elektron) wegen der Erhaltung von Energie oder Drehimpuls verboten ist. Bei einem Spezialfall dieser Reaktion entstehen zwar beide Neutrinos, werden aber nicht abgestrahlt, sondern vernichten sich gegenseitig noch innerhalb des Atomkerns; deshalb sprechen Forscher vom neutrinolosen doppelten Betazerfall.

Diese seltene Reaktion kann nur unter zwei Bedingungen auftreten: wenn Neutrinos eine Masse haben, und wenn sie zugleich identisch mit ihren eigenen Antiteilchen sind. In diesem Fall geht die gesamte frei werdende Reaktionsenergie zwangsläufig auf die beiden entstehenden Elektronen über. Die Physiker erwarten dann ein scharfes Messsignal bei exakt dieser Energie statt des normalen kontinuierlichen Energiespektrums der Elektronen, das davon abhängt, wie viel Energie die beiden Neutrinos forttragen (siehe Kasten S. 50/51). Bei diesen Experimenten ist die Massenbestimmung also eng mit der Frage nach der Teilchennatur der Neutrinos verknüpft.


Doppelter Betazerfall - mit und ohne Neutrinos
Beim doppelten Betazerfall wandeln sich zwei Neutronen innerhalb eines Kerns gleichzeitig in Protonen um; das geschieht unter Aussendung von zwei Elektronen und zwei Antineutrinos (Grafik links oben). Falls Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen sind (so genannte Majorana-Neutrinos), wäre es möglich, dass das emittierte Antineutrino innerhalb des Kerns als Neutrino wieder absorbiert wird. Dann würde die gesamte Zerfallsenergie auf die beiden Elektronen übertragen. Misst man das Energiespektrum der Elektronen (Grafik links unten), so sollte man einen Peak bei der Zerfallsenergie sehen (siehe Pfeil), an Stelle des beobachteten kontinuierlichen Energiespektrums der Elektronen beim Zwei-Neutrino-Doppelbetazerfall (braune Kurve, links). Mit dem Experiment GERDA soll dieser Prozess gemessen werden (Foto rechts).
Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
Die Messkammer von GERDA, bevor sie mit Reinstwasser befüllt wurde: Der Kryostat (Mitte) nimmt die Germanium-Detektoren auf. Alle Teile sind mit Spiegelfolie verkleidet, um mit den Sensoren an den Wänden möglichst viele Messsignale zu detektieren.


Ein doppelter Betazerfall wurde bis heute bei etwa einem Dutzend Atomkernen beobachtet. Auf Grund der geringen Wahrscheinlichkeit, dass sich in einem Kern gleichzeitig zwei Neutronen oder Protonen umwandeln, sind die Lebensdauern der Mutterkerne sehr groß: in der Größenordnung von 1018 bis 1021 Jahren, Milliarden Mal mehr als das Alter des Universums. Der neutrinolose Doppelbetazerfall ist dagegen bis heute unbeobachtet. Experimente hierzu müssen große Mengen des Mutterisotops mit exzellenter Energieauflösung vermessen, um das eventuell auftretende Signal bei der passenden Energie aufzufangen. Gleichzeitig müssen sie sorgfältig gegen störenden Untergrund durch natürliche Radioaktivität und kosmische Strahlung abgeschirmt sein.

In vielen Labors weltweit wird nach dem neutrinolosen Doppelbetazerfall von verschiedenen Isotopen gesucht. Eines der Experimente ist die GERDA-Apparatur im italienischen Gran-Sasso-Labor bei L'Aquila. GERDA benutzt 18 Kilogramm Kristalle des chemischen Elements Germanium, bei denen das Isotop 76Ge stark angereichert wurde. Diese Substanz dient gleichzeitig als Quelle für den Doppelbetazerfall und als Detektor für seine Reaktionsprodukte. Diese Germaniumdetektoren werden direkt in einem Bad aus hochreinem flüssigen Argon bei einer Temperatur von minus 186 Grad Celsius betrieben. Der Argonkryostat ist von einer Hülle aus hochreinem Wasser ummantelt, das als passive Abschirmung sowie als Detektor zur Erkennung von störendem Untergrund dient.

Schnelle geladene Teilchen wie etwa Myonen der kosmischen Strahlung erzeugen beim Durchgang durch Wasser Tscherenkowlicht, das empfindliche Photosensoren nachweisen. GERDA nimmt seit November 2011 Daten auf, erste Ergebnisse werden im Sommer dieses Jahres erwartet. Damit können Lebensdauern für den neutrinolosen Doppelbetazerfall bis 2·1025 Jahre überprüft werden. In der nächsten Phase soll die Detektormasse verdoppelt und die Präzision auf 1026 Jahre erhöht werden. Dies entspricht einer effektiven Neutrinomasse von rund 100 meV/c².

