afrika süd - zeitschrift zum südlichen afrika
Nr. 2, März/April 2018
Nichts geschenkt bekommen
von Julia Müller
Marlene le Roux ist Direktorin des Artscape Theatre Centre in Kapstadt. Als sie 2015 das Amt der geschäftsführenden Leiterin des Theaters übernahm, war sie die erste farbige Frau Südafrikas auf diesem Posten. Für ihren Kampf für Menschen mit Behinderungen bekam sie kürzlich den von der britischen Queen Elizabeth II persönlich zertifizierten "Commonwealth Point of Light".
Im Februar 2018 wurde Marlene le Roux für ihr Engagement und
Lebenswerk in der Arbeit mit Behinderten mit dem "Commonwealth Point
of Light" ausgezeichnet. Mit "Points of Light" werden herausragende
Freiwillige ausgezeichnet, die eine Veränderung in ihrer Gesellschaft
anstreben. Seit dem Start des Programms im Jahr 2014 wurden Hunderte
von Menschen vom britischen Premierminister als "Lichtpunkte"
ausgezeichnet, was die enorme Bandbreite innovativer und
inspirierender Freiwilligentätigkeiten im ganzen Commonwealth
hervorhebt. Für Marlene bedeutet diese Auszeichnung, dass ihr Kampf
für Menschen mit Behinderungen positive Aufmerksamkeit von sehr
hochrangigen Personen erhält. Außerdem "bedeutet diese Auszeichnung
für jede andere Frau da draußen, dass es ein Beispiel dafür gibt, wie
Dinge sein können, und dass alles, wofür sie sich Gedanken machen,
erreichbar ist".
Ein Umstand, der in Südafrika auch heute noch alles andere als selbstverständlich scheint. Auch seit dem offiziellen Ende der Apartheid und den ersten demokratischen Wahlen 1994 gibt es in Südafrika noch deutlich wahrnehmbare Rassen- und Geschlechtergrenzen. "Eine Frau zu sein ist das erste Hindernis einer professionellen Karriere in einer patriarchalischen Gesellschaft." Bittere Worte von Marlene le Roux, die es dennoch geschafft hat, sich in Südafrika an die Spitze des Artscape-Theaters in Kapstadt zu arbeiten.
Darüber hinaus ist die Akzeptanz von Menschen mit Behinderung immer noch stark ausbaufähig. In der Vergangenheit hatten Menschen mit Behinderungen weitgehende Zugangsprobleme zu wesentlichen öffentlichen Einrichtungen, darunter Bildung, Gesundheit und dem Zugang zu wirtschaftlichen Möglichkeiten.
Das Artscape Theatre Centre ist mit etwa 550 Sitzen das größte Theaterhaus in Kapstadt und beherbergt unter anderem ein Philharmonie-Orchester, das Opernhaus mit noch einmal 1500 Sitzplätzen und ein Ballettensemble. Marlene le Roux ist seit 2015 die Geschäftsführerin und damit nicht nur die erste farbige Frau, sondern auch die erste CEO mit einer Behinderung in dieser Position. Sie ist eine hochgradig professionelle Frau, die ihren Aktivismus auf die Bereiche musikalische und künstlerische Bildung sowie Behindertenrechte fokussiert und damit entscheidend zu einem gesellschaftlichen Wandel in Südafrika beiträgt. So gradlinig ihr Engagement und so eingebunden sie ist - ihr persönlicher Werdegang könnte als schillerndes Beispiel gelten, doch Marlene le Roux wurde auf ihrem Weg nichts geschenkt.
Marlene wurde 1976 in Wellington geboren. Mit nur drei Monaten infizierte sie sich mit Polio. Die Viruserkrankung, die zur Kinderlähmung führen kann, ist eigentlich seit den 1950er-Jahren durch eine Impfung vermeidbar. Im von der Apartheid geprägten Südafrika der 1960er-Jahre jedoch ist eine solche Impfung nur für die Kinder von weißen Eltern vorgesehen. Sie ist eine von vielen, die dieser Politik zum Opfer fielen. Andere hätten an ihrer Stelle vermutlich einen Hass auf das System entwickelt. Marlene hat sich entschieden, für die Verbesserung des Systems zu kämpfen. Heute sagt sie ohne Gram: "Gott sei Dank hatte ich Polio".
