Schattenblick → INFOPOOL → NATURWISSENSCHAFTEN → REPORT


INTERVIEW/031: Forschungstechnik neu - mit den besten Absichten ...     Prof. Ulf Zastrau im Gespräch (SB)


Recherche-Reise "European XFEL und DESY" der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) am 7. und 8. August 2017 in Hamburg

Der Europäische Röntgenlaser XFEL soll am 1. September 2017 in die Betriebsphase gehen. Bis dahin werden jedoch nicht alle sechs Experimentierstationen, die im ersten Schritt eingerichtet werden, ihre Arbeit aufnehmen. Das HED-Instrument (HED steht für High Energy Density, z. Dt.: Hochenergiedichte) unter Leitung von Prof. Ulf Zastrau beispielsweise befindet sich gegenwärtig noch im Aufbau. Hier soll erst im nächsten Jahr unter harter Röntgenstrahlung Materie in extremen Zuständen erforscht werden. Einer der Schwerpunkte der Arbeit wird die Labor-Astrophysik sein, berichtete Zastrau in seinem Vortrag am ersten Tag der DPG-Journalistenreise zum "European XFEL und DESY".


Beim Vortrag, neben einem Stehpult - Foto: © 2017 by Schattenblick

Prof. Zastrau stellt das HED-Instrument vor
Foto: © 2017 by Schattenblick

Ein typisches Experiment im HED-Labor wäre, mit Hilfe eines Lasers eine Materialprobe unter extremen Druck zu setzen und dabei mittels Röntgenlaserblitzen hinsichtlich ihrer Strukturen zu erforschen. Der geplante Arbeitsbereich des HED-Instruments liegt ungefähr in der Spanne zwischen dem Druck, der im Erdkern angenommen wird (3,6 Megabar), und dem vermuteten Druck im Zentrum des Gasriesen Jupiter (50 Megabar). Zum Vergleich: Am tiefsten Punkt des Meeres, dem Marianengraben, in elf Kilometern Tiefe herrscht ein Druck von gut einem Kilobar, was dem Tausendfachen des Luftdrucks an der Erdoberfläche, aber nur einem Tausendstel eines Megabars entspricht.

Wenn nun am HED Materialproben mehreren Megabar (Mbar) ausgesetzt werden, ändern sich die Bindungsverhältnisse der Atome. Man erhält eine andere Chemie, berichtete Zastrau. Der Gasriese Jupiter zum Beispiel habe außen eine Schicht mit Wasserstoff, gefolgt von einer Übergangszone und zur Mitte hin einen metallischen Wasserstoff. Wie sehr sich die chemischen Verhältnisse unter starkem Druck ändern können, läßt sich daran erkennen, daß normaler Wasserstoff ein Isolator ist, wohingegen ein metallischer Wasserstoff elektrisch leitfähig wird. In den nächsten fünf Jahren sollen hierzu am HED Experimente durchgeführt werden. Dabei geht es unter anderem um Fragen wie, wo der Übergang zwischen den beiden Wasserstoffzuständen liegt und ab welchem Druck der zuvor durchsichtige Wasserstoff reflektierend wird.

Im folgenden Interview mit dem Schattenblick berichtet Prof. Zastrau unter anderem näheres zu seiner Forschung an Materie im extremen Zustand, zum Verbot der Militärforschung am XFEL und daß er und die anderen Gruppenleiter am Europäischen Röntgenlaser nicht die Plätze untereinander tauschen könnten, obgleich sie alle ein sehr tiefes Verständnis dessen haben, was mit dem Röntgenlaser gemacht wird.

Schattenblick (SB): Sie erforschen Materie in extremen Zuständen. Kennen die Menschen irgend etwas aus ihrem Alltag, was mit einer solchen Materie zu tun hat?