4. Aber auch durch Beobachtung des Universums lassen sich Eigenschaften der Neutrinos erfassen. Nach heutigem Verständnis sind die großräumigen Strukturen im Kosmos aus kleinen Dichteschwankungen kurz nach dem Urknall hervorgegangen. Die kollektive Masse der Neutrinos beeinflusste diese primordialen Dichteschwankungen und damit das Wachstum galaktischer und supergalaktischer Strukturen. Astronomen haben nun aus der Verteilung von Galaxien und ihrer Haufen im Rahmen des kosmologischen Standardmodells eine Obergrenze für die Neutrinomasse abgeschätzt.

Dieser Wert liegt derzeit modellabhängig bei etwa 0,3 bis 1,3 eV/c², also deutlich unter den bisherigen Obergrenzen aus Laborversuchen. Die Masse der Neutrinos hat auch einen Anteil an der Dunklen (das heißt, nichtbaryonischen) Materie, allerdings können sie auf Grund ihrer geringen Werte nur einen kleinen Anteil dazu beitragen. Um insbesondere die Beobachtungen etwa der Rotationskurven von Spiralgalaxien zu erklären, würden deutlich schwerere Teilchen mit Massen im Bereich von 10 bis 1000 GeV/c² benötigt.

Die immer genauere Kenntnis der Neutrinoeigenschaften macht auch ihre Anwendung als »kosmische Botenteilchen« zunehmend attraktiver. Je besser wir die Neutrinos selbst verstehen, umso mehr können sie uns über ihre Entstehungsorte im Universum verraten. Die scheuen Teilchen sind deshalb für Astrophysiker so bedeutsam, weil sie in den dichten Zentren vieler hochenergetischer Objekte im Kosmos erzeugt werden und zugleich ihre Quelle nahezu ungehindert und geradlinig verlassen können.

Doch zurück zu unserer Sonne. Mit der Entdeckung solarer Neutrinos war bewiesen, dass thermonukleare Fusionsprozesse in Sternen Energie produzieren. Um diese Prozesse genauer zu untersuchen, hat eine internationale Gruppe von Physikern, darunter auch unsere Arbeitsgruppe an der TU München, im italienischen Gran Sasso seit 2007 das Experiment »Borexino« in Betrieb. Damit werden die Beiträge verschiedener Reaktionen zum so genannten pp-Fusionszyklus präzise vermessen, etwa die niederenergetischen Neutrinos aus dem Zerfall instabiler Beryllium-7- und Bor-8-Kerne, einer Seitenreaktion bei der Fusion von Wasserstoff zu Helium (siehe Grafik Seite 53 in der Printausgabe).


»Borexino« fängt solare Neutrinos
Mit dem »Boron Solar Neutrino Experiment«, das wie GERDA im italienischen Gran-Sasso-Untergrundlabor steht, sollen Neutrinos niedriger Energie von der Sonne erforscht werden. Gleich einer Zwiebel ist der Detektor, eine Szintillatorflüssigkeit, von mehreren Schutzschichten umgeben (Bild). Das Gerät misst verschiedene Neutrinos aus Fusionsreaktionen des Proton-Proton-Zyklus (Grafik unten).
Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
- Der wichtigste Kernfusionszyklus in der Sonne ist der Proton-Proton-(pp)-Prozess, bei dem aus Protonen Helium entsteht.
- Borexino misst insbesondere Neutrinos aus Reaktionen mit den Zwischenprodukten Beryllium-7 und Bor-8.


Abschirmung und Reinheit sind bei diesem Experiment alles. Denn die schwachen Signale niederenergetischer Neutrinos aus der Sonne werden leicht von radioaktiver Untergrundstrahlung »übertönt«. Daher ist der Detektor zwiebelartig aufgebaut. Im Inneren enthält er 300 Kubikmeter eines Flüssigszintillators, umhüllt von einem einen Zehntel Millimeter dicken Nylonballon von etwa acht Meter Durchmesser. Er wird von 1000 Kubikmetern hochreiner organischer Flüssigkeit und mehr als 2000 Kubikmeter Reinstwasser vor äußerer Strahlung abgeschirmt. Zum Auffangen der Signale ist der Detektor zudem mit über 2000 Photoverstärkern bestückt.

