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BILDUNG/319: LERNEN FÖRDERN - Ein gelungenes Modell für Kinder mit Lernbehinderungen (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 3/2011

INKLUSIVE BILDUNGSWEGE
Ein gelungenes Modell für Kinder mit Lernbehinderungen

von Mechthild Ziegler


"Immer strenge ich mich an und dann waren die anderen Kinder doch wieder besser und schneller als ich." Diese und ähnliche Aussagen von Kindern mit Lernbehinderungen an allgemeinen Schulen sind den Eltern im Verband LERNEN FÖRDERN bestens bekannt. Misserfolgserlebnisse gehören zum Schulalltag ihrer Kinder. Sie sind (oder waren seither?) der Preis dafür, dass Eltern sich Normalität für ihr Kind wünschen. Die UN-Konvention mit ihren Aussagen zu Bildung, dem in Artikel 24 verankerten Recht auf Zugang zu einem inklusiven Schulsystem, wurde von den Eltern im Verband LERNEN FÖRDERN deshalb sehr skeptisch betrachtet.


Förderung, die sich weiterentwickelt

Seit vier Jahrzehnten begleitet LERNEN FÖRDERN die Weiterentwicklung sonderpädagogischer Förderung. Dabei bringen Eltern ihre Vorstellungen in schulische Konzeptionen ein. Fachtagungen bieten eine Plattform zum Erfahrungsaustausch. In gemeinsamer Verantwortung aller Beteiligten konnten so Konzeptionen weiterentwickelt werden, die immer mehr gemeinsamen Unterricht für Kinder mit Lernbehinderungen zulassen.


Bildung, die allen Kindern gerecht wird

Denn Kinder haben ein Recht auf eine qualitativ hochwertige Bildung, die an ihren Kompetenzen ansetzt und ihrem Lern- und Entwicklungsstand gerecht wird. Bildung soll den Kindern deshalb einerseits Teilhabe in der Gemeinschaft ihrer Klasse, ihrer Schule, ihrem Umfeld ermöglichen und andererseits Grundlagen vermitteln. Sie soll zu einem gesicherten Wissenserwerb führen und Handlungskompetenzen ausbilden, die sie zu einem weitgehend selbstbestimmten Leben als Erwachsene befähigen. Schulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen können den Anforderungen an die Bildung lernbehinderter Kinder gerecht werden, ihren Platz in der Gemeinschaft konnten die Kinder seither durch die Kooperation mit schulischen und außerschulischen Partnern finden.


Ein Modell, das Schule macht

Auf der Basis dieses Leitgedankens entstand auch das von LERNEN FÖRDERN unterstützte süddeutsche Modell, welches Kindern mit und ohne Behinderungen gemeinsames Lernen ermöglicht. Renate Vetter-Weber, Schulleiterin der Martinsschule Sindelfingen, und Sabine Mundle, Schulleiterin der Sommerhofen Schule Sindelfingen, haben es gemeinsam entwickelt. Der Sonderpädagoge Klaus Kornmann erklärt dazu:

"Der Gedanke der Inklusion wurde 2009 von der Schulleitung der Martinsschule in das Kollegium der Grundschule Sommerhofen getragen. Wichtige Voraussetzung für die Erarbeitung eines Konzeptes waren Offenheit, Neugierde, 'das Wollen' eines veränderten Arbeitens und eine enge Zusammenarbeit auf beiden Seiten."

Seit dem Schuljahr 2009/2010 gibt es deshalb gemeinsame Klassen in der Klassenstufe 1, seit 2010/2011 in Klasse 1 und 2. Insgesamt werden 14 Kinder mit Behinderung gemeinsam mit Kindern ohne Behinderung unterrichtet. Der Unterricht findet durchgehend gemeinsam statt. Zusätzlich zur Grundschullehrerin unterrichtet zur Hälfte ein Sonderpädagoge in der Klasse. In den beiden 1. Klassen arbeitet in den Stunden ohne Sonderpädagoge eine pädagogische Assistentin mit.


Pädagogik, die individuelle Kompetenzen fördert

Im Schulalltag versuchen die Lehrer der Heterogenität auf möglichst allen Ebenen zu begegnen: Die sozialen Fähigkeiten bilden sich durch das tägliche Miteinander aus. "Einander helfen und sich gegenseitig unterstützen" sowie "sich helfen lassen und Hilfe holen" sind wichtige Lernziele für alle Schüler.