Prof. Ulf Zastrau (UZ): Normalerweise nicht, denn es macht ja gerade das Extreme aus, daß man es genau nicht im Alltag findet. Allerdings betreiben wir viel Labor-Astrophysik, und es hat die Menschheit schon immer bewegt, mehr über das Weltall herauszufinden. Schon seit der Urzeit haben sich die Menschen nach den Sternen gerichtet, haben in der Renaissance weiter daran geforscht, das Kopernikanische Weltbild entwickelt und so weiter und so fort. Es gibt also eine grundlegende Neugier.

Abgesehen von der Labor-Astrophysik forschen wir auch auf dem Gebiet der Materialwissenschaften unter starken Anregungen. Ein konkretes Beispiel dafür wäre das Laserschweißen und die Materialbearbeitung, wo im Prinzip auch mit dem Laser ein Plasma erzeugt wird. Weitere Forschungen sind Teilchenbeschleunigung, also Elektronenbeschleunigung, aber vor allen Dingen auch Ionenbeschleunigung. Es wurde ein großes Programm aufgelegt, in dem versucht wird, solche Ionenbeschleuniger zu Krebs- und Tumortherapien einzusetzen. Da besteht sogar eine direkte medizinische Anwendung unserer Forschung. Damit ist nicht die Medikamentenforschung gemeint, sondern die etwas erschwinglichere und kleinere Tumortherapie. Momentan werden in vielen Zentren Beschleuniger aufgebaut, um Patienten mit speziellen Strahlen möglichst punktgenau zu bestrahlen. So etwas mit Lasern für ein Zehntel der Kosten und des maschinellen Größenaufwands zu machen, ist ebenfalls eines der großen Forschungsziele.

SB: Das bedeutet also, daß die Erkenntnisse, die Sie aus den Forschungen zu extremer Materie gewinnen, dann auch auf Materie in einem nicht-extremen Zustand anwendbar sind.

UZ: Genau, diese Ionenbeschleunigung für die Krebstherapie findet in einem extremen Zustand statt, nur daß dieser räumlich sehr klein ist, nämlich nur da, wo der Laser mit der Materie wechselwirkt und Ionen beschleunigt werden. Beim Laserschweißen wiederum geht es um einen sauberen Materialabtrag; man will dabei exakte Schnittkanten produzieren. Dafür muß das Plasma, das ein extremer Zustand ist, bei dem die Elektronen von den Atomkernen getrennt sind, hergestellt werden.


Seitenansicht auf ein Modul in der Montagehalle - Foto: © 2017 by Schattenblick Beschleunigertunnel mit zahlreichen, miteinander verbundenen Beschleunigermodulen - Foto: © DESY 2017

Links: Ein supraleitendes Beschleunigermodul ist zwölf Meter lang und wiegt acht Tonnen.
Rechts: Der erste, 1,7 Kilometer lange Abschnitt des XFEL besteht aus 96 Beschleunigermodulen.
Fotos: © 2017 by Schattenblick

SB: Herr Feidenhans'l, der Vorsitzende der Geschäftsführung des XFEL, hat ausgeschlossen, daß an dem Röntgenlaser XFEL Rüstungsforschung betrieben wird. Das sei so festgelegt worden, da gebe es klare Absprachen. Zudem müßten alle Forschungsergebnisse publiziert werden, so daß sie jeder überprüfen könne, sagte er.

UZ: Genau. Außerdem handelt es sich um Forschungen, die aus Steuergeldern finanziert werden. Es ist meines Erachtens Grundsatz aller staatlich geförderten Forschung auch an den Universitäten, das so etwas nicht gemacht wird. Das ist man den Bürgern schuldig.

SB: Dennoch stellt sich uns die Frage, ob es nicht insbesondere bei extremen Materiezuständen Schnittmengen zwischen Rüstungsforschung und ziviler Forschung gibt.