Borexino hat eine neue Ära der Sonnenbeobachtung eingeleitet - nie zuvor konnten Forscher das solare Neutrinospektrum mit solcher Präzision untersuchen. Zusammen mit dem ähnlich aufgebauten japanischen Detektor KamLAND gelang es den Physikern zum ersten Mal, auch so genannte Geo-Neutrinos eindeutig zu identifizieren. Diese entstehen in der Erdkruste bei Zerfällen von radioaktiven Uran- und Thoriumatomkernen. Beide Elemente sind in der Erde reichlich vorhanden, aber noch immer weiß man nicht genau, wie viel ihre Strahlung zur Wärmebilanz der Erde beiträgt.

Künftige Neutrinoprojekte könnten darauf eine Antwort geben. Basierend auf Borexino und KamLAND werden in den nächsten Jahren von dem kanadischen Nachfolgeexperiment des Sudbury Neutrino Observatory, dem SNO+, neue Erkenntnisse auf diesem Gebiet erwartet. Auch hier soll als ein Flüssigszintillator an Stelle von schwerem Wasser als Nachweismedium verwendet werden.

Vielleicht gelingt es mit SNO+ oder Borexino zudem, den schwachen Beitrag des so genannten CNO-Zyklus in der Sonne zu vermessen: einer Nebenreaktion der Kernfusion zwischen Kohlenstoff (C), Stickstoff (N) und Sauerstoff (O), die in der Sonne 1,6 Prozent der Gesamtenergie liefert. Ende der 1930er Jahre wurde der CNO-Zyklus von den Theoretikern Hans Bethe und Carl Friedrich von Weizsäcker vorgeschlagen (»Bethe-Weizsäcker-Zyklus«). Astrophysikalisch ist er deshalb so interessant, weil er in schwereren Sternen als die Sonne den dominanten Fusionsprozess darstellt. Zudem würde die Messung der solaren CNO-Neutrinos die Bestimmung der so genannten Metallizität im Inneren der Sonne erlauben. Astronomen beschreiben mit diesem Parameter den Anteil aller chemischen Elemente außer Wasserstoff und Helium. Sein Wert ist bis heute umstritten.


Neutrinoteleskope zur Erforschung Dunkler Materie
Künftige großvolumige Szintillationsdetektoren, wie sie etwa das europäische Neutrinoprojekt LENA (Low Energy Neutrino Astronomy) vorschlägt, könnten diese Messungen präzisieren und der Forschung neue Horizonte erschließen. So sollte es zum Beispiel möglich sein, mit LENA die Intensität und das Energiespektrum des diffusen Hintergrunds von Supernova-Neutrinos unseres Universums zu vermessen. Das wäre bislang die einzige Möglichkeit, einen Nachhall aller bisher stattgefundenen Sternexplosionen einzufangen.

Beim Nachweis der Neutrinos von der Supernova 1987A konnten die Forscher aus den Energien der 19 gemessenen Neutrinoereignisse die Temperatur des damals entstehenden Neutronensterns unmittelbar nach dem Kollaps bestimmen. Heutige großvolumige Detektoren wie der Tscherenkow-Detektor Super-Kamiokande würden bei einer Supernova innerhalb der Milchstraße in wenigen Sekunden sogar rund 20.000 Neutrinos auffangen. Damit ließen sich Details vom Gravitationskollaps eines schweren Sterns sozusagen live mitverfolgen. Solche Instrumente kann man zu Recht als Neutrinoteleskope bezeichnen.

Wohin geht die Neutrinoforschung? Das derzeit größte Neutrinoteleskop steht tief eingegraben am Südpol: IceCube. Hier dient ein Kubikkilometer Antarktiseis als Tscherenkow-Medium. In einer Tiefe zwischen 1450 und 2450 Metern wurden 86 vertikale Ketten mit insgesamt 5160 Photosensoren versenkt. IceCube sucht in der kosmischen Strahlung nach hochenergetischen Neutrinos und startete im Dezember 2010 die Messungen mit vollständigem Detektor. Erste hochenergetische Neutrinoereignisse mit Energien von über 1 Petaelektronvolt (PeV = 1015 eV) sind kürzlich bei der Durchforstung der Messdaten aufgespürt worden. Diese Neutrinos aus den Tiefen des Alls könnten uns etwa über aktive Galaxienkerne informieren, deren Herzstück zumeist ein supermassereiches Schwarzes Loch enthält.

Neutrinoteleskope werden auch zur Suche nach Dunkler Materie eingesetzt. Falls diese aus Elementarteilchen besteht, die heute noch keiner kennt, dann würde man wegen der Schwerkraft erwarten, dass sie sich mit ihren Antiteilchen in galaktischen Zentren anhäufen, etwa im Zentrum unserer Milchstraße. Wenn beide sich dort begegnen und dabei gegenseitig vernichten, könnte unter anderem auch ein Neutrinopaar frei werden. Gelänge es den Astroteilchenphysikern, solche Neutrinos aufzuspüren, wäre das ein indirekter Nachweis von Dunkler Materie.

