DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel - März 2011
Inklusion am Bodelschwingh-Gymnasium
"Niklas tut das normale Umfeld gut!"
Von Gunnar Kreutner
Aufmerksam verfolgen die Schülerinnen und Schüler der 7G, wie ihr Physiklehrer Thorsten Zinn mit Kreide die Spektralfarben-Tabelle von weißem Licht an die Tafel zeichnet. Es wird fleißig mitgeschrieben. Hier und da ein wenig Getuschel, zwei Mädchen kichern, ansonsten herrscht konzentrierte Stille im Klassenzimmer. Auf den ersten Blick ist die 7G am Friedrich-von-Bodelschwingh-Gymnasium in Bielefeld-Bethel eine ganz gewöhnliche Schulklasse.
An der Fensterseite sitzt der zwölfjährige Niklas Heinzel. Das Tafelbild zur Lichtlehre scheint ihn in diesem Moment wenig zu interessieren. Mit einem Filzstift schreibt er langsam und in großen Buchstaben das Wort "Physik" auf seine grüne Unterrichtsmappe. Und über das "i" malt er eine Glühbirne anstelle eines Punktes.
Niklas Heinzel ist autistisch. Der Junge ist einer von insgesamt fünf Schülerinnen und Schülern in der 7G mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf. Neben ihm sitzt Saskia Dobros, seine lntegrationshelferin. Sie schreibt das Tafelbild für Niklas Heinzel ab und beobachtet gleichzeitig, wie er seine neue Physik-Mappe gestaltet. "Niklas ist künstlerisch sehr begabt. Er hat seine alte Mappe verloren und lässt jetzt nicht locker, bis er die neue vorbereitet und verschönert hat. Solange kann er dem Unterricht nicht richtig folgen. In der nächsten Stunde kann das aber schon wieder ganz anders aussehen. Dann ist er über längere Phasen konzentriert und macht prima mit", weiß Saskia Dobros.
Die 7G ist vor zweieinhalb Jahren als erste integrative Schulklasse des Friedrich-von-Bodelschwingh-Gymnasiums gestartet. In Ostwestfalen-Lippe hat die Schule nach wie vor Modellcharakter, denn es gibt in der Region kein weiteres Gymnasium mit inklusivem Konzept. Mittlerweile hat die Schule drei Klassen mit gemeinsamem Unterricht in der Sekundarstufe I; mit jedem neuen Jahrgang wird eine weitere folgen.
Eltern, Schüler und Lehrkräfte haben bisher überwiegend positive Erfahrungen mit dem gemeinsamen Unterricht gemacht. Schüler wie Niklas Heinzel können sich trotz ihrer Beeinträchtigungen an einer Regelschule weiterentwickeln. Seine Mutter, Bärbel Heinzel, ist froh, rückblickend die richtige Entscheidung getroffen zu haben. "Das normale Umfeld tut ihm sichtlich gut. In einer Förderschule wäre er unterfordert gewesen", sagt sie.
Niklas selbst fühlt sich wohl in der Schule an der Rehwiese. In den Pausen und nach dem Unterricht trifft er sich - wie alle anderen Kinder - mit seinen Freunden. Hin und wieder, gibt er zu, falle ihm der Unterricht schwerer als seinen Mitschülern. "Ich bin gut in Kunst und in Mathe. Wenn ich aber in der achten Stunde viel schreiben muss oder mir ein Fach nicht so liegt, dann finde ich das schon sehr anstrengend", sagt er. Seine Eltern merken, dass der fachliche Anspruch steigt. "Bei seinen Hausaufgaben wirkt Niklas teilweise überfordert", berichtet Bärbel Heinzel. Dennoch ist sie überzeugt, dass ihr Sohn gut aufgehoben ist, "wenn die individuelle Unterstützung mit dem fachlichen Niveau mithält".
Problem "Differenzierung"
Die zunehmende Differenzierung in den Fächern wird die größte Herausforderung in den kommenden Jahren sein. Die Schule unter der Leitung von Hans-Wilhelm Lümkemann steht unter zeitlichem Druck, das Konzept für den gemeinsamen Unterricht weiterzuentwickeln. Die Schüler der 7G kommen im nächsten Schuljahr in die 8. Klasse. Dann können sie fachliche Schwerpunkte auswählen. "Es wird also schwieriger mit dem Curriculum. Die Frage ist auch: Wann endet der gemeinsame Unterricht? Für die Gymnasiasten endet die Sekundarstufe I in der 9. Klasse, bei den Realschülern in der 10. Klasse. Anschließend beginnt die Oberstufe. Dann müssten wir die Integrationsklasse trennen und hätten nur noch kleine Lerngruppen", so Hans-Wilhelm Lümkemann.
Zurzeit sind jeweils 25 Schülerinnen und Schüler in jeder Integrationsklasse. Davon haben zehn eine Gymnasial-Empfehlung und zehn eine Realschul-Empfehlung. Die Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf haben ebenfalls größtenteils eine Empfehlung für die Realschule oder das Gymnasium. Je nach Förderbedarf sind die Kinder und Jugendlichen unterschiedlich leistungsstark und auf individuelle Assistenz angewiesen.
Positive Bilanz
Die Geschäftsführerin des Stiftungsbereichs Schulen, Barbara Manschmidt, zieht eine positive Bilanz nach den ersten zweieinhalb Jahren mit praktizierter Inklusion. "Die Lehrer müssen natürlich immer sehen, dass die Schüler angemessene individuelle Angebote haben. Das funktioniert bisher gut, zumal die Doppelbesetzung mit Fachlehrer und Lehrer für Sonderpädagogik durchgehend gewährleistet ist", so Barbara Manschmidt.
Auch eine inklusive Bildungslandschaft brauche für manche Kinder besondere schulische Förderorte, meint Barbara Manschmidt. Bethel müsse daher neben den Regelschulen auch die Schule am Schlepperweg, die Mamre-Patmos-Schule und die Dothanschule in Bielefeld sowie die Förderschulen im Schulverbund Freistatt mit ihren besonderen Angeboten weiterentwickeln. "Inklusion und die UN-Konvention bedeuten nicht, dass die Kinder um jeden Preis in eine Regelschule gehen. Die Eltern müssen für sich und im Sinne ihres Kindes entscheiden können und eine Auswahl haben."
In Bielefeld-Gadderbaum hat Bethel durch die Zusammenarbeit mit der Martinschule ein durchgängiges inklusives System für Kinder mit Förderbedarf geschaffen. Sowohl die Kindertagesstätten der Zionsgemeinde als auch die Martin-Grundschule haben integrative Angebote. Anschließend können die Kinder in die Friedrich-von-Bodelschwingh-Schulen wechseln. Die Nachfrage nach Plätzen in Integrationsklassen im Raum Bielefeld steigt. Im vergangenen Jahr gab es Anfragen für 27 Kinder, aber nur 24 Plätze. "Ich wage die Prognose, dass die Nachfrage weiter zunehmen wird. Und da es nun die UN-Konvention gibt, werden Eltern immer mehr auf ihr Recht pochen", sagt Hans-Wilhelm Lümkemann. "Wir überlegen bereits, ob wir einen Schritt weitergehen und das längere gemeinsame Lernen ausweiten."
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Quelle:
DER RING, März 2011, S. 6-7
Monatszeitschrift für Mitarbeiter, Bewohner, Freunde
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. März 2011