UZ: Das sagt man immer so. Man schaut gerne in andere Länder, in denen solche Art von Waffenforschungen durchaus öfter an staatlichen Labors betrieben wird. In Deutschland ist das völlig ausgeschlossen, wahrscheinlich aufgrund der Kriegsgeschichte. Ich habe auch persönlich kein Interesse daran. Da müßte man hierzulande schon in die Industrieforschung gehen. In einem staatlich geförderten Labor darf man das nicht machen. Aber es stimmt natürlich, daß wir international mit Leuten zusammenarbeiten, die dann wiederum auch in anderen Programmen tätig sind. Da muß man nur nach Frankreich oder England schauen, die haben alle ihre Labors. In den USA natürlich auch.

Eigentlich hat fast jedes andere Land ein Programm, in dem Leute, die an ähnlichen Dingen forschen wie wir, teilweise auch an Militärforschung arbeiten. Aber das heißt jetzt nicht, daß die in diesen Ländern ausschließlich diese Forschung zu Waffenzwecken einsetzen. Im Gegenteil, sie machen genauso Labor-Astrophysik und Laser-Plasmabeschleunigung wie wir. Doch sie gehen darüber hinaus noch in andere Bereiche - das betrifft meistens die USA -, wo sowieso kein Unbefugter Zutritt erhält, und forschen dann separat davon beispielsweise für den Militärhaushalt. Davon bekommt man jedoch nichts mit, weil das dann industrielle Geheimnisse sind. Das dürfen sie nicht publizieren.

SB: Könnte man sagen, daß das die gleiche Community ist, die Grundlagenforschung für militärische und zivile Anwendungen betreibt?

UZ: Man kann das vielleicht allgemeiner fassen: Wenn man mit solchen Leuten zusammenarbeitet, die eventuell Wissen daraus ziehen, daß sie in ihrem Land Militärforschung betreiben, kann man natürlich nicht ausschließen, daß sie einem aus einer Erfahrung berichten, die sie mit eben solcher Forschung gemacht haben, wovon wir dann auch profitieren. Wobei natürlich niemand von denen sagt, er habe letztens eine Bombe gebaut. Man muß auch bedenken, daß wir hier am XFEL mikrometergroße Proben mit Lasern bestrahlen, und so eine Bombe ist einfach von der Physik und der Größenordnung her etwas anderes, das kann man nicht so einfach miteinander vergleichen.

Wir selbst können ausschließen, daß wir an Militärforschung beteiligt sind und könnten somit kein entsprechendes Wissen weitergeben. Die lernen nichts von uns, weil wir solches Wissen nicht haben. Der Wissensfluß geht höchstens in die eine Richtung und nicht in die andere, und das wird man wahrscheinlich nicht vermeiden können.

Außerdem möchte ich betonen, daß ich es in diesem Beruf für essentiell halte, international zu arbeiten. Ich glaube, das Risiko einzugehen, daß irgend jemand vielleicht auch zusätzliche Informationen aus so einer Sache zieht, von der man dann potentiell, ohne es zu wollen und ohne es zu wissen, Nutznießer sein könnte, wiegt nicht so stark wie diese wahnsinnig tolle internationale Verknüpfung. Wenn also die Konsequenz wäre, daß man mit niemandem mehr reden kann, hielte ich das für unverhältnismäßig.

Im übrigen muß man bedenken, daß ein Forscher, wenn er vorwärts kommen will und sich um einen Job bewirbt, seine Publikationen nachweisen muß. Deshalb lehnen die meisten Leute es ab, "classified research" fürs Militär zu machen. Sie wollen nicht an geheimen Forschungen beteiligt sein, weil dann niemand sieht, welche Leistungen sie erbracht haben. Sie dürfen ja nichts publizieren. Deshalb herrscht eher die Einstellung vor, daß die Leute versuchen nachzuweisen, daß sie Geheimnisse nicht gut für sich behalten können oder daß sie irgendwann mal einen Joint geraucht haben oder ähnliches. Dann fliegen sie gleich aus solchen Programmen raus.

SB: Wir hatten gestern bei der Begehung des XFEL das Thema Atome und Atommodelle. Kann man Atome sehen? Und wenn ja, was sieht man da?