Im fachlichen Bereich wird zieldifferent unterrichtet. Durch offene Unterrichtsformen und durch differenzierte Aufgabenstellungen wird jedes Kind auf seinem individuellen Niveau gefördert. "Die Schüler sollen die Kompetenzen erwerben, die ihren individuellen Fähigkeiten entsprechen. Dabei erweitern sie ihre Fähigkeiten in gemeinsamen Unterrichtsphasen oder durch ihr Interesse am Lernstoff anderer Kinder", so der Sonderpädagoge Kornmann.


Unterrichtsformen, die individuelles Lernen zulassen

Die intensive gemeinsame Vorbereitung des Unterrichts ist die Basis für Erfolg in der Klasse. Inhalte werden für alle Kinder auf ihrem jeweiligen Niveau aufbereitet. Wochenpläne in verschiedenen Lernstufen ermöglichen den Kindern selbstständiges Arbeiten mit Pflicht- und Wahlaufgaben. Offene Unterrichtsformen ermöglichen ein Nebeneinander von unterschiedlichsten Lerninhalten. Jedes Kind kann bei seinen individuellen Aufgaben die Hilfe von beiden Lehrern und auch von anderen Kindern in Anspruch nehmen.

So lernen alle Kinder voneinander, und durch die Doppelbesetzung ergeben sich didaktisch mehr Möglichkeiten. Die gemeinsamen Reflexionen helfen bei der Weiterentwicklung von Unterrichtsqualität und pädagogischen Handlungsmöglichkeiten.


Verschiedenartigkeit, die Gemeinsamkeit hervorbringt

Von Beginn an prägte das Motto "Wir sind alle verschieden" die gemeinsame Schulzeit und schon bald entwickelte sich eine offene und freundliche Atmosphäre in den Klassen. Trotz mancher Konflikte, sind die Kinder zu einer ganz besonders engen Gemeinschaft zusammengewachsen.

Für die Lehrer wird die Herausforderung mit fortschreitender Schulzeit immer größer, die unterschiedlichen Lerninhalte und Ziele des Unterrichts in einer sinnvollen Weise zusammenzuführen. In manchen Bereichen werden Übungshefte mit unterschiedlichen Inhalten bereitgestellt. Die Kinder wissen inzwischen, dass jeder gerade das macht, was er zum Lernen braucht und dass jeder unterschiedliche Stärken und Schwächen hat.


Auswirkung, die weite Kreise ziehen

"Die Eltern erkennen die Arbeit von uns Pädagogen an und schätzen sie. Denn ihnen ist sehr bewusst, dass ihre Kinder in besonderer Weise von zwei Ansprechpartnern profitieren. Ein offener Umgang mit Vorbehalten und Transparenz trägt zudem zur Partnerschaft zwischen Lehrkräften und Eltern bei", berichtet Klaus Kornmann aus dem Alltag.

Diese Art der Arbeit schärft auch den Blick der Lehrer für die Einzigartigkeit jedes einzelnen Kindes. Die Notwendigkeit eines grundsätzlich individualisierenden Unterrichts wird deutlich und verändert damit den Blick auf den Unterricht in allen Klassen.

"Es ist normal verschieden zu sein" wird für alle Kinder dieser Klassen selbstverständlich, denn sie nehmen einander in ihrer Unterschiedlichkeit an und lernen unbefangen und ohne Vorurteile aufeinander zuzugehen, miteinander zu spielen, zu lachen, zu arbeiten, aber auch Konflikte auszutragen und gute Formen des Umgangs miteinander zu finden.


Wege, die zukünftig beschritten werden

"Trotz Schwierigkeiten, denen auf den entsprechenden Ebenen begegnet werden muss, halten wir den Weg unserer beiden Schulen für lohnenswert und möchten ihn in Klasse 3 fortführen und weiterentwickeln. Damit kommen wir dem Ziel einer inklusiven Schulkultur, in der das Menschenrecht auf gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben umgesetzt wird, näher", zieht Klaus Kornmann das Fazit.

LERNEN FÖRDERN wird auch künftig seinen Beitrag zur Weiterentwicklung der Bildung von Kindern mit Lernbehinderungen leisten, ihre Eltern begleiten und sie ermutigen, in der Öffentlichkeit für die Interessen ihrer Kinder einzutreten.


Mechthild Ziegler
Vorsitzende LERNEN FÖRDERN-Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Lernbehinderungen e.V.


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Quelle:
Selbsthilfe 3/2011, S. 30-31
Zeitschrift der BAG SELBSTHILFE
Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung
und ihren Angehörigen e.V.
BAG SELBSTHILFE
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. November 2011