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INTERVIEW/033: Forschungstechnik neu - Annäherungsgenauigkeit ...     Dr. Adrian Mancuso im Gespräch (Teil 2) (SB)



Das Beugungsmuster einer Nanostruktur, wie eine Einzelaufnahme im Detektor erscheint, wenn ein koheränter Röntgenpuls von den Elektronen eines Teilchens abgelenkt wird, ähnelt einem unregelmäßigen 'Plus'-Symbol - Bild: © DESY

Was man sieht ...
'Das Beugungsbild, das wir sehen, hat wirklich nichts mit unseren Vorstellungen von der Probe gemein.' (Dr. Mancuso)
Ein Beispiel aus einem Experiment, das am Hamburger FLASH (Freie-Elektronen-Laser) aufgenommen wurde.
Bild: © DESY



Ribosome kommen in allen Zellen vor. Sie nehmen eine zentrale Funktion im Proteinstoffwechsel ein. Die Züchtung des röntgentauglichen Proteinkristalls gelang 1980, die Lösung des Phasenproblems, d.h. das Einbringen von Schwermetallen, erst 19 Jahre später. - Grafik: © 2002 MPG

... und was man gerne sehen möchte.
Computergenerierte und 2009 mit Nobelpreis ausgezeichnete Struktur eines Ribosoms.
Grafik: © 2002 MPG

Recherche-Reise "European XFEL und DESY" der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) am 7. und 8. August 2017 in Hamburg

Der Physiker Dr. Adrian Mancuso beschäftigt sich seit seiner Promotion an der Universität Melbourne in Australien damit, wie laserähnliche Röntgenstrahlung für die Bilderzeugung genutzt werden kann und hat die verschiedenen Techniken, die bislang zur Strukturaufklärung verwendet wurden, von der Pike auf gelernt. Die gründliche Ausbildung wie seine anschließenden Erfahrungen in der Durchführung derartiger Experimente, über die er u.a. im ersten Teil des Interviews berichtet, prädestinieren ihn für seine jetzige Position als leitender Wissenschaftler für die Entwicklung und wissenschaftliche Anwendung des SPB/SFX-Instruments. Es dient dazu, mit dem European XFEL Röntgenlaser das "Einzelpartikel-Imaging" durchzuführen und verspricht komplizierte biologische Strukturen, sogar in atomarer Auflösung, aufzuklären ohne Umweg über die Kristallisation. Damit erhofft sich die Wissenschaft detailgenaue Einblicke in die Baupläne der Natur, um sie zur Nachahmung zu nutzen und etwa synthetische Lichterntemaschinen am Beispiel der Photosynthesechemie zu entwickeln.

Als verantwortlicher Wissenschaftler stellte Dr. Mancuso mit einer Führung und einem Vortrag am ersten Tag der zweitägigen DPG Recherchereise sein Experiment und die daran beteiligten Wissenschaftler vor. Das sich hieran anknüpfende, ausführliche Gespräch am 2. Tag der Veranstaltung mit Redakteuren des Schattenblick, ist in zwei Teilen veröffentlicht. Während es sich im ersten Teil des Gesprächs um Fortschritte und neue Möglichkeiten dreht, die sich an die Verbesserung der Röntgen 3-D-Bildgebung knüpfen [1], geht es im zweiten Teil darum, wie die Bilder und Endergebnisse tatsächlich aussehen und entstehen, und warum jedes scheinbar auch mißglückte Detail für das Gerät und die Wissenschaftler wichtig ist.


Dr. Adrian Mancuso in seinem Büro in Schenefeld. - Foto: © 2017 by Schattenblick

'Natürlich werden die Teilchen gekocht, das ist doch gerade das Spannende daran...'
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Bei der Methode "Single molecule diffraction" also "Einzelmolekül-Beugung", die bei Ihrem neuen Instrument eine große Rolle spielt, wird, wenn ich das richtig verstanden habe, ein Einzelteilchen dem vollen XFEL-Laserstrahl ausgesetzt, wenn auch nur für jeweils 0,000.000.000.000.01 Sekunden. Danach wird es vaporisiert. Wie kann man sicher sein, daß das Probenmaterial zum Zeitpunkt der Aufnahme noch so aussieht, wie vor der Berührung mit dem "Lasing"? Könnte es nicht sein, daß Teile der Probe bereits denaturiert sind oder zumindest einige fragile Teile der Struktur anfangen, zu verkochen oder dergleichen?