UZ: Ein Atom besteht aus der Elektronenhülle und dem Kern. Röntgenstrahlung streut nur an den Elektronen. Den Kern sehen Sie nicht, das liegt daran, daß die Elektronen leichter sind und im elektrischen Feld der Röntgenstrahlung schwingen und dann Strahlung aussenden. Bereits ein einziges Proton im Atomkern ist 2000mal schwerer als ein Elektron, und wenn man dann noch Atome hat, die mehrere Neutronen und Protonen enthalten, kann der Kern von der Röntgenstrahlung nicht beschleunigt werden. Deshalb sehen Sie von dem Atom erstmal nur die Elektronen. Und die Wellenlänge von Röntgenstrahlung reicht auch nicht aus, um die Form eines individuellen Atoms abzubilden.

Was Sie jedoch sehr wohl sehen, ist der sogenannte Atomformfaktor, denn als Funktion des Winkels streuen die ganzen Elektronen mit ihrer Aufenthaltswahrscheinlichkeit in dem Atom unterschiedlich, je nachdem welcher Schale sie zugeordnet sind, in welchem Spin-Zustand und welcher Kopplung sie sich befinden, und so weiter. Sie sehen diese ganzen Pünktchen, und diese Pünktchen haben eine bestimmte Abhängigkeit vom Streuwinkel, und das ist indirekt eine Messung dessen, wie die Anordnung der Elektronen im Atom ist. Aber ein richtiges Bild davon wird man so nicht bekommen. Das ist eher von Rasterkraftmikroskopen zu erwarten, die vermögen so ein Atom bereits abzubilden.

SB: Wenn wir das richtig verstanden haben, kommt es bei Ihrer Forschung zu einer Wechselwirkung zwischen der Bestrahlung und der Probe, die sich daraufhin verändert?

UZ: Wenn wir bei unseren Forschungen zu Extrembedingungen mit einem Laser jeglicher Art, ob nun ein großer optischer Laser oder ein Röntgenlaser, auf die Probe schießen, ist diese grundsätzlich anschließend weg. Die Probe wird kurzzeitig sehr dicht und sehr heiß - das ist der Zustand, der uns interessiert -, aber danach schmilzt oder verdampft sie und löst sich sozusagen in ihre atomaren Bestandteile auf.

SB: Können Sie verhindern, daß Sie etwas entdecken, das Sie selber produzieren, es aber als Eigenschaften des Materials deuten?

UZ: Ja doch, wir haben ja eine Probe von einem Material unter normalen Bedingungen. Und jetzt setzen wir dieses Material einem bestimmten Druck, einer bestimmten Temperatur oder einer Dichte aus, die für uns interessant ist. Ein typisches Beispiel aus der Planetenforschung wäre, daß man annimmt, daß der Planet Uranus 200 Kilometer unter der Oberfläche Methan hat. Jetzt nehme ich meine Methanprobe und drücke sie mit dem Laserstrahl so stark zusammen, daß sie sich immer mehr aufheizt und einen zunehmend höheren Druck erzeugt. Irgendwann ab einem bestimmten Punkt, den wir dann auch gut bestimmen müssen, applizieren wir den sogenannten Treiber, der das dann in diesen extremen Zustand treibt. Wenn ich dabei zu lange warte, hat die Probe Zeit zu expandieren, zu vaporisieren und ist dann weg.

SB: Sie betreten mit Ihren Forschungen Neuland. Woher wissen Sie denn, wo die Grenze liegt, von der an die Probe so reagiert?

UZ: Das ist Bestandteil unserer Analytik. Röntgenstrahlung hat den großen Vorteil, daß sie an einem Kristallgitter beugt, weil die Wellenlänge mit den atomaren Abständen vergleichbar ist. Wenn wir nun mit einem schönen, monochromatischen, geraden Strahl auf eine Probe schießen, die ein bestimmtes Kristallgitter hat, bekommen wir ein Beugungsbild. Daraus können wir zurückrechnen, wie die Abstände der Atome waren. Der Beugungsring und die Winkelöffnung des Beugungsrings sagen uns, was der typische Abstand zwischen den Teilchen ist. Das gilt auch bei einem flüssigen oder bei einem gasförmigen Zustand.

