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BERICHT/361: Mutismus bei hirnorganischer Symptomatik, 3 Menschen - 3 Wege (ISAAC)


UNTERSTÜTZTE Kommunikation - isaac's zeitung
International Society for Augmentative and Alternative Communication 2-2012

Mutismus bei hirnorganischer Symptomatik: 3 Menschen - 3 Wege

von Susann Buchhorn



Susann Buchhorn stellt aus ihrer Arbeit drei Praxisbeispiele von jungen Erwachsenen mit manifestierter mutistischer Störung vor, bei denen der Einsatz von Unterstützter Kommunikation zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt hat.


Ich möchte 3 Praxisbeispiele vorstellen, die nicht im klassischen Sinne mutistische Kinder beschreiben, sondern drei junge Erwachsene (jetzt um die 20 Jahre), bei denen jeweils eine hirnorganische Störung vorliegt. Somit ist der Mutismus in diesen Fällen als weiteres Symptom einer komplexen Störung zu sehen.

Trotzdem sind diese Fälle vielleicht gerade dadurch interessant, denn bei allen dreien hat sich der Mutismus manifestiert und sie sind eventuell beispielhaft für so manchen Menschen zu sehen, der uns in unserem Schul- oder Werkstattalltag begegnet.

Sie sollen nicht in dem Bewusstsein vorgestellt werden, dass hier der "richtige" Weg aufgezeigt wird, sondern im Sinne einer Berichterstattung, was in diesen Fällen auf die eine oder andere Art gut oder nicht so gut funktionierte.


Philipp

Philipp kam mit einer ICP auf die Welt. Er hat eine Tetraparese und eine Artikulationsstörung. Er kann sprechen, aber seine Stimme ist leicht dysarthrisch. Als er in die Schule kam, hat er noch gesprochen. Er hatte schon damals eine starke Persönlichkeit und versuchte immer, seinen Willen durchzusetzen. Mit den Jahren sprach er in der Schule immer weniger, irgendwann überhaupt nicht mehr. Im Alter von ca. 9-10 Jahren gab es auch Phasen, in denen er auch zu Hause mit niemandem mehr sprach, die Ursache hierfür konnte nie wirklich geklärt werden. Zuhause verbesserte sich die Situation mit der Zeit wieder, sodass er dort wieder mit den Eltern spricht.

Da Philipp sich auch anderen Anforderungen häufig entzieht, konnte nie genau festgestellt werden, wie leistungsfähig er im kognitiven Bereich tatsächlich ist. Er wurde im Bildungsgang der Förderschule unterrichtet und besucht jetzt im 2. Jahr ein zweijähriges BVJ (Berufsvorbereitungsjahr). Er möchte auf jeden Fall an der BVJ-Prüfung im Bereich Hauswirtschaft und Ernährung teilnehmen. Philipps schriftsprachliche Fähigkeiten sind sehr gut. Er beherrscht die deutsche Rechtschreibung und kann sich auch grammatikalisch genau ausdrücken. Sichtbare Probleme hat er bei Mathe.

Nachdem sich der Mutismus festgesetzt hatte, kommunizierte Philipp, indem er Buchstaben auf seinen Oberschenkel malte. Als sich zeigte, dass er auf diese Art durchaus im Stande war, wichtige Dinge mitzuteilen, bekam er eine laminierte Buchstabentafel, die es mehr Personen möglich machte, ihn zu verstehen. Schließlich wurde er Anfang 2008 mit einem Spok 21 (mobile Kommunikationshilfe mit synthetischer Sprachausgabe) versorgt. Jeder Wechsel des Kommunikationssystems war mit großen Widerständen von Philipps Seite belegt. Generell hat Philipp ein Problem damit, wenn neue Strukturen eingeführt werden, und es ist ihm kaum möglich, die positiven Reaktionen seines Gegenübers in sein Handlungskonzept einzubauen, um dem Wechsel so selbst etwas Positives abzugewinnen.