Dr. Adrian Mancuso (AM): Natürlich werden die Teilchen gekocht, das ist doch gerade das Spannende daran. Für uns ist die Frage, wie stark sie gekocht werden und ab welchem Zeitpunkt genau das losgeht, superinteressant. Vielleicht habe ich das in meinem Vortrag gestern nicht ausreichend genug erklärt, weil die Zeit insgesamt so knapp bemessen war, doch das ist ein wirklich wichtiger Punkt. Wenn wir sehr intensive Röntgenstrahlung mit einem langen FEL-Puls auf das Objekt fokussieren, vielleicht für 30 bis 50 oder sogar 100 Femtosekunden - und diese Zeitabstände, in denen wir die Biomoleküle beleuchten, sind für unsere Begriffe schon sehr lang -, dann ist dieses Teilchen schon "gekocht," ehe noch die gesamte Pulsenergie auf es einwirken konnte. Sämtliche Details dieser gekochten Teilstücke, das können tote Strukturen sein oder fehlende Elektronen, aber letztlich alles andere auch, was an dem Molekül nicht mehr intakt ist, trägt zu den Hintergrundinformationen im Signal bei. Je kürzer der Röntgenlichtpuls ist, mit dem wir das Teilchen beleuchten, um so größer wird die Wahrscheinlichkeit, daß dieser mit dem Teilchen in Wechselwirkung tritt, ohne es dabei zu verkochen. Aber wenn der Puls zu kurz gewählt ist, ist auch der einwirkende Röntgenstrahl schwach und somit bekommt man kein besonders klares Signal.

Was wir nun anstreben, ist ein Bereich zwischen diesem superkurzen und einem etwas längeren Puls, also einen Puls mittlerer Länge, der ein möglichst optimales Signal-Rausch-Verhältnis für das Signal dieser heiklen Biomoleküle ergibt. In meiner Arbeitsgruppe haben wir bereits mit der Auswertung der Daten und einer sorgfältigen Modellierung begonnen, in die zunächst der Röntgenlichtstrahl eingeht, dann die Fokussierungs-Optik, dazu die Modellierung der grundlegenden Physik, also was theoretisch geschieht, wenn Röntgenlichtstrahlen mit Materie interagieren, und schließlich die der Beugung und die der Beugungsbilder, die anschließend im Detektor ankommen. Im letzten Schritt werden dann die Beugungsbilder analysiert und in eine Struktur umgerechnet.

Auf diese Weise konnten wir die erzielten Auflösungen als Funktion der Röntgenlichtpulsdauer darstellen, mit der wir dann einen Schätzwert für die optimale Pulsdauer in der Nähe von 10 Femtosekunden ermitteln konnten, der für die Beleuchtung der Systeme ausreicht, die wir schon untersucht haben. Das ist bei weitem nicht der kürzeste Puls, den der Freie-Elektronen-Laser erzeugen kann. Daß sich die Pulsdauer annähernd exakt aussteuern läßt und damit auch das Verkochen des Signals in einem kontrollierbaren Rahmen bleibt, halte ich für durchaus erwähnenswert.


Schematische Schritte vom Kristall, Beugungsmuster, Elektronendichtekarte bis zur atomaren Struktur - Grafik: 2006 by Thomas Splettstoesser (www.scistyle.com) mit CC BY-SA 3.0 Lizenz [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0], via Wikimedia Commons

Die Schritte für die Röntgenstrukturanalyse sind immer die gleichen.
Grafik: 2006 by Thomas Splettstoesser (www.scistyle.com) mit CC BY-SA 3.0 Lizenz [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0], via Wikimedia Commons

SB: Müssen Sie damit rechnen, daß sich während des Beschusses spezifische Eigenschaften der winzigen Partikel verändern, so daß man etwas abbildet und interpretiert oder auch zurückrechnen muß, was beim natürlichen Untersuchungsobjekt nie gefunden würde?