Auch gut 80 Jahre nach der »Geburt« der Neutrinos sind noch immer nicht alle Geheimnisse dieser Geisterteilchen aufgedeckt. Die Lösung der letzten Rätsel wird aber mit darüber bestimmen, wie Theoretiker das Standardmodell der Materie erweitern müssen. Zudem werden Neutrinos als Sonden die Erkundung des Universums vorantreiben. Das betrifft nicht nur Sterne, Supernovae oder aktive Galaxienkerne, sondern auch unseren Heimatplaneten Erde, über dessen chemische Zusammensetzung und Energieverteilung Neutrinos Auskunft geben können.


DIE AUTOREN
Marianne Göger-Neff ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Universität München.
Lothar Oberauer und Stefan Schönert sind dort Professoren für Experimental- und Astroteilchenphysik. Schönert ist Sprecher der GERDA-Kollaboration zur Suche nach dem neurinolosen Doppelbetazerfall, Oberauer Initiator des zukünftigen Neutrinoastronomie-Projekts LENA. Alle drei arbeiten für das Borexino- sowie das Double-Chooz-Experiment.

LITERATURTIPP
Oberauer, L., Wurm, M.: Astrophysik mit Neutrinos. In: Sterne und Weltraum 2/2010, S. 30 - 38, sowie 3/2010, S. 28 - 35
Guter Überblick über die Rolle der Neutrinophysik in der Astronomie

WEBLINKS
Die im Text erwähnten Großprojekte finden Sie auch im Web:

GERDA: www.mpi-hd.mpg.de/gerda/
Borexino: http://borex.lngs.infn.it
KATRIN: www.katrin.kit.edu
Double Chooz: http://doublechooz.in2p3.fr/
LENA: www.e15.ph.tum.de/research_and_projects/lena/
SNO+: http://snoplus.phy.queensu.ca/Home.html
IceCube: http://icecube.wisc.edu/

Diesen Artikel sowie weiterführende Informationen finden Sie im Internet:
www.spektrum.de/artikel/1194961


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 47:
Unweit des französischen Kernkraftwerks Chooz nahe der belgischen Grenze steht der »Double-Chooz-Detektor«. Mit ihm haben Forscher Oszillationen von Elektron-Antineutrinos nachgewiesen.

Abb. S. 52:
Neutrinos schneller als das Licht?
Im September 2011 sorgte eine Veröffentlichung des OPERA-Experiments für Schlagzeilen: Die Neutrinos, die am CERN-Beschleuniger im schweizerischen Genf erzeugt werden, erreichten den rund 730 Kilometer entfernten Detektor in einem Untergrundlabor in den italienischen Abruzzen etwa 60 Nanosekunden (60 milliardstel Sekunden) früher als erwartet. Damit würden sie sich schneller als das Licht bewegen, was laut Einstein unmöglich ist. Diese Messung stellte sich aber wenige Monate später als falsch heraus. Ein loses Glasfaserkabel hatte für eine Verzögerung bei der Übertragung des GPS-Zeitsignals gesorgt. Damit sind die Ergebnisse wieder im Einklang mit der Relativitätstheorie.
Schon Jahrzehnte vor der OPERA-Messung wurden auf der Erde Neutrinos nachgewiesen, die von einer Sternexplosion in der Großen Magellanschen Wolke (rund 160.000 Lichtjahre entfernt) stammt. Diese Neutrinos erreichten die Erde nur wenige Stunden vor den Photonen, die sich erst aus dem Inneren der Explosionswolke an die Oberfläche arbeiten mussten und daher verzögert ins Weltall gelangten. Hätten sich die Neutrinos mit der von OPERA gemessenen Geschwindigkeit bewegt, hätten sie die Erde aber schon etwa vier Jahre früher erreichen müssen.

Abb. S. 54:
Mit »IceCube« steht am Südpol das derzeit größte Neutrinoteleskop der Erde. Das Bild zeigt eines der beiden höchstenergetischen Neutrinoereignisse, die kürzlich gemessen wurden. Jeder Lichtpunkt stellt einen Photosensor dar. Die Punktgröße entspricht der detektierten Stärke der Messsignale, die Farbe der Ankunftszeit, wobei rot früh und blau spät bedeutet.


© 2013 Marianne Göger-Neff, Lothar Oberauer, Stefan Schönert, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg

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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 7/13 - Juli 2013, Seite 46 - 55
Herausgeber: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. September 2013