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BILDUNG/308: Schule - "Wir würden heute wieder so entscheiden" (LHZ)


Lebenshilfe Zeitung, Nr. 1 - März 2011

SCHULE
"Wir würden heute wieder so entscheiden"
Noah ist 11 Jahre alt. Er ist ein selbstbewusster Junge.
Noah hat das Down-Syndrom und besucht die 4. Klasse der Sophie-Scholl-Schule in Gießen.

Von Simone Kreuter


Die Entscheidung, welche Schule unser Kind besuchen sollte, haben wir uns - wie sicher alle Eltern in einer vergleichbaren Situation - nicht leicht gemacht. Klar war von Anfang an, dass Noah so normal wie möglich und mitten in unserer Gesellschaft aufwachsen sollte. Noahs gesundheitliche Voraussetzungen hierfür waren nicht immer gut. Er wurde mit dem Down-Syndrom und einem sehr schweren Herzfehler geboren, der zunächst als inoperabel galt. Aber dann kam doch alles anders. Noahs Herzfehler konnte im Alter von einem Jahr korrigiert werden, allerdings mit lebensbedrohenden Komplikationen. Unser Kind war sehr stark und erholte sich allmählich. Als Spätfolge aß Noah nur Breinahrung und dies sollte so bleiben, bis er acht Jahre alt wurde. Seine Kindergartenzeit verbrachte Noah in einer kleinen privaten Kindertagesstätte, die von Eltern organisiert wurde. Noah war von 30 Kindern das einzige mit einer Behinderung. Wir fühlten uns dort gut aufgehoben.


Noah ging nicht allein auf Toilette und brauchte Hilfe beim Aus- und Anziehen

Dann kam die Zeit, sich mit der Schule zu befassen. Mein Mann und ich sahen uns verschiedene Schulen an. Danach fühlten wir uns in unserer Auffassung bestätigt, dass Noah die Schule gemeinsam mit nicht behinderten Kindern besuchen sollte. Schon in der Kindergartenzeit hatten wir gute Erfahrungen hiermit gemacht. Unsere Wahl fiel auf die Sophie-Scholl-Schule in Gießen.

Dies bedeutete, dass es nicht die Grundschule vor Ort sein würde und damit möglicherweise die sozialen Kontakte aus der Kindergartenzeit weniger werden würden. Andererseits gefiel uns das Konzept der Sophie-Scholl-Schule außerordentlich gut. Insbesondere fanden wir es sehr schön, dass dort Kinder mit Handicap nicht nur vereinzelt vorkommen, sondern fest zum Bild der Schule gehören.

Natürlich hatten wir auch immer wieder Zweifel: Noah kam aus einer kuscheligen kleinen Kindertagesstätte und sollte jetzt eine Grundschule mit rund 270 Kindern besuchen. Die Klasse würde aus 20 Kindern sowie dem Schulteam aus Lehrern, Erzieherinnen und Schulhelfern bestehen. Noah konnte noch immer keine normale Nahrung essen und ging nicht zuverlässig und schon gar nicht allein auf Toilette. Er brauchte Hilfe beim Aus- und Anziehen. Würde das alles nicht zu viel werden?

Wir ließen uns darauf ein und haben es keinen Tag bereut. Am Anfang brauchte Noah viel Unterstützung, die er auch bekam. Wenn ihm die Klasse zu unruhig war, konnte er in einem Nebenraum sein. Wenn er erschöpft war, gab es einen Ruheraum. Er brauchte und braucht seine "Auszeiten", wie im Übrigen alle Kinder, ob mit oder ohne Handicap. Seine Schultage endeten um 14 Uhr, dann war unser Kind sehr müde.

Noah fühlte sich aber von Anfang an wohl in seiner Klasse und in dem Schulgebäude. Er hatte und hat immer Kontakt zu Mitschülern mit und ohne Handicap. In der ersten Klasse hatte er eine Mitschülerin, die schon sehr von Muskelschwund gezeichnet war und die er sehr gern hatte. Noah hatte einen sehr herzlichen und völlig unbefangenen Umgang mit ihr, während dieses Mädchen von den anderen Schülern immer sehr vorsichtig behandelt wurde, weil sie so zerbrechlich wirkte. Die Klassenlehrerin berichtete dann, dass durch Noahs Verhalten auch alle anderen Schüler plötzlich einen viel normaleren Zugang zu dem Mädchen hatten. Das war sehr schön zu sehen.


Die Mitschüler kennen seine Besonderheiten sehr genau und animieren ihn zum Mitmachen

Noah lernt viel durch Nachahmung, und zwar in allen Bereichen, ob lebenspraktisch oder beim Lesen, Schreiben und Rechnen. Er arbeitet im Rahmen eines Wochenplans, der auf seine speziellen Fähigkeiten und Kompetenzen zugeschnitten ist. Noahs Mitschüler kennen seine Besonderheiten sehr genau und haben ein erstaunliches Talent, ihn zum Mitmachen zu animieren. Umgekehrt schätzen sie Noahs empathische Art und sein Talent, auf Mitschüler zuzugehen. Nicht behinderte Mitschüler fragen uns Eltern manchmal, welche Behinderung Noah eigentlich hat. Das erklären wir dann. Sie hören sehr interessiert und völlig unbefangen zu, und dann geht der Schulalltag ganz normal weiter. So soll es sein.

Noah konnte schließlich ab seinem achten Geburtstag essen. Das hatten nicht wir Eltern geschafft, sondern ein Zivildienstleistender der Schule, der dies geduldig immer und immer wieder versucht hatte. Schön zu sehen ist es, wie normal es für nicht behinderte Kinder ist, dass man zusammen zur Schule geht. Dies überträgt sich auch sehr deutlich auf die Eltern dieser Kinder. Wir haben immer wieder erfahren, dass die anfängliche Distanz der Eltern einfach daher kommt, dass sie nicht wissen, wie sie mit einem Kind mit Handicap - und dessen Eltern - umgehen sollen. Ihre Kinder leben es ihnen vor, und so wird es auch für die Eltern viel normaler. Viele dieser Eltern sind auch im Elternverein aktiv und setzen sich insbesondere auch für die Belange der Kinder mit Handicap ein.

Natürlich gibt es wie überall auch in der Sophie-Scholl-Schule Dinge, die sich verbessern lassen. Hieran wird kontinuierlich von allen gearbeitet. Für die Eltern von Kindern mit Handicap gibt es - neben den allgemeinen Schulgremien - ein Forum, wo Fragen und Verbesserungsvorschläge vorgetragen werden können.

Rückblickend können wir als Eltern sagen, dass der gemeinsame Unterricht für alle ein Gewinn ist - in erster Linie natürlich für unser Kind. Wir würden heute wieder so entscheiden.


Simone Kreuter, Mitglied im Bundeselternrat der Lebenshilfe


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Quelle:
Lebenshilfe Zeitung, Nr. 1/2011, 32. Jg., März 2011, S. 5
Herausgeber: Bundesvereinigung Lebenshilfe
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Mai 2011