AM: Natürlich ist so etwas immer noch möglich. Eine der offenen Fragen der Röntgenkristallographie ist ja, wenn man aus dem organischen Material einen Kristall züchtet, läßt sich das dann noch mit dem natürlichen Zustand vergleichen. Diese Frage läßt sich nicht so leicht aus dem Weg räumen. Wenn wir nun die Dynamik von biologischen Systemen mit Hilfe kleinerer Kristalle ansehen, wird diese Frage lediglich geringfügig präzisiert, da man nicht nur ein einziges Stadium ansieht, sondern eine Vielfalt verschiedener Stadien des gleichen Moleküls und man hofft, daß irgendeines davon mit großer Wahrscheinlichkeit dasjenige ist, das auch biologisch oder biochemisch relevant ist. Bei Einzelteilchen ist das tatsächlich noch nicht geklärt. Wir schießen sie in den Röntgenlichtstrahl, den XFEL-Beam, somit bleibt die Frage, ob allein diese Manipulation mit einer Veränderung im Molekül einhergeht oder auch nicht, offen.

Andererseits wurden von einigen Wissenschaftlern auch schon lebende Zellen in den Strahl geschossen, die dann nach dem Experiment erneut auf einem Nährboden kultiviert und vermehrt werden konnten. Das schließt aber nicht aus, daß die Zellen bei der Kollision mit dem Röntgenstrahl doch in zumindest einer Richtung zusammengedrückt worden sind. Mehr kann ich dem noch nicht hinzufügen. Wir haben einige Vermutungen, mehr aber auch nicht. Persönlich glaube ich nicht, daß sich durch den Röntgenlichtstrahl etwas komplett verändert. Und was ansonsten bei der Vorbereitung und Bereitstellung der Probe mit dem Material geschieht, bleibt noch eine offene Frage, aber auch eine sehr spannende.

SB: Würde diese offene Frage auch die Möglichkeit einschließen, daß so etwas wie Artefakte erzeugt werden oder auf irgend eine andere Weise Strukturen im Fokus des Betrachters auftauchen, die nichts mit dem eigentlichen Objekt zu tun haben?

AM: Eigentlich haben alle bildgebenden Verfahren mehr oder weniger die Neigung dazu, etwas abzubilden, was gar nicht da ist. Die Röntgen-Kristallographie hat über die Jahre schon Erfahrung darin gesammelt, worauf Sie bei der Auswertung von Daten achten müssen, welchen Sie vertrauen können und welchen nicht. Da bin ich kein Experte.

Die Methode, die wir am SPB/SFX-Instrument nutzen, um Bilder von einzelnen Teilchen zu machen, nennen wir "Coherent diffraction imaging" (CDI), also eine auf koheränter Beugung basierende Bildgebung, die Weiterentwicklung der sogenannten Fernfeldbeugung. [2]


Beugungsbilder unterschiedlicher Schärfe in der Powerpoint-Präsentation des Referenten. - Foto: © 2017 by Schattenblick

Koheränte Beugung im Vergleich zur Fernfeld Beugung, vorgestellt von Dr. Mancuso.
Foto: © 2017 by Schattenblick

Das aus den Probeninformationen gewonnene Beugungsbild, das wir dann sehen, hat wirklich nichts mit unseren Vorstellungen von der eigentlichen Probe gemein. Wir interpretieren es bei der numerischen Rekonstruktion aus den Beugungsbildern. Als die neue Technik noch in den Kinderschuhen steckte, gab es schon allein deshalb viele Artefakte zu sehen, weil wir die neue Technik unter unterschiedlichen Bedingungen testeten. Heute, also zehn oder zwanzig Jahre danach, können wir bei einem Experiment unter optimalen Bedingungen wie einem brauchbaren Signal-Rausch-Verhältnis, für das wir alles sorgfältig durchgemessen haben wie Daten nahe des Röntgenstrahls und andere Faktoren, mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, daß die Entstehung von Artefakten zumindest minimiert ist. Unsere Bildgebung hat sich sehr gebessert. Ein weiterer Vorteil besteht darin, daß wir mit weniger Postulaten auskommen als bei den älteren Verfahren. Wir müssen beispielsweise keine Symmetrie bei den untersuchten Teilchen mehr für bestimmte Analysen voraussetzen. Auch das trägt dazu bei, daß wir inzwischen das Gros der Artefakte, die in der Vergangenheit Probleme gemacht haben, ausschließen können und dazu vieles verbessern konnten, was frühere Untersuchungen eingeschränkt hat.

SB: In einer Beschreibung des Freien Elektronen Lasers XFEL wurde betont, daß man hier mit noch geringeren Probengrößen arbeiten könne. Inwiefern macht sich so etwas auch an Ihrem Instrument bemerkbar?

