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BILDUNG/293: Die soziale Seite der Bildung - Am Ende des Sonderwegs (DJI)


DJI Bulletin 2/2010, Heft 90
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Die soziale Seite der Bildung
Am Ende des Sonderwegs

Von Horst Weishaupt


Trotz aller gegenteiligen Bekenntnisse der Politik haben die Förderschulen in Deutschland eine unverändert große Bedeutung. Doch die UN-Behindertenrechtskonvention wird in Verbindung mit dem Geburtenrückgang ein Umdenken zugunsten einer integrativen Förderung erzwingen.


Die politische Diskussion der sonderpädagogischen Förderung von Schülerinnen und Schülern wird gegenwärtig im Anschluss an die Unterzeichnung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung vor allem unter dem Gesichtspunkt der Integration, präziser der Inklusion, geführt. Sie ist von grundsätzlicher Bedeutung, weil die Bundesländer nach einer Verfassungsänderung, die explizit ein Benachteiligungsverbot wegen einer Behinderung aufnahm, in ihren Schulgesetzen einer integrativen Unterrichtung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf Vorrang einräumten. Das bedeutet, künftig sollen möglichst viele Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf gemeinsam mit Kindern lernen, die nicht sonderpädagogisch gefördert werden. Vor diesem Hintergrund war zu erwarten, dass die Bedeutung der separaten Förderschulen in Deutschland abnimmt (siehe auch Werning/Reiser 2008). Diese Entwicklung ist bisher aber nur begrenzt erkennbar, weil sie von der Erfüllung sachlicher und personeller Voraussetzungen abhängig gemacht wurde.

Gegenwärtig gibt es in Deutschland insgesamt 3.302 Förderschulen. Sie werden von etwa 400.000 Kindern und Jugendlichen (2008/09) besucht. Das entspricht einem Anteil von 4,9 Prozent aller Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen. Hinzu kommen mit einem Anteil von 1,1 Prozent jene Kinder und Jugendlichen, die in sonstigen allgemeinbildenden Schulen (allgemeinen Schulen) sonderpädagogisch gefördert werden. Seit 1999 hat sich der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf Förderschulen um 0,4 Prozentpunkte und in allgemeinen Schulen um 0,5 Prozentpunkte erhöht. Eine Rückentwicklung der Förderschulen zugunsten von integrativen Unterrichtsmodellen ist demnach vorerst nicht beobachtbar.


Das System verstärkt soziale Ungleichheiten

Der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die nicht in einer separaten Schulart lernen, betrug 2008 insgesamt nur 19 Prozent. Zwischen den Bundesländern variieren die Anteile erheblich. Insbesondere das Saarland, Berlin, Brandenburg und Bremen haben die integrative Förderung in allgemeinen Schulen ausgebaut. Allerdings sind die Angaben zwischen den Ländern nicht direkt vergleichbar, da die in der Schulstatistik erfassten Schülerinnen und Schüler, die trotz sonderpädagogischen Förderbedarfs allgemeine Schulen besuchen, sich in sehr unterschiedlichen Lernsituationen befinden. Die Praxis reicht von Sonderklassen über kooperative Modelle bis zur Integration einzelner Kinder und Jugendlicher in Regelklassen mit landesspezifisch unterschiedlichen Förderschwerpunkten. Nicht berücksichtigt sind präventive Angebote, die zunehmende Bedeutung gewinnen.

Auch die sonderpädagogischen Förderquoten unterscheiden sich in den Bundesländern stark. Die Differenz zwischen Rheinland-Pfalz mit einer Förderquote von 4,3 Prozent und Mecklenburg-Vorpommern mit 11,7 Prozent beträgt mehr als das 2,5-fache. Diese Unterschiede ergeben sich aus unterschiedlichen Kriterien und Verfahren für die Bestimmung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs und aus weiteren Faktoren (beispielsweise rechtlichen Regelungen, präventiven Maßnahmen zur Vermeidung einer sonderpädagogischen Förderdiagnose oder dem Interesse am Erhalt von Förderschulen). Sie führen zu sehr unterschiedlichen Voraussetzungen für betroffene Schülerinnen und Schüler und damit letztlich zu ungleichen Lebenschancen, weil beispielsweise 76 Prozent der Jugendlichen die Förderschule im Jahr 2008 ohne Hauptschulabschluss verlassen haben. Der überwiegende Anteil der Schulabgängerinnen und Schulabgänger ohne Abschluss kommt damit aus Förderschulen. Diese wiederum dürfen häufig keinen Hauptschulabschluss vergeben.

Bei der sonderpädagogischen Förderung ist zu unterscheiden zwischen Kindern und Jugendlichen mit Sinnesschädigungen, mit einer körperlichen Beeinträchtigung oder geistigen Behinderung, mit Lern- und Sprachstörungen oder mit emotionalen und sozialen Problemen, die im Verlauf der Schulzeit als sonderpädagogisch förderungsbedürftig diagnostiziert werden. Fast die Hälfte der Förderschülerinnen und -schüler wird gegenwärtig im Schwerpunkt Lernen unterrichtet. Zusammen mit denjenigen, die in den Schwerpunkten Sprache und emotionale und soziale Entwicklung lernen, vergrößert sich der Anteil auf etwa zwei Drittel aller Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Dabei handelt es sich durchgängig um junge Menschen mit Beeinträchtigungen, die nicht oder nicht überwiegend organisch bedingt sind.

