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THEORIE/032: Professor Howard R. Reiss stellt neue These auf (verbundjournal)


verbundjournal - September 2008
Das Magazin des Forschungsverbundes Berlin e.V.

Der Herausforderer
Amerikanischer Physiker am Max-Born-Insitut stellt neue These auf: Bei langen Wellenlängen wird Umgebung relativistisch

Von Christine Vollgraf


Für seine Forschung braucht Howard R. Reiss nur ein Blatt Papier, einen Stift und seinen Computer. Vor vier Jahren zog es den damals bereits seit zehn Jahren emeritierten Professor für Theoretische Physik aus den Vereinigten Staaten nach Berlin ans Max-Born-Institut. "Ich habe noch viele Ideen und das MBI ist eins der besten Laserforschungsinstitute der Welt", begründet er diesen in seinem Alter ungewöhnlichen Schritt. Seitdem forscht er hier weiter auf dem Gebiet der Wechselwirkung von starken elektromagnetischen Feldern mit Materie, wie sie durch Laser entstehen und als dessen Begründer er gilt. Zur Ruhe setzen kommt für ihn nicht in Frage, denn Physik ist seine Leidenschaft. Jetzt, mit 79 Jahren, hat er in Physical Review Letters eine Arbeit veröffentlicht, die in der Fachwelt für einige Aufregung sorgen könnte.


Reiss, der zehn Jahre Direktor der Abteilung für Kernphysik am Naval Ordnance Laboratory und über dreißig Jahre lang Professor für Physik an der American University in Washington, D.C. war, fasst seine These so zusammen: "Wenn elektromagnetische Felder sehr, sehr stark werden, passen herkömmliche Methoden zur Berechnung nicht mehr." Aber nicht nur das, auch die physikalischen Vorgänge seien in starken Feldern vollständig anders als in normalen Feldern. Er habe sich damit schon vor vielen Jahren beschäftigt, aber erst als starke Laser zum Einsatz kamen, sei Bewegung in die Geschichte gekommen. "Es gibt viele mögliche Phänomene, die neu sind und die man derzeit noch erforscht", sagt er.

Wichtig sei, dass die meisten Arbeiten mit starken Feldern bisher mit Wellenlängen in einem sehr begrenzten Bereich gemacht worden seien. In diesem Bereich wenden Theoretiker ein Näherungsverfahren an, das so genannte Tunnelmodell. Dies sei nicht nur eine Berechnungsmethode, sondern es trage auch die Vorstellung davon in sich, was auf physikalischer Ebene passiert, erläutert der Physiker. Dieses Modell wurde in der Fachwelt zum Standard. Seine universelle Anwendbarkeit will Reiss in seiner neuesten Arbeit nun zur Diskussion stellen: "Aus meiner Sicht ist es lediglich eine Näherung, die nur in einem sehr schmalen Fenster von Intensitäten und Wellenlängen gültig ist."

Für ihn war die Frage interessant, was passieren würde, wenn man sich in den Bereich von sehr langen Wellenlängen begibt, wie sie im Moment im Labor noch nicht herstellbar sind, aber in Zukunft möglich sein werden. Derzeit wird die Tunnelmethode auch für diese langen Wellenlängen angewendet um vorherzusagen, was passiert.

Reiss erklärt, warum das nicht ohne weiteres zulässig ist: "Wenn man zu sehr niedrigen Frequenzen geht, trifft man auf etwas sehr Interessantes: Die Umgebung wird selbst bei niedrigen Lichtintensitäten relativistisch, das wurde bisher weitgehend übersehen und ist daher eine gewisse Überraschung für die Fachwelt." Relativistisch heißt, dass die Kraft des Lichts in der Lage ist, Elektronen fast auf Lichtgeschwindigkeit zu beschleunigen - eine deutlich einfachere Aufgabe für langwelliges (niederfrequentes) Licht als für normales Laserlicht.

Auch in renommierten Fachzeitschriften publizieren Wissenschaftler derzeit noch Ergebnisse, die sie mithilfe des Tunnelmodells interpretieren. Reiss sieht es gelassen. "Dies repräsentiert nun mal das Denken in der Community; dass sich das ändert, braucht Zeit." Reiss glaubt aber, dass seine Theorie eine Welle von neuen Laserexperimenten auslösen wird. Er kennt auch Fälle, wo Forscher bei ihren Experimenten Phänomene beobachtet haben, die sie bisher nicht erklären konnten und die deshalb glaubten, sie hätten einen Fehler gemacht. "Es waren aber keine Fehler, sondern sie ließen sich nur nicht erklären, weil sie nicht in die herkömmliche Theorie passten", ist Reiss überzeugt. Mit seiner Theorie lassen sich nun diese Beobachtungen erklären und einige Phänomene voraussagen.

Reaktionen aus der Fachwelt hat er noch nicht viele, aber er ist auf alles vorbereitet. Reiss: "Einige werden sagen, das ist Unsinn, aber andere werden nachdenken. Bis jetzt habe ich noch niemanden gesprochen, der in der Lage gewesen wäre, meine Behauptung zu widerlegen. Die meisten werden verstehen, dass sie die Dinge neu überdenken müssen." Reiss erwartet, dass viele Forscher nun Experimente machen werden, um seine Aussagen zu überprüfen.


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Quelle:
verbundjournal, September 2006, S. 16
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. November 2008