AM: Das macht einen enormen Unterschied aus. Das European XFEL liefert eine sehr viel höhere Rate an Röntgenpulsen pro Sekunde als irgendein anderer Röntgenlaser auf der Welt. Typischerweise arbeiten die Probenzufuhrsysteme meist mit konstanter Geschwindigkeit. Das heißt, um die gleiche Menge an Daten zu gewinnen, wie in anderen Anlagen, würden wir viel weniger Probensubstanz brauchen, da wir eine Probe häufiger bestrahlen können. Das ist toll. Denn manche dieser Proben sind wirklich sehr kompliziert herzustellen. Deshalb haben wir oft nur geringe Mengen davon zur Verfügung. [3] Eine der Herausforderungen der Biolabore ist daher momentan noch, Proben in einer relevanten Größenordnung und in einer ausreichend hohen Konzentration zu produzieren, damit wir die enorme Power und die hohe Rate an Blitzen, die das EU-XFEL zur Verfügung stellt, bestmöglichst ausschöpfen können. Und wir arbeiten auf der anderen Seite daran, in Zukunft signifikante Mengen an Probenmaterial einzusparen. Darüber würden sich dann auch die Biochemiker freuen, denen es oft schwer fällt, die gleiche Qualität auch in einem großen Maßstab einzuhalten.

SB: Was einem Laien an Ihrer Methode nicht unbedingt sofort auffällt, ist die Tatsache, daß das Bild, das am Ende daraus entsteht, nicht dem Biomolekül entspricht, das man gewissermaßen "unter das Mikroskop gelegt hat", sondern daß sich die dreidimensionale Struktur, die am Ende zu sehen ist, von Aufnahmen und Dateninformationen vieler verschiedener Moleküle rekonstruiert wird.


Eine Kamera hinter dem Wechselwirkungsbereich zeichnet das Beugungsmuster auf. - Grafik: © 2012 European XFEL

Ein Röntgenstrahlungspuls des XFEL beleuchtet ein injiziertes Biomolekül.
'Wir schießen viele Teilchen kurz nacheinander in den Strahl.' (Dr. Mancuso)
Grafik: © 2012 European XFEL

AM: Das ist richtig. Wir schießen viele Teilchen kurz nacheinander in den Strahl. Die nehmen wir als Kopien des gleichen Teilchens auf.

SB: Kann man denn sagen, daß diese Kopien deckungsgleich sind?

AM: Das ist - laut unserer Hypothese - nicht einmal nötig. Sie sollen nur so gleich sein, wie es technisch erforderlich ist. Die Unterschiede machen die Analyse erst interessant. Allerdings gehen wir zunächst von der Annahme aus, es wären identische oder zumindest nahezu identische Teilchen. Man schießt sie in den Strahl, jedes Teilchen nimmt eine ganz zufällige Orientierung im Raum an. Und wir erhalten nacheinander die jeweiligen Beugungsmuster, die sich aus dieser Zufallsorientierung ergeben. Aus der Gesamtheit der Streudaten aus aufeinanderfolgenden Messungen dann die Struktur eines einzelnen Teilchens zu rekonstruieren, ist eine weitere große Herausforderung an die Mathematik. Zunächst muß man herausfinden, in welchem Verhältnis die Streubilder zueinander stehen, was ihre räumliche Orientierung betrifft. Anschließend werden sie alle zu einer großen dreidimensionalen Struktur zusammengesetzt. Die Mathematik, die dafür verwendet wird, ist bereits enorm ausgereift und ich bin leider nur unzureichend qualifiziert, sie zu beschreiben. Doch sie arbeitet sehr zuverlässig, sofern die Voraussetzungen stimmen, die ein gutes Experiment gewährleisten.

Wenn die Probe verschiedene Varianten von Teilchenzuständen enthält, dann reicht die gleiche mathematische Methode aus, um daraus die nötigen Informationen zu extrahieren, die zur Unterscheidung der einzelnen Fälle notwendig ist. Im großen und ganzen müssen die Teilchen also nicht exakt gleich sein. Sie können ein Verhältnis zueinander haben oder auch nicht. Die Frage ist dann nur, wie viele Daten man braucht, um zu einem vernünftigen Ergebnis zu kommen. Prinzipiell gehen wir jedoch von dem Ideal aus, daß alle Teilchen, die wir blitzen, gleich sind.