Bei Philipp zeigt sich immer wieder, dass sein Mutismus ein Ausdruck von Widerstand ist, denn er verweigert seine Mitarbeit auch in anderen Bereichen. Die sprachliche Blockade ist nicht nur personen- sondern auch situationsabhängig. So war er z.B. während einer Kanufreizeit der Schule eine ganze Woche lang in der Lage, mit allen möglichen Personen zu sprechen, doch kaum hatte der Bus den Schulhof auf der Heimreise erreicht, verstummte er wieder komplett. Bei starker persönlicher Motivation (z.B.: "Wenn du ein Stück von der Schokolade haben möchtest, musst du es sagen"), kann er sich überwinden zu sprechen, auch wenn es lange dauern kann. Kann er aus der Kommunikation aber keinen direkten persönlichen Gewinn ziehen, verweigert er sich komplett.

Als der Spok geliefert wurde, setzte er ihn zunächst nur sehr wenig ein und dann nur durch einzelne Schlagworte wie "Helfen", "Klo" oder "Schokolade". Konsequentes Einfordern von ganzen Sätzen durch das Klassenteam haben dazu geführt, dass Philipp jetzt selbstverständlich in ganzen Sätzen schreibt und auch von sich aus seine Bedürfnisse automatisch mit dem Spok ausdrückt. Die Programmierung des Wortes "Bitte" auf eine Taste hat dem Ganzen noch eine höflichere Komponente verschafft. Nach wie vor ist er nur selten bereit, die Sprachausgabe zu verwenden. Ein Grund dafür mag die mangelnde Qualität der synthetischen Stimme sein, doch scheint es sich auch um eine Frage von Macht und Kontrolle zu handeln, ob er die Sprachausgabe einsetzen mag oder nicht.

Vor allem im Fachunterricht kann er auf die Sprachausgabe nicht verzichten. Wir haben ihm mehrere Gründe für einzelne Situationen geliefert, in denen der Einsatz der Sprachausgabe selbstverständlich werden muss: Im praktischen Unterricht kann Philipp seine Aufgaben nur mit Assistenz bewältigen. Er hat aber keine Person, die für ihn allein zuständig ist. Deshalb muss er zu der betreffenden Person hinfahren und zumindest einen einleitenden Satz sagen, damit die Person bemerkt, dass sie gebraucht wird. Auch kann er z.B. schon weitere Anweisungen aussprechen, während der Helfer noch dabei ist, etwas anderes auszuführen. Steht man einmal neben ihm und kann mitlesen, braucht er die Sprachausgabe nicht zu benutzen und auch die Worte nicht vollständig auszuschreiben, wenn sein Gedanke richtig erfasst werden kann. So kann die Kommunikationsgeschwindigkeit erhöht werden. Wenn er beim Essen Hilfe benötigt, ist es eine Frage der Höflichkeit, mit einem ausgesprochenen Satz z.B. nach einer weiteren Portion zu fragen, anstatt seinen Tischnachbarn am Arm zu schubsen, damit dieser die Nachricht vom Display abliest.

Nachdem wir anfangs einige Widerstände überwinden mussten, hat Philipp sich an den Einsatz der Sprachausgabe in diesen beiden Situationen gewöhnt. Er wurde immer von allen Anwesenden gelobt, wenn er seine "Stimme" einsetzte und freute sich sehr über diese positiven und emotionalen Rückmeldungen.

Im fachtheoretischen Unterricht wäre ein Einsatz der Sprachausgabe im Sinne einer mündlichen aktiven Beteiligung am Unterricht eigentlich auch wünschenswert, aber hier lässt er sich leider selten zum Einsatz der Sprachausgabe bewegen. Von Zeit zu Zeit überrascht er uns mit einem schriftlichen Kommentar, aber meistens verweigert er die Mitarbeit im Theorieunterricht fast gänzlich. Auch im Praxisunterricht entzieht sich Philipp den Anforderungen.

Ein weiteres Zeichen seiner tiefen Kommunikationsstörung ist sein Unvermögen, sozial angemessen zu agieren. So verweigert er sich z.B. der Beglückwünschung eines Geburtstagskindes der Gruppe. Nur die Aussicht auf ein Stück Geburtstagskuchen kann ihn bewegen, die Glückwünsche zu erteilen.

