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GESCHICHTE/024: Friedrich von Bodelschwingh - ein "weißer Revolutionär" (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel - April 2010

Friedrich von Bodelschwingh - ein "weißer Revolutionär"


Am 2. April 1910 starb Friedrich von Bodelschwingh d. Ä. in Bethel im Alter von 79 Jahren. Er hatte seit 1872 als Anstaltsleiter die Geschicke Bethels geleitet. Über den prägenden Gestalter der heutigen v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel hat der Historiker Prof. Dr. Hans Walter Schmuhl einen Beitrag in der Märzausgabe der evangelischen Monatszeitschrift Zeitzeichen veröffentlicht. DER RING druckt den Artikel leicht gekürzt ab:

Friedrich von Bodelschwingh gehört nicht eigentlich zu den Gründervätern der evangelischen Diakonie, aber er hat ihr wie kaum ein anderer seinen Stempel aufgeprägt. Man kann ihn als einen "weißen Revolutionär" bezeichnen, der sich in dem Bemühen, die zerstörerischen Folgen des Fortschritts aufzufangen, moderner Mittel und Möglichkeiten bediente und so zum Wegbereiter einer Moderne mit menschlichem Antlitz wurde.

Es gab kaum einen unwahrscheinlicheren Kandidaten für die Rolle des "weißen Revolutionärs" als Friedrich von Bodelschwingh. Er stammte aus einem alten westfälischen Adelsgeschlecht. Der Vater wurde 1842 als Minister nach Berlin berufen. Als Gymnasiast bewegte sich Bodelschwingh daher in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen und wurde sogar als Spielgefährte des Kronprinzen Friedrich Wilhelm ausgewählt, der später als 99-Tage-Kaiser Friedrich III. in die Geschichte einging.

Am Ende der Jugendzeit Friedrich von Bodelschwinghs stand das Fanal der Revolution von 1848, die der Siebzehnjährige in ihrem Brennpunkt Berlin aus nächster Nähe miterlebte. Nach dem Abitur erlernte er den Beruf eines Gutsverwalters, für einen Adligen, der nicht darauf hoffen konnte, Land zu erben, ein standesgemäßer Beruf. In Gramenz in Hinterpommern, wo er nach abgeschlossener Ausbildung ein Gut verwaltete, wurde Bodelschwingh mit dem Elend der Landarbeiter konfrontiert und nahm sich ihrer in patriarchalischer Fürsorglichkeit an. 1854 fiel die Entscheidung für das Theologiestudium. Sieben Semester lang studierte er in Basel, Erlangen und Berlin, wobei sich rasch zeigte, dass die theologische Wissenschaft seine Sache nicht war - ihm ging es vor allem darum, die im Elternhaus eingeübte erweckliche Frömmigkeit zu vertiefen.

Seinen ursprünglichen Plan, als Missionar nach Indien zu gehen, gab Bodelschwingh auf, stattdessen übernahm er 1858 das Amt eines Predigers der Evangelischen Gemeinde Augsburger Konfession in Paris. In der französischen Hauptstadt lebten um die Mitte des 19. Jahrhunderts etwa 60.000 bis 80.000 Deutsche, vor allem aus der Pfalz und Hessen-Darmstadt, die in der überwiegenden Mehrzahl zu den Ärmsten der Armen gehörten. Bodelschwingh organisierte einen deutschen Schulunterricht, hielt Gottesdienste, besuchte die Kranken, half, die allgemeine Not zu lindern. Auf einer alten Abraumhalde - la colline verte, das grüne Hügelchen genannt - schuf Bodelschwingh eine kleine christliche Kolonie für deutsche Emigranten mit einer Kirche, einer Schule und einer Arbeitersiedlung - sie wurde zum Vorbild für alle folgenden Gemeindegründungen Bodelschwinghs.

1864 wechselte er als Gemeindepastor nach Dellwig bei Unna. 1869 wurden Friedrich und Ida von Bodelschwingh von einem schweren Schicksalsschlag heimgesucht, als ihre vier Kinder binnen zwei Wochen an Stickhusten starben. Das Leiden der Kinder spiegelte für Bodelschwingh das Leiden Jesu wider - daraus folgte ein heilsames Erschrecken über die eigene Sündhaftigkeit, das in die Buße, die Beugung und Brechung des Eigenwillens, die völlige Unterwerfung unter den Willen Gottes mündete. Zugleich meinte Bodelschwingh in dem schweren Leiden der sterbenden Kinder ein umgekehrtes Spiegelbild der unermesslichen Gnade Gottes und der Kraft der Vergebung der Sünden zu erkennen. In seinem Artikel "Von dem Leben und Sterben vier seliger Kinder", den er kurze Zeit später veröffentlichte, machte er den Tod der eigenen Kinder zu einem öffentlichen Ereignis - als Vorbild für ein "gelungenes" Sterben, das es "zu erlernen" gelte. Bodelschwinghs Sterbefrömmigkeit ist mehr als ein befremdliches Kuriosum. Sie war die treibende Kraft seines Handelns.

1872 folgte Bodelschwingh einem Ruf aus Bielefeld und übernahm die Leitung der 1867 gegründeten "Evangelischen Heil- und Pflegeanstalt für Epileptische Rheinlands und Westfalens" und des 1869 ins Leben gerufenen Bielefelder Diakonissenhauses. Bodelschwingh war mithin nicht, wie immer wieder irrtümlich behauptet wird, der Gründer dieser beiden Einrichtungen. Seine Berufung bedeutete jedoch einen Wendepunkt in ihrer Entwicklung. Das neue, 1873 fertig gestellte Pflegehaus für "Epileptiker" - auf Bodelschwinghs Anregung hin erhielt es den Namen "Bethel", der später auf die ganze Ortschaft überging - sollte ursprünglich nicht mehr als 150 Kranke aufnehmen. Bei Bodelschwinghs Tod im Jahre 1910 war daraus jedoch eine Kleinstadt von über 4.000 Einwohnern mit dem Status einer selbstständigen Kirchen- und Ortsgemeinde entstanden. In mehreren Dutzend Pflege- und Krankenanstalten wurden über 2.000 "Pfleglinge" betreut. Etwa 1.250 Diakonissen und 450 Diakone aus zwei Mutterhäusern, der Diakonissenanstalt Sarepta und der Diakonenanstalt Nazareth, die ebenfalls am Ort ihren Sitz hatten, taten in Bethel - und weit darüber hinaus - Dienst.

Die Anstaltsortschaft verfügte über Handwerksbetriebe, ein Kaufhaus, eine Kirche, einen Friedhof, Schulen, Ausbildungsstätten für angehende Pastoren und war Sitz der Evangelischen Missionsgesellschaft für Deutsch-Ostafrika. Hinzu kamen Zweiganstalten in der Senne und im Diepholzer Moor, außerdem die Hoffnungstaler Anstalten in Lobetal bei Berlin. Die Arbeitsfelder hatten sich seit den Anfängen enorm ausgeweitet und aufgefächert. Zu der Arbeit mit Epilepsiekranken waren in rascher Folge die Fürsorge für psychisch Kranke, Alkoholkranke, Nervöse und Neurastheniker, Menschen mit geistiger Behinderung und Tuberkulosekranke hinzugekommen. Mit der Wandererfürsorge - 1882 hatte Bodelschwingh in der Senne die Arbeiterkolonie Wilhelmsdorf gegründet, die erste Einrichtung dieser Art in Deutschland - war ein völlig neuartiges Arbeitsfeld eröffnet worden. 1899 hatten die Anstalten schließlich auch Aufgaben im Bereich der Fürsorgeerziehung übernommen.


Erstaunliche Expansion

Dieser erstaunliche Expansionsprozess muss vor dem Hintergrund des beschleunigten wirtschaftlichen und sozialen Wandels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts betrachtet werden. Industrialisierung, Binnenwanderung und Verstädterung führten vermehrt zur Aussonderung von Menschen, die aufgrund von Krankheit, Behinderung oder sozialer Ausgrenzung dem Konkurrenzdruck der modernen Gesellschaft nicht gewachsen waren. Der erst im Entstehen begriffene Sozialstaat war von dieser Zusammenballung von sozialen Problemlagen ebenso überfordert wie die überkommenen Netzwerke der Familie, Nachbarschaft, Gemeinde oder Stadt. Neue Lösungen mussten gefunden werden.

Bodelschwingh stellte sich der Herausforderung der Moderne - der er mit tiefer Skepsis gegenüberstand. Bethel verstand sich jahrzehntelang als christlicher Gegenentwurf zur modernen Welt. Die "Stadt auf dem Berge" sollte beispielhaft vor Augen führen, wie eine Gesellschaft aussehen könnte, in der die Kräfte der Inneren Mission die Entchristlichung überwunden und Familie, Kirche und politisches Gemeinwesen wieder mit dem Geist des Evangeliums durchdrungen hatten.


Weichen gestellt

Wäre das alles gewesen, dann wären Leben und Werk Friedrich von Bodelschwinghs heute wohl kaum mehr als eine Fußnote der Geschichte, ein Kuriosum, das irgendwo im Dunstkreis von Freikirche, Sekte und Lebensreformbewegung einzuordnen wäre. Stattdessen ist aus Bodelschwinghs Lebenswerk das größte diakonische Unternehmen Europas geworden. Mehr noch: Bodelschwinghs Werk hat entscheidend dazu beigetragen, dass die evangelische Diakonie schon in den 1920er-Jahren einen festen Platz im Weimarer Wohlfahrtsstaat fand und nach 1945 zu einem Eckpfeiler des bundesdeutschen Sozialstaats geworden ist - vielleicht einer der wenigen Pfeiler im System sozialer Sicherung, die bei dem in unserer Zeit sich abzeichnenden grundlegenden Ab- und Umbau des Sozialstaates Bestand haben werden.

Bodelschwingh hat diese Entwicklung noch nicht absehen können, und doch hat er die Weichen dazu gestellt. Er war dynamisch, energisch, risikobereit, kreativ, mit wachem Gespür für unkonventionelle Lösungen. Friedrich von Bodelschwingh war nicht nur eine charismatische Persönlichkeit, er war auch als Manager und Fundraiser ein Naturtalent. Entscheidend dafür dass er immer wieder zu überraschenden, mit überkommenen Normen und Formen brechenden, zukunftweisenden Wendungen fähig war, war jedoch etwas anderes: Er konnte nicht wegschauen. Buchstäblich bis in seine letzten Lebenstage hinein hat er sich von der Begegnung mit menschlichem Elend existenziell anrühren lassen, ob es sich nun um pommersche Landarbeiter, hessische Straßenkinder in Paris, Epilepsiekranke, Wanderarme oder hungernde Afrikaner handelte. Wurde sein Blick auf eine soziale Notlage gelenkt, konnte er nicht anders, als sofort mit äußerster Entschlossenheit zu handeln. Alles andere - Konventionen und Doktrinen, auch Staatsräson und kirchliche Ordnung - hatte dahinter zurückzustehen. Diese Leidenschaft befähigte Bodelschwingh zum Querdenken, zur flexiblen Reaktion auf die Zeitverhältnisse. Das macht seine bleibende Größe aus.


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Quelle:
DER RING, April 2010, S. 5-7
Monatszeitschrift für Mitarbeiter, Bewohner, Freunde
und Förderer der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Redaktion: Quellenhofweg 25, 33617 Bielefeld
Telefon: 0521/144-35 12, Fax: 0521/144-22 74
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Mai 2010