Persönlich glaube ich, daß sich durch entsprechende Simulation oder Modellierung sogar die unterschiedlichen Konformationen eines Biomoleküls identifizieren lassen müßten, wenn man die rechnergestützte Datentrennung der unterschiedlichen Streuwerte, die man erhalten hat, voll ausschöpft. Das hat bislang allerdings noch keiner versucht und ist unter anderem eines der Dinge, die ich sehr gerne erforschen würde. Doch das ist noch Zukunftsmusik.


Gezeigt werden die Varianten zweier konformisomerer Strukturen, die sich ansonsten chemisch und physikalisch nicht unterscheiden lassen. - Grafik: by Ben Mills [gemeinfrei]

Ob ein Wasserstoff in einem anderen Winkel zur Grundstruktur steht, als üblich, ist mit bisherigen Methoden nicht darstellbar.
Grafik: by Ben Mills [gemeinfrei]

SB: Sie erwähnen gerade die enormen mathematischen Rekonstruktionsprogramme. Wieviel von der anschließenden graphischen Umsetzung, die man dann auf dem Bildschirm bewundern kann, ist wohl der Phantasie oder den Erwartungen des Programmierers geschuldet? Oder inwieweit werden dabei die Vorstellungen nur ausgebaut, die man immer schon von Molekülen hatte?

AM: Nicht viel, würde ich behaupten. Genau genommen handelt es sich um ein deterministisches Verfahren. Es gibt vielleicht einige Voraussetzungen, die man so aussteuern möchte, daß es die Software am Ende leichter hat, die Daten zusammenzusetzen. Aber auch, wenn sich das eine oder andere beeinflussen läßt, das Endergebnis, das Gesamtbild, das dabei entsteht, wird das gleiche sein.

Abgesehen davon, daß man diese beiden Schritte hat, also zum einen die Beugungsmuster zusammenfügen muß, um dann daraus dreidimensionale Muster zu erstellen, die immer noch nicht wie ein Molekül aussehen, hat man es bei der Röntgenstrukturaufklärung auch immer mit der Bewerkstelligung des sogenannten Phasenproblems [4] zu tun. Das heißt, man will aus dem Beugungsmuster eine Molekülstruktur rekonstruieren. Das ist ein einfacher, deterministischer Prozess. Natürlich ist es auch eine iterative Methode, die sich vielleicht in einer Art mathematischem Wettstreit immer wieder mit neuen Ideen auseinandersetzt. Doch das alles geschieht immer nur auf Grundlage wirklich sorgfältiger Messungen. Ein guter Datensatz an Beugungsintensitäten reicht vollkommen für die Strukturaufklärung und daran muß nicht weiter "frisiert" werden, wenn ein sorgfältiges Experiment und eine gründliche Analyse gemacht wurden. Natürlich ließe sich theoretisch auch mit den Daten 'herumdaddeln', aber wer will das schon. Wir sind hier alle an einem Prozedere interessiert, bei dem man so wenig wie möglich Hand anlegen muß. Es sollte keinen Platz für Interpretationen offen lassen, damit es verläßliche Ergebnisse für die jeweilige Struktur liefert, die man gerade betrachtet.


Eine typische Elektronendichtekarte für Lysozym. Sie ähnelt einer topographischen Karte. Höhen bzw. höhere Dichten werden durch dichter stehende Linien gekennzeichnet. - Grafik: by Prof. Bob Hanson, Department of Chemistry, St. Olaf College, Minnesota [gemeinfrei, http://www.stolaf.edu/people/hansonr/mo/fig4b.gif]

Ehe man aus den Beugungsmuster eine Molekülstruktur rekonstruieren kann, muß man eine Elektronendichtekarte erstellen. Dafür muß man das Phasenproblem für jede Substanz lösen.
Grafik: by Prof. Bob Hanson, Department of Chemistry, St. Olaf College, Minnesota [gemeinfrei, http://www.stolaf.edu/people/hansonr/mo/fig4b.gif]

SB: Worauf ich hinauswollte, haben Sie mir eigentlich bestätigt. Denn Sie sagten eben selbst: "Dann sieht das immer noch nicht wie ein Molekül aus". Wie will man verhindern, daß nicht langgehegte oder durch die Schule geprägte Vorstellungen, wie Moleküle auszusehen haben, sich am Ende doch in der Interpretation des grafischen Modells widerspiegeln, das dann eben genau so aussieht, "wie ein Molekül aussehen muß". Läßt sich so ein "Bias" im Ergebnis, wie manche Wissenschaftler dieses Widerspiegeln einer bestimmten Erwartung bezeichnen, überhaupt vermeiden?