Außerdem zeigt Philipp ein zwanghaftes Lachen, über welches er selbst schreibt, dass er nichts dafür könne bzw. sich einfach nicht unter Kontrolle bringen könne. Als Konsequenz wurde ihm nahegelegt, die Klasse zu verlassen, wenn ihn ein solcher Lachkrampf ereilt. Seine Reaktion ist schwer einzuschätzen: Bei manchen Kollegen oder in manchen Situationen bittet er selbst darum, das Klassenzimmer verlassen zu dürfen oder macht dies zumindest nach einer Aufforderung. Dann wieder weigert er sich ungeachtet der Tatsache, dass er deutlich bemerkt, wie sehr sein Verhalten alle anderen Anwesenden stört und irritiert.

Während der Zeit der Pubertät hat Philipp auch Fremdaggressionen gegen andere Menschen entwickelt, wenn er seinen Willen nicht anders durchsetzen konnte. Da er körperlich sehr kräftig ist, geht in diesem Bereich auch eine nicht zu unterschätzende Gefahr von ihm aus, wenn er die Kontrolle verliert.

Gespräche, die Philipp selbst initiiert, werden in ihrem Inhalt ausschließlich von ihm bestimmt. Sein zentrales Gesprächsthema sind Filme, vor allem "Die Simpsons", so dass Gespräche mit ihm stereotype Formen annehmen und seine Partner wenig motivieren, das Gespräch mit ihm aufrecht zu erhalten bzw. ein Gespräch mit ihm zu suchen. Ein weiteres Thema, das ihn seit Jahren beschäftigt, ist das Essen, so dass man hier eine gewisse Stagnation in seiner Entwicklung sehen kann.

Philipp ist sehr isoliert von seinen Mitschülern, denn gerade langjährigen Klassenkameraden fällt es inzwischen sehr schwer, ihm weiterhin Verständnis entgegen zu bringen.

Wenn dieses Schuljahr endet, wird Philipp die Schule verlassen, mit oder ohne bestandener BVJ-Prüfung. Durch die verschiedenen Praktika, die er während seiner Schulzeit bereits durchgeführt hat, zieht sich seine geringe soziale Kompatibilität wie ein roter Faden.

Er will unter gar keinen Umständen in eine WfbM, er selbst und seine Mutter sehen ihn deutlich leistungsstärker. Die Mutter versucht verzweifelt, ihn irgendwo auf dem ersten Arbeitsmarkt unterzubringen, wobei weder sein Sozialverhalten noch sein Arbeitsverhalten den Anforderungen des ersten Arbeitsmarktes entsprechen.

Im Vergleich dazu, wie die Situation schon war, hat Philipp mit Sicherheit große Fortschritte gemacht, aber verglichen mit dem, wo er hin will und muss, hat er noch einen weiten Weg vor sich. Trotzdem muss man sagen, dass seine bisherigen Fortschritte ohne den Einsatz des Spoks sicher nicht möglich gewesen wären. Der Spok gibt ihm in Krisenmomenten immer genau den Abstand, den er benötigt, um sich einer Situation doch noch gewachsen zu sehen.

Philipp war auch bei verschiedenen Psychologen in Behandlung, wobei es sich immer als sehr schwierig gestaltet hat, jemanden zu finden, bei dem die therapeutische Beziehung gut funktioniert hat und auch die Kommunikation mit der Mutter gestimmt hat. Zuletzt war Philipp bei einer Heilpädagogin in Behandlung. Ein therapeutischer Ansatz, der das gesamte soziale System mit einbezieht, wurde meines Wissens nie versucht, hier wären vielleicht noch Behandlungsmöglichkeiten zu finden gewesen.


Bettina
Auch Bettina hat eine ICP, bei ihr liegt jedoch eine Ataxie vor. Auch sie hat eine Dysarthrie, kann aber eigentlich sprechen. Bei Bettina haben sich schon im Kindergarten die Anfänge eines selektiven Mutismus gezeigt. Seit sie in die Schule kam, ist immer wieder von "Sprechblockaden" die Rede; wenn sie sprach, wurde ihre Sprache als "undeutlich" beschrieben. In Einzelsituationen gelang ihr das Sprechen besser als in der Gruppe. Später entstand der Eindruck, dass sie sprechen wollte, dies aber nicht mehr gelang. Ihre Persönlichkeit wurde allgemein als fröhlich wahrgenommen, im Prinzip ist sie ein kommunikativer Mensch. Bei Bettina wurde ein deutlicher Leidensdruck sichtbar, der durch die Sprechblockade auf ihr lastete. Sie behalf sich mit non-verbalen Alternativen wie einem Ja-/Nein-Zeichen, was aber eine sehr unzureichende Form der Kommunikation für sie darstellte.