Die anschließende Behinderung infolge der Kinderlähmung habe ihr nicht nur einen persönlichen Einblick in ein Leben mit Behinderung gegeben, sondern auch die Unannehmlichkeiten und die Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung aus erster Hand erlebbar gemacht. Diese Erfahrung ist für sie Antrieb und Leidenschaft für ihren Lebensweg, den sie ohne ihre Behinderung nicht gegangen wäre.
Sie wuchs als elftes Kind der Familie in einer armen Gemeinde in Wellington auf. Ihre Mutter war eine Fabrikarbeiterin und ihre Großmutter eine normale Landarbeiterin. Zwei starke Frauen, die ihr Leben von Grund auf geprägt haben. Sie gaben ihr Würde und ein starkes Selbstwertgefühl sowie die Liebe zur Musik mit auf den Weg. Früh war sie selbst Mitglied des Kirchenchors und suchte die Bühne. Die Kunst gab ihr die Freiheit, sich auszudrücken und in der Gesellschaft sichtbar zu werden. 1986 schrieb Marlene sich für ihr erstes Studium an der Universität des Westkaps ein. Heute hat sie nicht nur einen musikalischen Abschluss der Western Cape-Universität, sondern auch einen Abschluss in Bildungsarbeit und Management der Stellenbosch-Universität.
Ihre Position als Chief Executive des Artscape-Theaters in Kapstadt hat für sie eine vielschichtige Bedeutung. Besonders stellt sie die Signalwirkung für andere Frauen heraus: "Das Wichtigste ist, dass es einen Weg für andere Frauen und farbige Frauen ebnet. Am Ende des Tages, wenn sie auf der Arbeit sind, dann müssen sie liefern und ihr Geschlecht oder ihre Behinderung ist keine Ausrede."
Im Artscape-Theater hat Marlene unter anderem ein HIV/Aids-Bildungs- und Bewusstseinsprojekt "Soundtrack4life" sowie ein jährliches Outreach-Programm ins Leben gerufen. Besonders Jugendlichen aus ländlichen Gebieten soll so ein Zugang zu Kunst und Musik ermöglicht werden. Gleichzeitig sollen Theater- und Mitmachformate die Teilnehmer zur aktiven politischen Teilhabe in ihrem Land anregen. Im Rahmen des Schul- und Ausbildungsprogramms des Artscape-Theaters werden Projekte der Kultureinrichtung vorgestellt, deren Ziel es ist, Zugangsmöglichkeiten für marginalisierte Zuschauer und Plattformen für zuvor marginalisierte Kunstformen zu schaffen.
Marlene le Roux ist der Meinung, Kunst und Musik seien integrale Bestandteile von Bildung, dass Musik und Kunst den Menschen erst vollständig machen und damit einen großen Einfluss auf Menschen ausüben. Fragt man sie nach den Herausforderung Südafrikas, bei deren Bewältigung Kunst und Bildung helfen können, geht Marlene le Roux sogar so weit und sagt: Alle Herausforderungen könnten so überwunden werden. "Wir haben uns historisch auf das Drama und die Bühne konzentriert, um unseren politischen Herausforderungen eine Plattform und eine Stimme zu geben. Dies wurde auch in der Musik durch Freiheitslieder erreicht. Diese sind jedoch nicht einzigartig für Südafrika, sondern lassen sich in jedem Land finden, in dem Menschen unterdrückt werden."