AM: Eigentlich ist das Einbringen von Vorstellungen schon dadurch ausgeschlossen, daß die Beugungsmuster, mit denen wir arbeiten, überhaupt nicht so aussehen wie das, was wir rekonstruieren wollen. Was natürlich ein Problem sein kann oder auch nicht, ist, dass wir diese Muster bereits unterschiedlich bewerten, wenn wir sie für die weitere Analyse zugänglich machen. Denn indem wir manche als gute Exemplare auswählen und andere nicht, könnte sich so ein Bias, also eine Voreingenommenheit in den Kriterien, eingeschlichen haben. So neigen wir dazu, vor allem die hellen, leuchtstarken Bilder zu nehmen - aufgrund der verschiedenen Stärken des FEL-Pulses gibt es durchaus Unterschiede in der Intensität -, diese können aber ebenso ins Volle treffen, wie daneben liegen. Um hier eine unzulässige Manipulation zu vermeiden, machen wir ganz viele Messungen unter unterschiedlichsten Bedingungen, rekonstruieren die Struktur, die dabei jeweils herauskommen würde, und können dann sehen, wie zuverlässig sich solche Vorlieben auf das Endergebnis auswirken.

Ich denke, das wichtigste ist, daß man selbst im Kopf behält, daß man durch die eigenen Vorstellungen bzw. die eigene Voreingenommenheit den Analysenprozeß beeinflussen könnte und daß man immer wieder nach neuen Möglichkeiten sucht, so etwas auszuschließen, um zu verläßlichen und konsistenten Ergebnissen zu kommen.

SB: Ein guter Schlußgedanke. Haben Sie vielen Dank, Herr Dr. Mancuso, für das ausführliche Gespräch.


Dr. Mancuso in der Hütte des SPB/SFX Instruments. - Foto: © 2017 by Schattenblick

Ein "cooles" Instrument ...
Foto: © 2017 by Schattenblick


Anmerkungen:


[1] Mehr dazu im ersten Teil des Interviews:
INTERVIEW/032: Forschungstechnik neu - Annäherungsgenauigkeit ...     Dr. Adrian Mancuso im Gespräch (Teil 1) (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/natur/report/nrin0032.html

[2] Siehe auch:
https://www.ph.tum.de/academics/org/labs/fopra/docs/abstract-76.de.pdf

[3] Weiteres zur Probenaufarbeitung am XFEL:
http://www.weltderphysik.de/thema/bmbf/erforschungkondensiertermaterie/ein-biolabor-fuer-den-european-xfel/

[4] Hintergrund zum angesprochenen Phasenproblem:
http://www.spektrum.de/lexikon/biochemie/roentgenstrukturanalyse/5466

Mit Detektoren für Röntgenstrahlung kann nur die Intensität der Strahlung gemessen werden. Konstruktive bzw. destruktive Interferenz kann man aus erscheinenden Reflexen bzw. systematischen Auslöschungen erschließen. Alle anderen Informationen über die 3-D-Struktur gehen jedoch verloren, weil nur die Intensität der einfallenden Strahlen im Detektor gemessen wird. Das heißt, man hat ein Puzzle aus drei Teilen, bei dem zwei Teile fehlen. Im Interview nicht angesprochen wird, daß das Problem in der klassischen Röntgenstrukturanalyse durch Referenzkristalle gelöst wird, die mit Schwermetallen künstlich verändert werden müssen.


Bisher zur DPG-Recherchereise 2017 im Schattenblick unter
INFOPOOL → NATURWISSENSCHAFTEN → REPORT erschienen:

BERICHT/008: Forschungstechnik neu - Rechnung ohne den Wirt? (SB)
BERICHT/009: Forschungstechnik neu - weit in die Zukunft planen ... (SB)

INTERVIEW/029: Forschungstechnik neu - Vakuum und mehr ...     Prof. Ralf Röhlsberger im Gespräch (SB)
INTERVIEW/030: Forschungstechnik neu - sicher, präzise und verständlich ...     Beschleunigerexperte Dr. Winfried Decking im Gespräch (SB)
INTERVIEW/031: Forschungstechnik neu - mit den besten Absichten ...     Prof. Ulf Zastrau im Gespräch (SB)
INTERVIEW/032: Forschungstechnik neu - Annäherungsgenauigkeit ...     Dr. Adrian Mancuso im Gespräch (Teil 1) (SB)


3. September 2017


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