In der Berufschulstufe kam die Idee auf, ihr einen BIGmack zur Verfügung zu stellen, welchen sie zuhause mit der eigenen Stimme besprach, um ihn dann in passenden Situationen auslösen zu können. Auf diese Art war sie sogar dazu in der Lage, sich selbst in einem öffentlichen Café etwas zu bestellen. Diesen BIGmack hat sie gerne und bereitwillig eingesetzt. Später wurde sie mit einem Tablet PC versorgt, auf dem Multitext läuft. Mit Hilfe der Wortvorhersage kann sie relativ zügig tippen und trotz ihrer Einstufung als "geistig behindert" kann sie sich sehr differenziert schriftsprachlich ausdrücken und auch die Rechtschreibung ist gut. Mit Hilfe dieses Gerätes kann sie Gedanken äußern, die sie anders niemals über die Lippen gebracht hätte. Sie verwendet die Sprachausgabe, aber wenn sie emotional besonders aufgewühlt ist, ist es ihr immer noch ein wichtiges Anliegen, ihre Gedanken aufzuschreiben, damit sie zumindest jemand lesen kann. Sie hat das Hilfsmittel schnell als Unterstützung angenommen und konnte den Gewinn, den sie hierdurch hat, schnell erfassen. Ist das Gerät jetzt einmal nicht einsatzbereit oder fällt z.B. runter (kommt also in Gefahr), so ist dies ganz schlimm für sie, und sie kümmert sich selbst um eine schnellstmögliche Lösung des Problems.

Über die Jahre wurden die verschiedensten Therapien ausprobiert, um dem Mutismus beizukommen, doch nichts zeigte auch nur den geringsten Erfolg, so dass sich der Mutismus über die Jahre manifestierte. Bei Bettina ist die Störung auch eindeutig als situationsabhängig zu betrachten, es gibt Menschen, die wissen nur aus Berichten, dass Bettina mit anderen Personen nicht spricht. Auch hatte sie einen Lehrer, mit dem sie beim nachmittäglichen Schwimmen ohne nachzudenken sprach, und trotzdem brachte sie innerhalb des Schulbetriebes ihm gegenüber kein Wort heraus. Nachdem sich nun über Jahre hinweg keinerlei Verbesserung der mutistischen Symptomatik gezeigt hat und keinerlei Therapien irgendetwas bewirkt haben, ist es sowohl für Bettina als auch für ihr Umfeld eine große Erleichterung, dass sie auf diese Art und Weise im Alltag kommunizieren kann. Seit dem vergangenen Herbst arbeitet sie in einer Werkstatt für behinderte Menschen und auch diesen Wechsel konnte sie unterstützt durch die Kommunikationshilfe gut meistern. Hier zeigt sie eine kommunikative Zurückhaltung, wie sie für solche Situationen normal ist, setzt das Gerät aber im Alltag für zweckmäßige Kommunikation ohne nachzudenken ein.


Markus
Markus hatte unter der Geburt eine Hirnblutung, entwickelte sich aber in den ersten 3 Lebensjahren unauffällig. Dann erlitt er im Alter von 3 Jahren einen heftigen epileptischen Anfall. Danach wurde er medikamentös gut eingestellt und war anfallsfrei, doch dieser erste Anfall wird als Ursache für eine tiefsitzende Angststörung betrachtet. Die notwendige heftige Medikation machte ihn sehr passiv und im Alter von 4 Jahren hörte er im Großen und Ganzen auf, mit Personen außerhalb der Familie zu sprechen. Die Angststörung zieht sich als Grundproblematik durch Markus' ganzes Leben, er bekam auch Medikamente dagegen. Mittlerweile ist er auch ohne Medikamente anfallsftei, dies ist eine große Beruhigung für ihn.