Nach dem Rücktritt Jacob Zumas als südafrikanischer Präsident im Februar erklärt Marlene, sie bemerke eine Atmosphäre der Veränderung in der Gesellschaft: "Es ist unbestreitbar, dass nach Zumas Rücktritt eine neue Hoffnung in unserem Land für die weitere Zukunft zu bestehen scheint. Südafrikanerinnen und Südafrikaner haben in der Vergangenheit viel durchgemacht und wir können der Welt noch etwas über Vielfalt beibringen. Wir haben auch den Humor nicht verloren." Ihre Hoffnung und Vision für das zukünftige Südafrika bestehen darin, "dass die vielen Jahre der Ungerechtigkeit zu etwas Positivem werden und dass wir den Rassismus nicht umkehren, sondern einen Mittelweg finden, auf dem sich Menschen gegenseitig akzeptieren und ihre Unterschiede einbeziehen." Sie wünscht sich, dass zukünftig jedes Kind und besonders junge Frauen Zugang zu einer anständigen Bildung erhalten.
Ihr Engagement für die Rechte von Behinderten ist nicht nur ihrer eigenen Behinderung infolge der Polioinfektion geschuldet. Nach der Diagnose und erfolgreichen Entfernung eines Hirntumors wurde Marlene damit konfrontiert, niemals eigene Kinder haben zu können. Nachdem sie ihren persönlichen Frieden damit gemacht hatte, geschah das Unglaubliche: Sie wurde schwanger. Marlene ist heute Mutter zweier Kinder, ihrem Sohn Adam und ihrer Tochter Amy. Ihr Sohn litt an Zerebralparese und war körperlich und geistig behindert. Er konnte weder sprechen noch laufen und war auf einen Rollstuhl sowie 24 Stunden Pflege angewiesen. Trotzdem hat sie ihren Sohn nie als Last empfunden, er war ein bereicherndes Familienmitglied. Le Roux weiß aber auch, dass Adam durch ihre Liebe, Unterstützung und die Option auf adäquate medizinische Versorgung ein privilegiertes Kind war. In Südafrika ist es in der Gesellschaft nicht selbstverständlich, behinderte Kinder anzunehmen, es herrschen Stigmata und Vorurteile. Nicht selten fühlen sich die Eltern schuldig und fragen sich, mit welcher Handlung sie ein behindertes Kind "verdient" hätten. Im August 2017 verstarb ihr Sohn Adam im Alter von knapp 16 Jahren.
Marlenes Geschichte bietet einen Einblick in die private Welt einer sehr öffentlichen Persönlichkeit. Eine Frau, die pure Professionalität, Tapferkeit und Furchtlosigkeit ausstrahlt, die aber auch verletzlich, temperamentvoll und unbeschreiblich mutig ist. Sie hat ihr Leben der Bildung und der Behindertenarbeit gewidmet und dafür bereits zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Ihr persönlicher Weg war immer wieder voller Herausforderungen, die Marlene trotzdem nicht davon abgehalten, sondern angespornt haben, ihren Weg immer weiter zu gehen.
Die Autorin ist Humangeografin mit Schwerpunkt südliches Afrika.
*
EDITORIAL
EIN STÜCK SEELE SÜDAFRIKAS...
Mit dem Tod von Winnie Madikizela-Mandela hat Südafrika eine starke
Persönlichkeit verloren. Von Lothar Berger.
AKTUELL
WAS EIN NEUAUFBAU ERFORDERT
Simbabwes angeschlagene Wirtschaft braucht dringende Reformen. William
Gumede analysiert die Herausforderungen für Präsident Mnangagwa, die
Wirtschaft zu stimulieren und die Demokratie durch freie und faire
Wahlen zu festigen.
,
ER WAR DOCH VERWUNDBAR...
Simbabwes Oppositionsführer Morgan Tsvangirai ist am 14. Februar
verstorben. Jürgen Langen schaut auf das Leben und Wirken des früheren
Gewerkschaftlers und Mugabe-Kontrahenten zurück.
WANKT SÜDAFRIKA AUS DER KRISE?
In der Zuma-Ära wurden in Südafrika überfällige Strukturreformen
liegen gelassen. Kann die Ramaphosa-Regierung das Land aus der Krise
führen?, fragt Robert Kappel.