Wenn wir jetzt ein Experiment durchführen und mit dem Laser auf das Probenmaterial schießen, drücken wir das mit dem Laserstrahl zusammen. Dann wiederholen wir das Experiment immer wieder, wobei wir zu unterschiedlichen Zeiten schießen und dadurch den Prozeß der Veränderung abbilden können. Genau dafür brauchen wird den XFEL.


Sie an einem Stehpult mit Papieren hinter einem mehr als mannsgroßen Teleskop, er daneben blickt durch ein kleineres Fernrohr in den Himmel - Bild: © Paul Fouché / historisch Bild mit aufgeschnittenem Uranus, in dem vier Schichten eingezeichnet sind: Kern (Gestein, Eis), Mantel (Wasser, Ammoniak, Methaneis), Atmosphäre (Wasserstoff, Helium, Methangas), äußere Atmosphäre (obere Wolkenschicht) - Bild: FrancescoA

Links: In der Nacht des 31. März 1781 entdeckt William Herschel den Uranus. Seine Schwester Caroline schreibt auf, was er ihr diktiert.
Rechts: Heutige Vorstellung zum inneren Aufbau des Planeten Uranus, der das etwa 65fache Volumen der Erde hat.
Bild: © Paul Fouché / historisch

SB: Wie weiß man, wenn es um Materie im Uranus geht, welche Bedingungen man produzieren muß, also von welchen Parametern man auszugehen hat?

UZ: Das ist eine gegenseitige Befruchtung von theoretischen Modellen und Labor-Astrophysik. Sie müssen sich vorstellen, da haben Leute Spektrallinien beobachtet, die von den Planeten stammen, und man hat Satelliten dorthin geschickt, die sich die obere Atmosphäre angeschaut haben. Da findet man beispielsweise Methan, Wasser, Wasserstoff, dann kennt man ungefähr die Zusammensetzung der Elemente, die dort vorliegen. Aufgrund der Planetenbahnen kann man auf die mittlere Dichte des Uranus schließen und sagen, da drinnen muß ein harter, dichter Kern sein. Denn wenn das alles Gas wäre, dann wäre der Planet, so wie wir ihn beobachten, nicht schwer genug und auf einer anderen Umlaufbahn anzutreffen.

Es gibt also von der Beobachtung her bereits Randbedingungen. Dann setzen sich die theoretischen Physiker hin, die sich auf Planetenmodelle spezialisieren, und unterbreiten Vorschläge. Von ihrem Modell aus berechnen sie, wie dann die Staffelungen der Dichte und des Drucks sein müßten. So ein Modell basiert beispielsweise darauf, wie Wasserstoff von einem nichtleitenden flüssigen Wasserstoff zu einem metallischen flüssigen Wasserstoff wird. Dazu gibt es Tabellen mit Dichte, Temperatur und Druck. Dann machen wir unsere Experimente und stellen eventuell fest, daß der Übergang bei etwas anderen Parametern auftritt. Daraufhin ändern sie ihr Modell und legen die Grenzwerte etwas anders fest. So geht das dann von Korrektiv zu Korrektiv.

SB: Wenn die Forschung bestimmten Vorstellungen folgt, ist sie dann noch in der Lage, etwas zu entdecken, beispielsweise ein neues Element, wonach gar nicht gesucht wurde?

UZ: Als Wissenschaftler ist man natürlich sensibilisiert, Sachen nicht blind beiseite zu schieben. Das ist ja eigentlich auch etwas, das man sich wünscht. Es wäre ja schön, würde man etwas Neues entdecken. Andererseits ist ein Experiment, das so offen ist, daß etwas Beliebiges dabei herauskommen kann, eigentlich von Anfang an schlecht durchdacht. Man will ja Präzisionsmessungen machen.