Zu uns an die Schule kam Markus von einer Sprachheilschule, in der er nicht beschulbar war, da er nicht nur nicht sprach, sondern sich auch jeglichen anderen Leistungsanforderungen entzog. Entsprechend konnte man auch nur vermuten, dass er normal intelligent ist und hat ihn bei uns im Bildungsgang der Hauptschule untergebracht, wo er aber inzwischen nach dem Bildungsgang Förderschule unterrichtet wird. Ich lernte Markus in seinem ersten Schuljahr bei uns (zu dem Zeitpunkt war er 11) kennen, weil ich seine ergotherapeutische Einzelförderung übernahm. Markus sprach ab der ersten Stunde mit mir, was für mich eine große Überraschung war, weil ich ja jemanden erwartet hatte, der nur mit seinen Eltern spricht. Aber vielleicht war es auch genau diese Einstellung von mir, in der ersten Stunde doch einfach mal zu beobachten, was passiert, welche Markus in diesem Moment von jeglichem Leistungs- und Erwartungsdruck befreite. Mit der Zeit konnte ich ein Schema in seinem Kommunikationsverhalten ausmachen: Er unterhielt sich frei und locker mit mir, solange er das Thema bestimmen konnte. Sprach ich Bereiche an, über die er nicht sprechen wollte, führte er elegant zu einem seiner Themen zurück, bis er sich wieder auf sicherem Terrain befand.

Markus hatte immer wieder Spezialgebiete, in denen er sich besonders gut auskannte, zu denen er verschiedenste Bücher las, und über die er mit Stolz sein angehäuftes Wissen präsentierte. Eines dieser Themen war "Harry Potter", und seine Affinität zu diesem Thema ging teilweise so weit, dass unser Schulpsychologe feststellte, dass Markus sich hier in eine Scheinwelt zurückzog, die ihm Sicherheit gab. Dennoch muss man sagen, dass Markus im Gegensatz zu Philipp seine Themen immer wieder geändert hat und mittlerweile auch ein jetzt altersentsprechendes Hobby hat.

Da er innerhalb der Klasse nach wie vor jegliche Leistung verweigerte, versuchten wir innerhalb der Einzelstunden zumindest kleine Aufgaben zu lösen um seine Fähigkeiten besser einschätzen zu können. Doch je mehr auch in meinem Unterricht solche Anforderungen an ihn gestellt wurden und je weniger diese Stunden eine Rückzugsmöglichkeit boten, desto weniger sprach er mit mir, bis er irgendwann gar nicht mehr mit mir sprach und auch nicht mehr zu mir in die Einzelförderung kommen wollte. Innerhalb von Gruppen konnte Markus sich sehr gut an Spielen beteiligen und so gut in die Stimmung eintauchen, dass immer wieder der Eindruck entstand, er würde im nächsten Moment doch "aus Versehen" etwas sagen, aber es kam niemals dazu. Während er zu Anfang in seiner Klasse noch gut integriert war, als guter Kumpel betrachtet wurde und auch mit einem der Mitschüler sprach (wenn sonst niemand im Zimmer war), ist er mit der Zeit immer stärker in die Isolierung gerutscht, so dass er jetzt zwar von allen toleriert und akzeptiert wird, aber über keine sozialen Kontakte mehr verfügt. Die Klassenzusammensetzung hat sich zwar geändert, aber es ist trotzdem sehr fraglich, ob sich seine Position innerhalb der Klasse ohne diese Veränderungen besser gehalten hätte, da er für pubertierende Mitschüler einfach kein interessanter Gesprächspartner war.

