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BERICHT/346: Sexualisierte Gewalt ist Thema in Bethel (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel - März 2011

Sexualisierte Gewalt ist Thema in Bethel
"Schweigen und Verschweigen sind verboten!"

Von Silja Harrsen


Im großen Saal der Neuen Schmiede in Bielefeld-Bethel wurde es manchmal verstörend still. Das Thema "Sexualisierte Gewalt in Institutionen" ging den Teilnehmerinnen und Teilnehmern unter die Haut. Jedem war klar: Auch bei uns in den Einrichtungen der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, in denen Menschen beschützt, unterstützt und gefördert werden sollen, kann sexueller Missbrauch stattfinden. Mit einer Fortbildungsreihe wurde nun der Blick der Mitarbeitenden für grenzüberschreitendes, sexualisiertes Verhalten geschärft.


"Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es sexuellen Missbrauch gibt und dass es ihn immer geben wird. Aber wir werden alles daran setzen, ihn zu verhindern", betonte Dr. Tilman Polster, leitender Arzt der Kinderepileptologie im Epilepsie-Zentrum Bethel bei der Auftaktveranstaltung in der Neuen Schmiede. Im Mittelpunkt der Fortbildungsreihe im Januar und Februar stand sexualisierte Gewalt gegen Kinder, gegen Menschen mit Behinderung und gegen psychisch kranke Menschen.

Gastreferentin Dr. Claudia Bundschuh hatte in den 1990er-Jahren im Auftrag der Bundesregierung zur sexuellen Gewalt gegen Kinder geforscht. Seitdem gilt sie als Expertin für die Täterstrategien. "Menschen, die sexuelles Interesse an Kindern haben, wollen Kontakt zu ihnen. Deshalb suchen sie verstärkt die Lebenswelten der Kinder auf, zum Beispiel Spielplätze oder Schwimmbäder", so die Erziehungswissenschaftlerin. Beispielsweise engagieren sich die Täter auch häufig in der Hausaufgabenhilfe oder im Jugendbereich der Sportvereine und Kirchen. Nicht selten wählen sie später sogar einen Beruf im sozialen, pädagogischen oder medizinischen Bereich, um weiterhin mit Kindern und Jugendlichen zusammen sein zu können.


Familiäre Ursachen

"Ein typisches Beispiel ist Eric", berichtet Dr. Claudia Bundschuh aus einer Täterbiografie. Als Heranwachsender, als Student und als Sozialpädagoge fiel er immer wieder wegen sexueller Übergriffe auf Schutzbefohlene auf. Er wurde verwarnt oder an einen anderen Arbeitsplatz versetzt. Erst nach etlichen Stationen durch verschiedene Jugendhilfe-Einrichtungen wurde ihm gekündigt. "Während seiner Arbeitslosigkeit bemühte sich Eric um das Sorgerecht für einen Jungen. Ein Streetworker hatte ihm den Jungen zugewiesen", stellt die Diplompädagogin kommentarlos in den Raum.

Dass Täter von einer Jugendhilfe-Einrichtung in die nächste geschoben wurden, ohne sie in ihrem Tun zu stoppen, ist bis vor Kurzem eher die Regel als die Ausnahme gewesen. "Doch jetzt verändert sich etwas. Wir stehen aber erst ganz am Anfang", betont Dr. Bundschuh, die auch im Deutschen Kinderschutzbund mitarbeitet. Aufgrund ihrer Forschungsarbeiten zu pädosexuellen Straftätern wird sie bedroht. Fotos von ihr dürfen daher nicht veröffentlicht werden, auch nicht im RING.

Stefan Wittrahm ist Kinder- und Jugendpsychotherapeut und arbeitet mit Sexualstraftätern im Alter zwischen 20 und 30 Jahren. Seine Erfahrung ist, dass Männer, die sexuelle Gewalt ausüben, meist schon sehr früh mit Pornografie in Kontakt kamen. "Das sind in der Regel Jungs, die ganz viel Sex hatten und nichts über Sex wissen. Mit fünf Jahren haben sie den ersten Pornofilm gesehen. Mit zwölf wollten sie das auch mal machen. Die Entwicklung zum Sexualstraftäter hat ganz viel mit der familiären Situation zu tun."

Über Menschen, die sich speziell von Kindern sexuell angezogen fühlen, sagt Stefan Wittrahm, dass sie zwar nichts für ihre sexuelle Orientierung könnten, aber für ihre langfristigen Strategien, die sie anwendeten, um in der Nähe von Kindern zu sein, voll verantwortlich seien. "Dass sie sich auf Spielplätzen aufhalten oder eine Stelle als Babysitter annehmen, ist kein Zufall. Die Täter gehen planvoll vor", so Stefan Wittrahm. Das gelte übrigens auch für Täterinnen und Täter, die in Institutionen für Erwachsene arbeiteten, wie in Behindertenhilfe-Einrichtungen oder in psychiatrischen Abteilungen.


Absicherung der Täter

Menschen, die andere Menschen sexuell missbrauchen, sichern sich vor Entdeckung ab. Dafür müssen die Opfer, die Kollegen und vor allem die Vorgesetzten manipuliert werden. "Der gute Draht zum Chef ist besonders wichtig. So kann der Missbraucher vorbauen, falls jemand einen Verdacht äußert", erläutert Dr. Claudia Bundschuh. Im Kollegen kreis sind die Täter jedoch meist sehr beliebt. "Sie machen sich unentbehrlich und springen gerne ein, wenn Not am Mann ist. Sie strukturieren den Umgang mit dem Team ganz gezielt, um über allen Verdacht erhaben zu sein."

Ab wann wird eine Handlung zum Missbrauch, wo beginnt sexualisierte Gewalt? Wie sollen die Teams vorgehen, wenn ein Kollege oder eine Kollegin verdächtigt wird? Die Unsicherheit in der Mitarbeiterschaft ist groß. Bei der Auftaktveranstaltung warnten Stimmen aus dem Publikum vor einem Klima des Misstrauens. Die Kolleginnen und Kollegen würden zu Ermittlern gemacht, um sexualisierte Gewalt aufzuspüren, ohne jedoch recht zu wissen, wo grenzüberschreitendes Verhalten überhaupt anfange, so die Befürchtung.

Kerstin Wiethölter, Abteilungsleiterin in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Ev. Krankenhaus Bielefeld, rät zu einer offenen und gesprächsbereiten Teamkultur. "Wenn jemand ein ungutes Gefühl gegenüber einem Kollegen hat, muss es ihm erlaubt sein, den Verdacht auszusprechen. Es darf keine Tabus mehr geben." Dr. Günther Wienberg, Vorstand der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, geht sogar noch einen Schritt weiter: "Schweigen und verschweigen sind verboten. Sexueller Missbrauch ist zu Recht mit Strafe bewehrt", so sein Standpunkt. Um der Mitarbeiterschaft Hilfen an die Hand zu geben, wurde eine erste Fortbildungsreihe gestartet. Das Thema ist den Verantwortlichen in Bethel und dem Ev. Krankenhaus Bielefeld aber so wichtig, dass sie weitere Seminare anbieten, wenn Bedarf gemeldet wird.


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Quelle:
DER RING, März 2011, S. 8-9
Monatszeitschrift für Mitarbeiter, Bewohner, Freunde
und Förderer der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Redaktion: Quellenhofweg 25, 33617 Bielefeld
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. März 2011