Wenn man für bestimmte Fragestellungen nicht die Diagnostik hat, dann kann man das nicht sehen. Die Frage ist jedoch: muß man das eigentlich? Wenn ich untersuchen will, ob Wasserstoff reflektiert oder transmittiert, ob er metallisch ist oder nicht, dann baue ich selbstverständlich genau dafür eine spezielle Diagnostik. Wenn dann parallel dazu irgendwas anderes passiert, auf das ich nicht schaue, werde ich das auch nicht sehen. Aber wie gesagt, die Frage lautet, ob das etwas ausmacht. Muß ich dieses Wissen haben, daß da noch was anderes passiert, um das zu interpretieren, oder ist das ein anderer Aspekt, der für mich jetzt aber in der Zusammenarbeit mit den Theoretikern vielleicht auch gar nicht wichtig war?

SB: Die Forschungen am XFEL erwecken den Eindruck, als seien sie sehr stark ausdifferenziert. Da gibt es verschiedene Labore oder Hütten, wie das genannt wird. Verstehen Sie als Experte für das HED-Instrument, was die Arbeitsgruppen an den anderen Instrumenten, die dem XFEL angeschlossen sind, machen? Haben sie die gleiche Sprache?

UZ: Ja. Dadurch daß wir hier alle Röntgenstrahlung benutzen, sind die Methoden, mit denen wir arbeiten, sehr verwandt. Wir müssen ein ganz tiefes Verständnis davon haben, wie Röntgenstrahlung mit Materie wechselwirkt. Das ist grundlegend. Und das verstehen wir auch alle. Es wird erst dann schwierig, wenn die Leute über ihr eigenes wissenschaftliches Feld im Detail reden. Wenn ich ihnen erklären wollte, wie genau dieser Laserplasmabeschleunigungsvorgang für Protonen funktioniert, wie man genaue Forschungen macht, wie man eine Leitfähigkeit in einem Plasma mißt oder so etwas, dann werden wahrscheinlich die anderen fünf Kollegen zumindest ins Stocken geraten - genauso wie ich ins Stocken gerate, wenn Herr Mancuso über einen speziellen Virus und Herr Bressler über eine spezielle chemische Reaktion redet. Da weiß ich, da habe ich ganz grob eine Ahnung, auch warum das wichtig ist, aber im Detail könnte ich mich jetzt nicht hinsetzen und sagen, ich mache das ebenfalls.

SB: Die Plätze sind nicht austauschbar?

UZ: Nein, in dem Sinne bin ich mehr Plasmaphysiker, Herr Mancuso ist Molekularphysiker, Herr Bressler ist eigentlich Physikochemiker, weil er Reaktionen untersucht, Michael Meyer ist Atomphysiker, und so geht das dann weiter. Alle haben ihr spezielles Gebiet, aber verstehen schon, was der andere so grob macht.


Schematischer Aufbau des European XFEL - Foto: © European XFEL

Ein Linearbeschleuniger - sechs Experimentierhütten
Foto: © European XFEL

SB: Die sogenannte Entdeckung des Higgs-Bosons war das Ergebnis jahrelanger Datenauswertung - Stichwort Big Data. Wird für die Ergebnisse, die mit dem XFEL erzielt werden, das gleiche gelten?