Vor allem die Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen trägt zur Benachteiligung von Kindern aus sozial benachteiligten Familien bei. Deshalb müssen in den kommenden Jahren insbesondere die Bemühungen verstärkt werden, diese Schulart zugunsten eines integrativen Unterrichts aufzulösen. Schon lange ist sie dem Vorwurf ausgesetzt (Klein 2001), die Ausgrenzung von Kindern unterer Sozialgruppen zu verstärken. Gestützt wird diese Vermutung auch durch Daten des Mikrozensus 2008 des statistischen Bundesamtes. Danach ist das Bildungsniveau der Eltern von Förderschülerinnen und -schülern vergleichsweise niedrig. Mehr als die Hälfte der Eltern haben höchstens einen Hauptschulabschluss (52 Prozent), während dies nur für gut ein Viertel (27 Prozent) der Eltern von Kindern an sonstigen allgemeinbildenden Schulen zutrifft. Auch der Anteil der Eltern ohne Berufsabschluss ist mit 28 Prozent mehr als doppelt so hoch wie bei den sonstigen Müttern und Vätern (13 Prozent). Ein Drittel der Familienbezugspersonen ist zudem nicht erwerbstätig (34 Prozent), eine Erwerbssituation, die nur 12 Prozent der Kinder und Jugendlichen an allgemeinen Schulen miterleben. Da keine Leistungsinformationen über die Förderschülerinnen und -schüler selbst vorliegen, sind diese Befunde als Anregung anzusehen, die Prozesse der Förderschulbegutachtung, die individuellen Leistungsvoraussetzungen und sozio-ökonomischen Lebensumstände der Förderschülerinnen und -schüler genauer in ihren Zusammenhängen zu untersuchen.


Integration erfordert einen Wandel der Unterrichtskultur

Förderschulen haben sich häufig aus privaten Initiativen und lokalen Interessen entwickelt. Nur in wenigen Kreisen und kreisfreien Städten existiert ein Schulangebot, das die Mehrzahl der Förderschwerpunkte umfasst. Dies erschwert für Betroffene den Schulbesuch und trägt zu regionalen Unterschieden bei der sonderpädagogischen Förderung bei. Von einer flächendeckenden Versorgung und einem entsprechenden Angebot an Lehrkräften kann nur bei den Förderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen und mit Einschränkungen dem Schwerpunkt geistige Entwicklung gesprochen werden. Durch den sich fortsetzenden Rückgang der Geburtenzahlen in den ländlichen Regionen Ost- und Westdeutschlands sind aber auch diese Angebote zunehmend gefährdet. Hinzu kommt die Stärkung des Elternwahlrechts durch die UN-Behindertenrechtskonvention.

Der Auftrag zu einer integrativen Förderung der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf verlangt allerdings nach weitreichenden pädagogischen Veränderungen und Qualifizierungsmaßnahmen bei den Lehrkräften, um den neuen Anforderungen gerecht werden zu können. Während in den Kernstädten noch ein gewisser Handlungsspielraum für ein Nebeneinander von förderschulischen und integrativen Angeboten besteht, sofern dies politisch gewünscht ist, wird man sich in den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache und emotionale und soziale Entwicklung außerhalb der Kernstädte für eine Abkehr von einer separierenden Förderung entscheiden müssen, weil ein Nebeneinander weder organisier- noch finanzierbar wäre. Damit würde auch dem Inklusionsziel entsprochen.


Der Autor Prof. Dr. phil. Horst Weishaupt ist Leiter der Arbeitseinheit »Steuerung und Finanzierung des Bildungswesens« am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Frankfurt am Main und Professor für empirische Bildungsforschung an der Bergischen Universität Wuppertal. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen bei der regionalen Bildungsforschung sowie der Schulentwicklungs- und Planungsforschung. Horst Weishaupt koordiniert für das DIPF die Erstellung des Nationalen Bildungsberichts 2010.


Literatur:

Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2010): Bildung in Deutschland 2010. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Perspektiven des Bildungswesens im demografischen Wandel. Bielefeld

Klein, Gerhard (2001): Sozialer Hintergrund und Schullaufbahn von Lernbehinderten/Förderschülern 1969 und 1997. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, Heft 2, S. 51-61

Werning, Rolf / Reiser, Helmut (2008): Sonderpädagogische Förderung. In: Cortina, Kai S. u. a. (Hrsg.): Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Strukturen und Entwicklungen im Überblick. Reinbek, S. 505-539


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Quelle:
DJI-Bulletin Heft 2/2010, Heft 90, S. 20-22
Herausgeber:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. September 2010