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ETHIK/134: Das ethische Dilemma der späten Schwangerschaftsabbrüche (BEB)


BeB - Informationen, Bundesverband evangelische Behindertenhilfe
Nr. 46, April 2012

Das ethische Dilemma der späten Schwangerschaftsabbrüche

Pränatale Diagnostik: Anlass für eine neue theologisch-ethische Reflexion
Modellprojekt der Fachverbände gestartet

Von Brigitte Huber



Ende 2011 wurde der Gesellschaft durch die Medien ein ethisches Dilemma vor Augen geführt, das schon lange existiert, über das man aber nicht allzu gerne spricht. Es ging um die ethische Frage: Darf ein Ungeborenes in einer späten Phase der Schwangerschaft, in der es bereits außerhalb des Mutterleibes lebensfähig ist, abgetrieben werden? Es ging weiter um die Frage, ob späte Schwangerschaftsabbrüche in evangelischen Krankenhäusern durchgeführt werden dürfen.

Ausgangspunkt des Problems ist die medizinische Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch nach § 218a Abs. 2 StGB, nach dem dieser nicht rechtswidrig ist, "wenn der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann."

Es tauchen gleich mehrere Fragen gleichzeitig auf: Wie lässt sich eine "schwerwiegende Beeinträchtigung" der Schwangeren definieren? Was ist für sie "zumutbar"? Ist die Fortsetzung der Schwangerschaft nach Feststellung einer Beeinträchtigung des Ungeborenen wie etwa dem Downsyndrom oder gar einer schweren Behinderung unzumutbar? Wer hat die Definitionsmacht: der Arzt/die Ärztin? Allein die Schwangere? Nach dem Gesetzestext ist es die individuelle Entscheidung der Schwangeren. Ihr Recht auf Selbstbestimmung steht im Vordergrund, sie allein darf sagen, was ihr zumutbar ist. Danach richten sich Kliniken und Ärzte, die nach positivem Ergebnis pränataler Diagnostik einen Abbruch auch in einer späten Schwangerschaftsperiode durchführen, für den es keine Fristen gibt. Das schließt unter Umständen die Notwendigkeit ein, einen Fetozid durchzuführen, indem der Pränatalmediziner das Leben des Fetus in der Gebärmutter beenden muss, um zu vermeiden, dass das Kind lebend zur Welt kommt (der Fetus gilt ab der 25. Schwangerschaftswoche als prinzipiell lebensfähig).

Es besteht kein Zweifel, dass sich alle Beteiligten in einem kaum erträglichen und kaum lösbaren Konflikt befinden. Da ist zunächst die Schwangere mit ihrem Partner, die sich sehnlichst ein gesundes Kind wünscht und deren körperliche und seelische Gesundheit nun aufgrund des kindlichen Befundes gefährdet ist, der eine - schwere - Behinderung erwarten oder vermuten lässt, mit der sie nicht leben kann. Da ist der Pränataldiagnostiker, der sich mit der Erwartung der Schwangeren konfrontiert sieht, ihr in dieser Notlage beizustehen und ihr die für sie unzumutbare Last zu nehmen.

Ihr Wohl und Wunsch stehen für ihn im Vordergrund, trotzdem fühlt er sich in dieser Situation unter Umständen allein gelassen vom persönlichen Umfeld, den sozialen Hilfsdiensten, aber auch von medizinischen Kollegen. Er hat die Motive der Schwangeren zu prüfen; in vielen Krankenhäusern - in evangelischen ist das meist der Fall - lässt er eine Ethikberatung einberufen und klärt die Schwangere über Ablauf, Risiken und mögliche physische und psychische Auswirkungen des Abbruchs auf. Und schließlich sind da noch die anderen Berufsgruppen (Hebammen, Psychologen, Angehörige der psychosozialen Beratungsstellen, Seelsorger), denen die schwierige Aufgabe zukommt, die Schwangere einfühlsam und vorurteilsfrei in ihrer schweren Entscheidungssituation zu begleiten.

Die Ursachen des Konfliktpotentials liegen einerseits bereits in dem brisanten Angebot der Medizin, die eine umfassende Palette von immer treffsicherer werdenden Verfahren bereithält, mit denen vorgeburtliche Erkrankungen oder Fehlbildungen diagnostiziert werden können, ohne dass jedoch therapeutische Möglichkeiten zur Verfügung stünden. Deshalb stürzt ein positiver Befund die Schwangere und ihren Partner in unlösbare Widersprüche und in eine außerordentlich belastende Entscheidungssituation, auf die sie meist nur mangelhaft vorbereitet sind. Andererseits sind es die weit verbreiteten Ängste vor einem Leben mit einem behinderten Kind, das eine unzumutbare Belastung für das Paar zu sein scheint. "Ein behindertes Kind - das muss doch heute nicht mehr sein!" - so eine weit verbreitete unhinterfragte These. In der Gemeinsamen Erklärung des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz (1989) heißt es: "Die pränatale Diagnostik zieht heute in bestimmten Fällen fast von selbst den Schwangerschaftsabbruch nach sich. Dabei zielt sie faktisch auf die Entscheidung über Leben oder Tod des erwarteten Kindes. Der Schwangerschaftsabbruch erscheint als die geringere Last".


Diskussion über ein unauflösbares Dilemma gefordert

Evangelische Krankenhäuser stellen sich der Konfliktlage und fordern eine Diskussion über die unauflösbare Dilemmasituation heraus und suchen das Gespräch mit der Behindertenhilfe. Landesbischof Ralf Meister von der Hannoverschen Landeskirche dazu: "Wir werden diese Ethik-Debatten früher führen müssen. Vor der Diagnose. ... Wir brauchen solche ethischen Problematisierungen in den Medien". Theologisch betrachtet lassen sich zwei Gegenpole festhalten: Man kann die Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik als Kulturauftrag der modernen Medizin betrachten, die alles tun soll, um Leid zu verhindern; hinter das Dilemma zurückzugehen hieße hinter die moderne Medizin zurückzugehen. Man kann strikt von der Unverfügbarkeit menschlichen Lebens ausgehen, da es von Gott gegeben ist; danach verbieten sich Schwangerschaftsabbrüche generell. Konsequenter Lebensschutz (dafür stehen katholische Kirche und Teile der Protestanten) und die Berufung auf das eigene Gewissen (dazu stehen größere Teile der Protestanten) stehen sich gegenüber. Dazwischen liegt die Möglichkeit eines "moralischen Kompromisses", der die moralische Selbstverpflichtung zum Lebensschutz nicht erzwingen will oder kann und bereit ist, auch die Verantwortung für den Schwangerschaftsabbruch zu übernehmen und schuldig zu werden. Im Kern geht es in der Debatte um die Frage nach dem moralischen Status des Embryos oder Fetus. Ist er bereits Person? Wenn ja, ab welchem Stadium? In der internationalen Bioethikdebatte wird seit einigen Jahren zwischen "vollem Menschsein" (human life) und "menschlichem Leben" (human being) unterschieden. Diese Unterscheidung macht es möglich, dem Embryo oder Fetus den Personstatus abzusprechen und damit über ihn zu verfügen. Disability Mainstreaming, dem sich die evangelische Behindertenhilfe verpflichtet weiß, heißt die Anerkennung des vollen Menschseins in seiner Vielfalt. Sie kann in dieser Frage nicht neutral sein. Die Verhinderung der Existenz von Menschen mit Behinderung ist für sie kein legitimes Ziel der Medizin. Die Medizin wird heute zur Erreichung von gesellschaftlich erwünschten Zielen (Leben ohne Leid, ohne Behinderung) benutzt. Verzicht auf Spätabtreibungen wäre ein klares Signal und heißt eben nicht, Frauen in Not allein zu lassen. Neue diagnostische Methoden, wie die Präimplantationsdiagnostik oder die genetische Untersuchung des mütterlichen Blutes zur Feststellung von Trisomie 21 (und bald auch anderer Trisomien) sind geeignet, die Hemmschwelle zur Selektion von unerwünschten genetischen Dispositionen zu senken. Werdendes Leben wird nur noch mit Vorbehalt angenommen.


Interprofessioneller Dialog auf regionaler Ebene

Um schwangeren Frauen/werdenden Eltern ein verbessertes und umfassendes sowie qualifiziertes Angebot von Beratung und Begleitung im Zusammenhang mit pränataler Diagnostik zu bieten, hat die Evangelische Konferenz für Familien- und Lebensberatung (EKFuL) mit dem BeB und dem Evangelischen Krankenhausverband im September ein dreijähriges Modellprojekt zum Aufbau geregelter interprofessioneller Kooperationsstrukturen zwischen Ärzteschaft, psychosozialer Beratung, Behindertenhilfe und Selbsthilfe begonnen. Anlass für die Durchführung des Modellprojekts bilden im Wesentlichen die neuen gesetzlichen Regelungen, das heißt die Ergänzungen des Schwangerschaftskonfliktgesetzes (1. Januar 2010) und das Gendiagnostikgesetz (1. Februar 2010). Hier hat der Gesetzgeber erstmals die ärztlichen Aufklärungs- und Beratungspflichten für Pränataldiagnostik und Schwangerschaftsabbruch normiert sowie die Förderung und Sicherstellung der Zusammenarbeit von Ärzteschaft, psychosozialer Beratung und Behindertenhilfe sowie der Selbsthilfe vorgesehen. Grundlagen für dieses Modellprojekt wurden in einer von den Verbänden 2009 gemeinsam entwickelten Broschüre "Beratung und Begleitung bei pränataler Diagnostik. Empfehlungen an evangelische Dienste und Einrichtungen für eine geregelte Kooperation" formuliert. Das Besondere an diesem durch die Aktion Mensch geförderte Modellprojekt ist, dass die Partner als vorrangiges Ziel einen strukturierten Diskurs zu Fragen der Kooperation, Konzeption und zur ethischen Haltung initiieren und gestalten. Ein Schwerpunkt hierbei ist zum einen der interprofessionelle Dialog auf regionaler Ebene mit Fachkräften evangelischer Dienste und Einrichtungen am Modellstandort Detmold/Bielefeld-Bethel zum Aufbau geregelter Kooperationsstrukturen vor Ort. Darüber hinaus wird eine geregelte Zusammenarbeit zu weiteren Einrichtungen und Berufsgruppen in der Modellregion wie den nicht konfessionell gebundenen niedergelassenen Ärzten/Ärztinnen und Hebammen angestrebt. Außerdem hat sich auf verbandspolitischer Ebene eine Arbeitsgruppe zum Thema "Leitlinien und Beratungskonzeptionen" konstituiert.


Brigitte Huber
b.huber-beb@gmx.de


Die Broschüre "Beratung und Begleitung bei pränataler Diagnostik. Empfehlungen an evangelische Dienste und Einrichtungen für eine geregelte Kooperation" ist kostenlos zu beziehen unter:
http://www.beb-ev.de/shop2/

Lesen Sie hierzu auch den Artikel über den Fachtag des Modellprojekts "Interprofessionelle Kooperation bei Pränataldiagnostik" auf Seite 24.


Neue theologisch-ethische Reflexion

Anfang März 2012 macht ein Aufsatz zweier Wissenschaftler im renommierten internationalen Journal of Medical Ethics auf sich aufmerksam, in dem sie die Auffassung vertreten, dass unter bestimmten Umständen Neugeborene nach der Geburt getötet werden können. Ganz nach den Vorstellungen Peter Singers wird hier die "nachgeburtliche" Abtreibung empfohlen - eine originelle Formulierung für das, was man einst "Kindereuthanasie" nannte. Da weder der Fetus noch das Neugeborene denselben moralischen Status hätten wie eine aktuelle Person, könne man sie auch "verwerfen". Dass sie "potentiell" Person sind, ist moralisch irrelevant - so die These der Autoren.

Die mit den sich immer mehr ausweitenden diagnostischen Möglichkeiten der modernen Medizin entstandenen ethischen Dilemmata sollten Anlass für eine neue theologisch-ethische Reflexion sein. Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (2006) sowie das Dokument "Kirche Aller. Eine Vorläufige Erklärung" (2003) des Ökumenischen Rates der Kirchen ebenso wie das Wort der Deutschen Bischöfe "unBehindert Leben und Glauben teilen" (2003) bieten eine gute Orientierung. "Menschsein bedeutet, ein Leben führen, das von der guten Gabe der göttlichen Schöpfung, aber auch von der Gebrochenheit geprägt ist, die zum menschlichen Leben gehört." (ÖRK-Dokument, Artikel 20).

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Quelle:
Verbands-Informationen, Nr. 46, April 2012, S. 10-11
Mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers:
Bundesverband Evangelische Behindertenhilfe e.V. (BEB)
- Fachverband des Diakonischen Werkes der EKD,
Altensteinstraße 51, 141195 Berlin
Postfach 330220, 14172 Berlin
Tel.: 030/83 001-270, Fax: 030/83 001-275
E-Mail: info@beb-ev.de
Internet: www.beb-ev.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. April 2012