UZ: Ja, das erwarten wir eigentlich, und das wird ein Unterschied sein zu dem, wie es bisher läuft. Durch die hohe Anzahl von 27.000 Pulsen pro Sekunde und stark verbesserten Detektoren, die wir zum ersten Mal hier beim European XFEL einsetzen und die es eigentlich an keinem anderen Freien-Elektronen-Laser weltweit in dieser Ausprägung gibt, daß sie solche enormen Datenmengen in so kurzer Zeit produzieren können, müssen wir uns von der bisherigen Mentalität verabschieden. Früher hatte man rund eine Woche lang ein Experiment durchgeführt und dabei vielleicht 700 bis 1000 Bilder produziert. Die hat man sich nicht alle persönlich angeschaut, sondern bereits da wurden dann kleine Auswerte-Algorithmen geschrieben. Oder man hat einen Studenten darauf angesetzt, der sich die Daten auf den Stick lädt. So kann man ganz gut arbeiten, das ist alles bisher relativ gut gelaufen. Aber mit den Datenmengen, die wir in Zukunft hier generieren werden, wird das wirklich Big Data. Wir werden uns an eine andere Herangehensweise gewöhnen müssen.

Wobei das für meine Forschungen am HED wahrscheinlich weniger wichtig wird. Denn unsere gesamten Treiber, insbesondere die großen Laser, die die Materie aus dem normalen Umgebungszustand in einen extremen Zustand überführen, wie auch die gepulsten Magnetfelder laufen alle mit maximal zehn Hertz. Das sind maximal zehn Entladungen pro Sekunde. Das ist die Basiswiederholungsrate des XFEL. Aber man kann aus einem einzigen Puls 2700 machen, was dann bei zehn Schüssen pro Sekunde 27.000 ergibt. Solche Datenmengen brauchen zum Beispiel die Biologen und Chemiker, die können das sehr gut nutzen. Weil bei uns das Target jedes Mal weg ist, müßten wir es quasi zehnmal pro Sekunde neu erzeugen. Schneller geht das nicht.

SB: Hat das zur Folge, daß Ihre Experimentalreihen zu extremen Materiezuständen länger dauern?

UZ: Nein, das ist nicht so geplant. Momentan sind sie auf fünf mal zwölf Stunden angelegt. Das ist ein Erfahrungswert, den man auch von der LCLS [1] aus den USA gewonnen hat. Dort geht man allerdings inzwischen auch dazu über, etwas flexibler zu werden. Wenn eine Woche für die Experimente nicht genügt, hängt man noch eine Woche dran; umgekehrt reichen vielleicht manchmal auch zwei Tage, um einen Versuch abzuschließen. Weniger als ein Tag kommt eher nicht vor, denn da verbringt man mehr mit Aufbauen und Lernen, wie man was zu bedienen hat, mit dem Abpumpen der Vakuumkammer, mit dem Einjustieren von Strahlen, etc. Das dauert alles einige Stunden. Im Verhältnis dazu muß die Meßzeit stehen.

SB: Herr Zastrau, vielen Dank für das Gespräch.


Front eines mehr als mannsgroßen Edelstahlgefäßes, an dem unter anderem zwei gerippte Schläuche angebracht sind. Am Boden und im Hintergrund Malerfolie. - Foto: © 2017 by Schattenblick

Das HED-Instrument, das der Materie mit harter Röntgenstrahlung zu Leibe rücken soll, befindet sich noch im Aufbau
Foto: © 2017 by Schattenblick


Fußnote:

[1] LCLS steht für Linac Coherent Light Source und ist eine Röntgenlaserquelle am SLAC in Stanford, USA. Das SLAC wiederum ist eine Forschungseinrichtung des US-Energieministeriums, welche die Aufsicht über das Atomwaffenarsenal hat.

Bisher zur DPG-Recherchereise 2017 im Schattenblick unter INFOPOOL → NATURWISSENSCHAFTEN → REPORT erschienen:

BERICHT/008: Forschungstechnik neu - Rechnung ohne den Wirt? (SB)
BERICHT/009: Forschungstechnik neu - weit in die Zukunft planen ... (SB)
INTERVIEW/029: Forschungstechnik neu - Vakuum und mehr ...     Prof. Ralf Röhlsberger im Gespräch (SB)
INTERVIEW/030: Forschungstechnik neu - sicher, präzise und verständlich ...     Beschleunigerexperte Dr. Winfried Decking im Gespräch (SB)


20. August 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang