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BILDUNG/292: Studieren mit Behinderung ist ... Chefsache (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 2/2010

AUF DEM WEG ZU EINER HOCHSCHULE FÜR ALLE
Studieren mit Behinderung ist ... Chefsache

Von Christiane Schindler


Im April 2009 beschloss die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) eine Empfehlung zum Studium mit Behinderung oder chronischer Krankheit. Ihr Titel "Eine Hochschule für Alle" ist Programm. Die Hochschulen wollen dafür sorgen, dass Studierende mit Behinderung und chronischer Krankheit mit gleichen Chancen studieren können. Am Anfang steht eine Bestandsaufnahme. Binnen eines Jahres wollen die Hochschulen die erforderlichen Maßnahmen mit allen Beteiligten erörtern. Die Umsetzung der Empfehlung soll bereits 2012 evaluiert werden.


Notizen im Seminar machen, Hausarbeiten schreiben und für Prüfungen büffeln - was für viele Studierende an sich schon eine große Herausforderung ist, stellt Maren vor noch größere Hürden. Denn die Studentin ist blind. Trotzdem studiert sie erfolgreich an der Freien Universität Berlin. In der dortigen "Servicestelle für blinde und sehbehinderte Studierende" werden für das Studium benötigte Texte für Sehbehinderte vergrößert, in Blindenschrift umgewandelt oder auf elektronische Datenträger umgesetzt. In den Bibliotheken der FU gibt es speziell ausgestattete Arbeitsplätze für blinde und sehbehinderte Studierende.

Nicht alle Hochschulen bieten ein solch breites Hilfe-Spektrum. Vielerorts ist der Studienalltag voller Barrieren für Studierende mit Behinderung. Zahlreiche, besonders ältere Gebäude sind nicht barrierefrei zugänglich. Mal fehlt ein Aufzug für Rollstuhlfahrer, mal versperren Stufen den Eingang zum Seminargebäude. Fehlende Leitsysteme erschweren blinden Studierenden die Orientierung auf dem Campus. Hörbehinderte Studierende treffen oft auf Widerstände, wenn sie die Dozentinnen oder Dozenten um das Manuskript der Vorlesung oder um zusätzliche schriftliche Unterlagen bitten.


Folgenreicher Bologna-Prozess

Mit der Bologna-Reform kommen zu den alten Schwierigkeiten jetzt neue. Die Einführung der Bachelor- und Master-Studiengänge verändert die Studienbedingungen grundlegend. Zu erfüllen ist ein Leistungspunktesystem, das sich am Arbeitspensum eines Durchschnitts-Vollzeit-Studierenden bemisst. Ein eng geschneidertes Studienkorsett macht verbindliche Vorgaben zu Form und zeitlichem Ablauf des Studiums. Behinderten oder chronisch kranken Studierenden fällt es aber oft schwer, die vorgegebenen Fristen oder Anwesenheitspflichten einzuhalten oder Module und Prüfungen in der vorgegebenen Reihenfolge zu absolvieren. Sie brauchen Zeit und Spielräume, um Studium sowie Ruhe- und Therapiebedarf unter einen Hut zu bringen. Mehr Studierende mit Behinderung oder chronischer Krankheit als früher sind jetzt auf Nachteilsausgleiche im Studium angewiesen. Mal geht es um die Fristverlängerung für eine Hausarbeit, mal um den Verzicht auf feste Präsenzzeiten. Immer häufiger aber werden individuelle Studienpläne nötig, damit behinderte oder chronisch kranke Studierende in ihrem Tempo studieren können. Viele Hochschulen sind auf diese Situation bisher nur unzureichend eingestellt.


Hochschulen übernehmen Verantwortung

Zutreffend stellt die HRK fest, dass die Belange von Studierenden mit Behinderung und chronischer Krankheit in den Hochschulen häufig nicht ausreichend berücksichtigt werden. Es bleibt jedoch nicht bei der bloßen Feststellung. Mit der Annahme der Empfehlung "Eine Hochschule für Alle" verpflichten sich die Hochschulen zum Handeln. Die Bedingungen sollen so verändert werden, dass Studierende mit Behinderung oder chronischer Krankheit mit gleichen Chancen studieren können. Die Empfehlung benennt die Verantwortlichen, notwendige Schritte und den Zeitrahmen der Umsetzung. Die Hochschulleitungen verpflichten sich zu prüfen, ob Nachteilsausgleiche bei der Zulassung, bei Studiengestaltung und Prüfungen geregelt sind, ob der Campus sowie die Lehr- und Informationsangebote der Hochschule barrierefrei zugänglich sind und ob ausreichende Beratungs- und Unterstützungsangebote vorhanden sind. Und sie verpflichten sich, die in der Empfehlung genannten Maßnahmen einzuleiten. Chancengleichheit wird so zur Chefsache.


UN-Konvention gibt Rückenwind

Seit einem Jahr ist in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft. Mit ihrer Ratifizierung verpflichten sich die Vertragsstaaten, sicher zu stellen, "dass Menschen mit Behinderungen ohne Diskriminierung und gleichberechtigt mit anderen Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung" haben. Alle verantwortlichen Akteure - Hochschulen sowie Bund, Länder und Sozialleistungsträger - haben dafür zu sorgen, dass die volle Teilhabe gelingt. Die Konvention verleiht den Bemühungen um eine barrierefreie Hochschule einen weiteren kräftigen Schub.


Umsetzung hat begonnen

An zahlreichen Hochschulen haben bereits erste Gespräche zur Umsetzung der HRK-Empfehlung stattgefunden, wurden Arbeitskreise oder Lenkungsgruppen eingesetzt und erste Maßnahmen zum Abbau von Barrieren verabredet. Dies zeigt eine Umfrage der Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung des Deutschen Studentenwerks. Die Umfrage macht aber auch deutlich: Die Umsetzung der Empfehlung ist dort besonders weit fortgeschritten, wo es starke Interessenvertretungen der Studierenden mit Behinderung gibt. Das sind zum einen die Beauftragten für die Belange der Studierenden mit Behinderung und chronischer Krankheit. Sie sind mit der Situation an der jeweiligen Hochschule bestens vertraut und kennen die Probleme der Studierenden mit Behinderung oder chronischer Erkrankung aus ihrer Beratungspraxis. Ein wichtiger Motor beim Abbau von Barrieren an ihrer Hochschule sind aber auch die Studierenden selbst, ihre IG's und AG's, und die Behindertenreferate der ASten. Die HRK-Empfehlung "Eine Hochschule für Alle" bietet die Chance, die Situation der Studierenden mit Behinderung und chronischer Krankheit an den Hochschulen nachhaltig zu verbessern. Von dem Engagement aller Beteiligten vor Ort wird es abhängen, wie diese Chance genutzt wird.


DIE AUTORIN
Dr. Christiane Schindler ist die Leiterin der Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung (IBS) des Deutschen Stundentenwerks.


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Quelle:
Selbsthilfe 2/2010, S. 30-31
Zeitschrift der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung
und ihren Angehörigen e.V.
Herausgeber: BAG Selbsthilfe
Kirchfeldstr. 149, 40215 Düsseldorf
Tel.: 0211/31 00 6-0, Fax: 0211/31 00 6-48
E-Mail: info@bag-selbsthilfe.de
Internet: www.bag-selbsthilfe.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. August 2010