Als Markus zu uns in die Schule kam, bekam er einmal pro Woche Einzelförderung zum Erlernen von Gebärden. Er erlernte diese problemlos und konnte sie auf Wunsch reproduzieren, doch es kam selten dazu, dass er diese in der Gruppe zum Einsatz brachte um zu kommunizieren. Er hatte einige eigene Zeichen und Gebärden, mit Hilfe derer er einfache Kommentare, Zustimmung oder Ablehnung signalisieren konnte, aber auch diese hat er nur dann eingesetzt, wenn er es wirklich selber wollte, und nicht, weil jemand anders ihn darum gebeten hat. Er bekam das Programm Multitext mit dem Gedanken, dass er dann zu Hause (schulische) Inhalte erarbeiten und diese vom Computer vorlesen lassen könnte, um ihm eine Stimme in der Klasse zu verschaffen, und auch wenn er eine Zeit lang recht positiv auf die Möglichkeiten dieses Programms reagiert hat, hat er wieder aufgehört, es zu benutzen. Eine Zeit lang besprach er auch zu Hause einen Kassettenrekorder und spielte das Band in der Schule ab.

In diesen ersten Jahren bei uns in der Schule war die Situation und personelle Zusammensetzung für ihn vermutlich nahezu perfekt, so dass er diese Öffnung anderen gegenüber zeigen konnte. Als sich aber mit der Zeit die Zusammensetzung der Mitschüler und auch das Lehrerpersonal änderte, fielen diese für ihn optimalen Voraussetzungen Stück für Stück weg und er verschloss sich wieder mehr und mehr.

Markus war schon als Kind in heilpädagogischer Behandlung, außerdem war die Familie bei einem Psychologen, wobei Markus selbst nie aktiv an diesen Therapiesitzungen teilgenommen hat, so dass diese Intervention sich eher an die Familie und das Umfeld richtete. Die Gespräche mit dem Psychologen, welcher auch das Team in der Schule unterstützt hat, stellten einen Rückhalt für die Mutter dar, jedoch wurde nie nach einem systemischen Ansatz gearbeitet, der vielleicht innerhalb der Familie eine Hilfe für Markus gewesen wäre. Es ist schwierig festzustellen, ob bei Markus ein ähnlicher Leidensdruck auf Grund des Mutismus besteht wie bei Bettina. Es ist aber eine Tatsache, dass er, je älter er wird, immer stärker in soziale Isolation gerät und auch seine berufliche Zukunft ist für uns alle eine große Sorge.


Schlussfolgerung
Bei drei verschiedenen Schülern hat der Einsatz von UK zu drei völlig verschiedenen Ergebnissen geführt. Während Markus einfach nicht aus sich heraus kann und keine Hilfe und kein noch so großer Leidensdruck ihn zu einer Äußerung oder auch nur nonverbaler Kommunikation bewegen können, hat Philipp entdeckt, wie er den Talker zu seinem Vorteil einsetzen kann. Der Talker kann ihm nicht über seine Grundproblematik hinweg helfen, schafft aber doch eine Möglichkeit, wie man im Alltag miteinander umgehen kann. Bettina kann zwar nicht über ihren Schatten springen, aber die Kommunikationshilfe nimmt einen großen Druck von ihr, so dass sie auf akzeptable Weise mit verschiedensten Menschen kommunizieren kann und nicht mehr unter ihrem eigenen Unvermögen sich auszudrücken leiden muss.

Da bei allen dreien der Mutismus manifestiert war und therapeutische Angebote nicht weiter helfen konnten, betrachte ich es als legitimes pädagogisches Mittel, UK als Alternativsprache zum Einsatz zu bringen. Gleichzeitig stellt sich jetzt beim Übergang ins Erwachsenenleben deutlich die Frage, ob es nicht doch möglich gewesen wäre, die psychischen Grundproblematiken zu überwinden.

Insbesondere Philipp und Markus, welche einen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt anstreben, müssen jetzt feststellen, dass sie ihre Ziele nicht verwirklichen können, weil ihnen ihr Mutismus und ihre Verhaltensbesonderheiten im Weg stehen. Und das jetzt noch zu ändern, dürfte schwierig werden.


(Die Namen der Schüler wurden nach Absprache geändert)

Kontakt:
susann.buchhorn@esther-weber-schule.de

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Quelle:
UNTERSTÜTZTE KOMMUNIKATION - ISAAC's Zeitung, 17. Jahrgang 2012,
Nr. 2/2012, S. 16 - 20
Herausgeberin:
ISAAC, Gesellschaft für unterstützte Kommunikation e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. September 2012