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BILDUNG/250: "Inklusion" macht Schule - Bethel setzt UN-Konvention um (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel - April 2009

"Inklusion" macht Schule
Bethel setzt UN-Konvention um

Von Gunnar Kreutner


Mucksmäuschenstill wird es in der Klasse 5G, als die 11-jährige Sara Elmegaard Jensen beginnt, leise und mit längeren Sprechpausen ihre Hausaufgaben vorzulesen. Das Gesicht dicht über dem Papier, folgen ihre Augen dem Vergrößerungsglas, das sie langsam über die Zeilen schiebt. Neben der stark sehbehinderten Schülerin, die eine Lernschwäche hat, sitzt Nina Roschinski, Saras persönliche Integrationshelferin. Die junge Frau schaut der Schülerin über die Schulter und hilft ihr, wenn sie zu sehr ins Stocken gerät.


Nina Roschinski unterstützt Sara Elmegaard Jensen mit speziellen technischen Hilfsmitteln, damit die Schülerin dem Unterricht in der integrativen Klasse des Friedrich-von-Bodelschwingh-Gymnasiums folgen kann. Als Klassenlehrerin Ellen Kaptain beginnt, etwas an die Tafel zu schreiben, richtet sie eine kleine Kamera aus, die an den Monitor eines Laptops montiert ist. Stark vergrößert erscheinen die Worte an der Tafel auf dem Bildschirm vor Sara Elmegaard Jensen. Die 5G ist die erste integrative Schulklasse in der Sekundarstufe I des Friedrich-von-Bodelschwingh-Gymnasiums in Bielefeld-Bethel. In der Klasse mit insgesamt 26 Schülerinnen und Schülern sitzen außer Sara Elmegaard Jensen noch fünf andere Kinder mit unterschiedlichem sonderpädagogischen Förderbedarf. Neben Klassenlehrerin Ellen Kaptain werden diese Schüler von der Sonderschulpädagogin Christiane Pieper unterrichtet. Nina Roschinski und eine weitere Integrationshelferin assistieren den Kindern individuell.

Geht es nach der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, die seit Januar in Deutschland geltendes Recht ist, wären Unterrichtsmodelle wie am Friedrich-von-Bodelschwingh-Gymnasium die Regel. Das Übereinkommen der Vereinten Nationen verlangt, dass behinderte Menschen an Regelschulen unterrichtet werden.


Unterricht zu Zweit

Die Betheler Schul- und Bildungsexperten befürworten die UN-Konvention und haben mit der 5G ihre Vorstellungen von gemeinsamem Unterricht beispielhaft umgesetzt. Die behinderten Schüler werden in der integrativen Schulklasse so begleitet, dass sie möglichst eigenständig am Unterricht teilnehmen können. "Wir sind mit unserem Konzept in der Lage, immer zu Zweit im Unterricht zu sein - Fachlehrer und Sonderschulpädagoge. Das ist nach unseren Vorstellungen von individueller Förderung auch notwendig", sagt der Leiter des Gymnasiums Hans-Wilhelm Lümkemann.

Die Klasse 5G als Standard im deutschen Schulsystem wünscht sich Frank Thies, Rektor der Mamre-Patmos-Schule in Bielefeld-Bethel. An der Förderschule werden 235 Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Behinderungen unterrichtet. Sonderschulpädagogen sollten ihren Kollegen in integrativen Klassen der Regelschulen assistierend und beratend zur Seite stehen, meint Frank Thies. Individuelle Assistenten, wie Integrationshelferin Nina Roschinski, würden behinderten Schülern helfen, den Anschluss im Unterricht zu halten und sich im schulischen Alltag zu orientieren. Denkbar findet Frank Thies auch, Gebärdendolmetscher für hörgeschädigte Kinder und Jugendliche einzusetzen. "Außerdem könnten Lehrer oder sogar Mitschüler Grundsätze der Gebärdensprache beherrschen. In den USA ist sie statistisch die beliebteste Fremdsprache." Individuelle Hilfen dienten dazu, behinderten Schülern maximale Selbstständigkeit zu ermöglichen. "Meine Vorstellung ist sicherlich keine billige Lösung. Sie kostet richtig viel Geld und muss daher politisch gewollt sein", räumt Frank Thies ein.

Nach Ansicht von Vorstandsmitglied Dr. Rolf Engels stehen die v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel als Schulträger in besonderer Verantwortung, entsprechende Angebote zu realisieren und weiterzuentwickeln - besonders vor dem Hintergrund der eigenen Vision vom "selbstverständlichen Zusammenleben, dem gemeinsamen Lernen und Arbeiten aller Menschen in ihrer Verschiedenheit". Die UN-Konvention beschreibe eine Gesellschaft, die der Bethel-Vision entspreche. "Sie verlangt die Auflösung aller aussondernden und ausgrenzenden Barrieren für benachteiligte Menschen", so Dr. Rolf Engels.


Eine Schule für alle?

Die Existenz von Förderschulen widerspreche nicht dem Ziel der UN-Konvention, findet Hans-Wilhelm Lümkemann. "Wenn wir von integrativen Klassen wie unserer 5G reden, dann geht es nicht um Kinder und Jugendliche, die überhaupt nicht kommunizieren oder sich bewegen können, die auf intensive Pflege angewiesen sind oder sehr viele Pausen benötigen. Diese Kinder können nicht an Regelschulen beschult werden", betont Hans-Wilhelm Lümkemann. Frank Thies dagegen wünscht sich, dass Förderschulen langfristig überhaupt nicht mehr notwendig sind. Er setzt auf eine "Schule für alle", und diese Schule müsse es leisten können, auch schwer behinderte Menschen zu integrieren. Gegenwärtig sei die "Schule für alle" aber nicht mehr als eine "Utopie". "Wenn sie tatsächlich realisiert werden soll, müssen wir noch einmal grundsätzlich darüber reden, wie unser Schulsystem aussehen soll." Eine Schule, die auf Inklusion setze, könne es sich nicht leisten, nach Leistungsfähigkeit zu differenzieren, "und das kann in unserem gegenwärtigen dreigliedrigen Schulsystem nicht funktionieren", so der Pädagoge. "Unsere Förderschulen sind deshalb zurzeit noch notwendig."


Aussortiert

Von den Kindern mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf werden 85 Prozent an Sonderschulen unterrichtet. Das bedeutet, dass 5 Prozent aller Kinder in Deutschland aussortiert werden, weil sie an herkömmlichen Schulen angeblich nicht zu unterrichten sind. Im europäischen Ausland sei es anders, sagt Hans-Wilhelm Lümkemann. Dort würden sehr viel mehr beeinträchtigte Kinder an Regelschulen unterrichtet. "In Italien wurden Sonderschulen meines Wissens gänzlich abgeschafft."

In der öffentlichen Diskussion in Deutschland wird vielfach die Befürchtung geäußert, in einem gemeinsamen Unterricht würden die Schwächeren die Leistung und Entwicklung der Stärkeren bremsen. Diese Sorge können Hans-Wilhelm Lümkemann und Frank Thies mit ihren eigenen Erfahrungen widerlegen. "Die Leistungsstärkeren erleiden keine Nachteile unter der Voraussetzung, dass genügend 'Gute' in der Lerngruppe sind", sagt Hans-Wilhelm Lümkemann. Umgekehrt belege die Wissenschaft, dass die Schwächeren enorm von den Stärkeren profitierten. Zudem gebe es in der 5G auch besondere Förderangebote für stärkere Schüler. "Wir wollen allen individuell gerecht werden", so der Schulleiter.


Keine Bedenken

Die Eltern der nicht beeinträchtigten 5G-Schüler hatten keine Bedenken, einen gemeinsamen Unterricht einzuführen - ganz im Gegenteil. Etwa 70 Prozent befürworteten die Idee von Anfang an. "Sie erhoffen sich davon, dass ihr Kind angeregt wird, Verantwortung zu übernehmen -Stichwort 'soziale Kompetenz'. Einige Eltern haben sich auch gesagt: Prima, dann sind ja sogar immer zwei Lehrer im Unterricht. Etwas Besseres kann meinem Kind doch nicht passieren", berichtet Hans-Wilhelm Lümkemann.

Das Übereinkommen der Vereinten Nationen beschränkt sich mit seinem Anspruch auf "Inklusion" nicht auf die Schulzeit, sondern gilt auch für das Berufsleben. Die Vertragsstaaten müssten das "gleichberechtigte Recht behinderter Menschen auf Arbeit" und das "Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen" mit Leben füllen. Für die Realisierung eines "offenen, integrativen und für behinderte Menschen zugänglichen Arbeitsmarktes" verlangt die UN-Konvention Unterstützung bei der Arbeitssuche, dem Erwerb und der Beibehaltung eines Arbeitsplatzes.

Die v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel haben bereits vor der Verabschiedung der Konvention und auch vor Inkrafttreten eines neuen Bundesgesetzes zur Einführung Unterstützter Beschäftigung am 30. Dezember 2008 vergleichbare Angebote geschaffen. "Was gesetzlich verlangt wird, entspricht grundsätzlich dem, was der Stiftungsbereich proWerk bereits seit längerer Zeit mit ausgelagerten Arbeitsplätzen verwirklicht hat", so proWerk-Geschäftsführer Ottokar Baum. Behinderte Menschen arbeiten in privaten Industrieunternehmen und im Handwerk. Der Stiftungsbereich proWerk stellt ihnen Assistenten zur Seite, die sie im alltäglichen Arbeitsleben unterstützen.


Inklusion im Beruf

Ausgelagerte Arbeitsplätze seien ein Modell, das die Betroffenen näher an den Arbeitsmarkt heranbringe, sagt Ottokar Baum. Das Angebot sei besonders geeignet für Menschen mit psychischen Erkrankungen. "In der Zukunft müssen wir mehr Menschen aus den Werkstätten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt bringen", meint Ottokar Baum und hat bereits einen konkreten Vorschlag. "Die Gelder, die eine Werkstatt für behinderte Menschen für einen Beschäftigten bekommt, könnte man auch als Transferleistung an Betriebe geben, damit ein behinderter Mensch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt betreut werden kann."


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Quelle:
DER RING, April 2009, S. 7-9
Monatszeitschrift für Mitarbeiter, Bewohner, Freunde
und Förderer der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Mai 2009