PRÄSIDENT RAMAPHOSAS HERAUSFORDERUNGEN UND DER ANC
Südafrikas regierender ANC, einst die älteste Befreiungsbewegung
Afrikas, ist vom "demokratischen Zentralismus" geleitet, der eher die
Parteielite fördert. Heindri A. Baily reflektiert über die
Auswirkungen der Kaderpolitik des ANC und die Herausforderungen für
Cyril Ramaphosa.
DAS RECHT, NEIN ZU SAGEN
Seit zehn Jahren kämpft das Amadiba Crisis Committee gegen ein
Bergbauprojekt in Xolobeni. Andreas Bohne berichtet über die
vielfältigen Protestformen der Aktivistinnen und Aktivisten.
SIE HIELT DEN GEIST DES WIDERSTANDS AM LEBEN
Winnie Madikizela-Mandela ist am 2. April im Alter von 81 Jahren
verstorben. Ihr Leben war dem Widerstand gewidmet und von Verbannung,
Brutalität und Verkennung gekennzeichnet. Shireen Hassim setzt ihr ein
Denkmal.
NICHTS GESCHENKT BEKOMMEN
Marlene le Roux ist Direktorin des Artscape Theatre Centre in
Kapstadt. Julia Müller porträtiert eine beeindruckende Frau, die sich
auch für die Belange von Menschen mit Behinderung engagiert.
WACHABLÖSUNG NACH 38 JAHREN
Angolas Präsident João Lourenço hat gegenüber seinem Vorgänger José
Eduardo dos Santos einen neuen Politikstil eingeführt. Peter Meyns
schaut auf den Werdegang Lourenços innerhalb der regierenden MPLA und
die ersten 100 Tage seiner Regierung.
RECHTSFREIER RAUM IM HERZEN AFRIKAS
Die DR Kongo ist Schauplatz einer der größten humanitären Krisen der
Welt. Dominic Johnson ruft auf, nicht mehr tatenlos danebenzustehen.
WAHLEN SIND DRINGEND ERFORDERLICH
Stellungnahme von CENCO, der katholischen Bischofskonferenz der DR
Kongo, zur kritischen Lage im Land.
TRANSAQUA - EIN UNGLÜCKSPROJEKT FÜR DEN KONGO
Mit Wasser aus dem Kongo und seinen Nebenflüssen soll der Tschadsee
gerettet werden. Das wollen zumindest die Anrainerstaaten des
Tschadsees - und China, das mit einem Transport-Korridor eine "neue
Seidenstraße" schaffen will. In der DR Kongo trifft das umstrittene
Vorhaben auf erhebliche ökologische Bedenken, wie Alfred Ntumba
berichtet.
JUST BE YOURSELF
Mode in Johannesburg ist ein Ort der Freiheit und Utopie. Junge Leute
bringen mit unkonventioneller Mode, die auf historische Subkulturen
und Tanzstile wie Pantsula Bezug nimmt, ihre Persönlichkeit zum
Ausdruck. Daniela Goeller zeigt die sozio-kulturellen Hintergründe
auf.
DIE WUNDE
Der mehrfach preisgekrönte südafrikanische Spielfilm "The
Wound/Inxaba" behandelt emotionale Themen wie Jungeninitiation und
Homosexualität. Doris Senn stellt den Fim vor.
REZENSIONEN
*
Quelle:
afrika süd - zeitschrift zum südlichen afrika
46. Jahrgang, Nr. 2, März/April 2018, S. 25-26
Herausgeber: informationsstelle südliches afrika e.V. (issa)
Königswinterer Straße 116, 53227 Bonn
Tel.: 0228 / 46 43 69, Fax: 0228 / 46 81 77
E-Mail: info@issa-bonn.org
Internet: www.issa-bonn.org
"afrika süd" erscheint mit 6 Heften im Jahr
Jahresabonnement Euro 40,-
veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juli 2018
Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang