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FRAGEN/157: Persönliches Budget für Arbeit - Schritt für Schritt geht es voran (LHZ)


Lebenshilfe Zeitung, Nr. 2 - Juni 2009

Schritt für Schritt geht es voran

Eine Mutter berichtet im Gespräch mit der LHZ über ihre Erfahrungen mit dem Persönlichen Budget für Arbeit


Dorothea Spieß hat das Down-Syndrom und macht ihre Ausbildung in einem Lebensmittelmarkt. Sie erhält in dieser Zeit ein Persönliches Budget, das vom Arbeitsamt bezahlt wird. Darüber haben wir schon im Magazin vom September 2008 berichtet. Hier erzählt nun Ulrike Spieß, die Mutter von Dorothea, wie alles gekommen ist.


Frage: Frau Spieß, warum geht ihre Tochter nicht in die Werkstatt für behinderte Menschen?

Ulrike Spieß: Dorothea hat während und vor allem nach ihrer Schulzeit verschiedene Praktika gemacht, um herauszufinden, welcher Arbeitsbereich ihr am meisten liegt und gefällt. Sie war beispielsweise im Kindergarten, in einer Bäckerei und im Wäschebereich eines Altersheims. Am besten gefiel es Dorothea im Rewe-Markt. Die Arbeit dort war abwechslungsreich. Sie hatte gelernt, selbständig Salate zu machen. Die Marktleiterin förderte sie sehr und war auch damit einverstanden, dass Dorothea ein weiteres längeres Praktikum im Markt machte, um sich ihrer Wahl zu vergewissern.

Nach der Teilnahme an einer Tagung zum Thema "An die Arbeit! Junge Menschen mit Behinderungen suchen Wege in den ersten Arbeitsmarkt" - veranstaltet von der Bundesarbeitsgemeinschaft Gemeinsam leben - gemeinsam lernen - schien uns das "Persönliche Budget für Arbeit" eine Lösung zu sein. Da wir aber kein Beispiel aus der Praxis kannten (vielleicht gab es auch bis dahin keines), verging noch mehr als ein ganzes Jahr mit unzähligen Telefonaten, Terminen mit Behörden, Gesprächsrunden, der Suche nach einem Träger und einer Lösung für die Sozialversicherungen bis es soweit war.

Frage: Sind Sie zufrieden mit dem, was Ihre Tochter lernt?

Ulrike Spieß: Ja - vor allem von ihrer Chefin wird Dorothea viel zugetraut. Das ist ein Ansporn für sie. Gemeinsam mit der Marktleiterin, dem Integrationsfachdienst und InDiPro (Deutsch-Israelischer-Verein) wurde ein Konzept für einen betrieblichen Berufsbildungsbereich erstellt. Seine Ziele ergeben sich aus den Möglichkeiten und Wünschen von Dorothea und den Anforderungen des Rewe-Marktes.

Alle sechs Monate wird überprüft, welche Lernziele erreicht sind. Diesen Bericht erhält die Arbeitsagentur, die das Persönliche Budget bezahlt.

Vor kurzem wechselte meine Tochter vorübergehend für einige Wochen in einen Dorfladen, der von der Neue Arbeit Marburg GmbH betrieben wird - ein Integrationsbetrieb für Benachteiligte am Arbeitsmarkt. Sie wird in den Rewe-Markt zurückgehen, hat aber hier die Möglichkeit, das bisher Gelernte in einer neuen Umgebung, in etwas anderen Strukturen und mit anderen Mitarbeitern umzusetzen. Das hat geklappt.

Frage: Wird sie damit nach der Ausbildung eine Stelle ausfüllen können?

Ulrike Spieß: Wahrscheinlich keine ganze Stelle. Im Laden arbeitet sie jetzt auch nur vormittags. Zu ihrem Arbeitsplan gehören zurzeit noch ein Mobilitäts- und ein Computertraining und Motologie am Nachmittag. Vieles kann sie selbständig machen, aber es muss ein Ansprechpartner da sein.

Frage: Wie sind die Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen - während der Arbeit und danach?

Ulrike Spieß: Das Arbeitsklima ist sehr positiv. Die Kolleginnen gehen auf Dorothea zu und helfen, wenn es nötig ist. Auf eigenen Wunsch arbeitet Dorothea regelmäßig zusammen mit einem anderen Auszubildenden im Büro des Rewe-Marktes am Computer, um Etiketten zu drucken. Außerhalb der Arbeitszeit gibt es aus verschiedenen Gründen kaum Kontakte. Viele Kolleginnen sind Teilzeitkräfte mit Familie und haben keine Zeit. Im Dorfladen arbeiten eher "Gleichbetroffene". Mit einer dieser Kolleginnen hat sie zusammen an einer Freizeit teilgenommen. Spätestens seit Dorothea im Rewe-Markt arbeitet, zeigt sich, wie wichtig es ist, dass sie als Ausgleich zu ihrem Arbeitsumfeld in der Freizeit möglichst oft mit "Gleichbetroffenen" und Gleichaltrigen zusammen ist. Wir arbeiten daran. Sie nimmt am Freizeitprogramm des Vereins zur Förderung der Integration Behinderter (fib) teil, tanzt und hat bis vor kurzem in einem Gospelchor mitgesungen.

Frage: Was genau wird aus dem Persönlichen Budget jetzt finanziert?

Ulrike Spieß: Finanziert werden die Kosten für die Arbeitsassistenz, für ein Mobilitätstraining und für das Erlernen des Umgangs mit Handy und Computer. Auch die Sozialversicherungen für Dorothea (Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung) bezahlt die Agentur für Arbeit.

Frage: Wird es auch nach der Ausbildung mit dem Persönlichen Budget weitergehen?

Ulrike Spieß: Das hoffen wir. Unsere Erfahrung bisher hat gezeigt, dass es nur Schritt für Schritt voran geht. Langfristige Pläne sind nicht möglich. Gerade beim Persönlichen Budget für Arbeit gibt es bisher wenig Erfahrung und gesetzliche Vorgaben. In einem halben Jahr kann vieles schon wieder anders sein als heute. Bis jetzt fand sich immer ein Weg, was aber mit einem großen Einsatz und hohem Zeitaufwand der Eltern verbunden war. Wenn wir nur den Antrag gestellt und alles Weitere den Behörden überlassen hätten, wäre dieses Ergebnis nicht herausgekommen. Wir werden uns zusammen mit Personen und Organisationen, die uns bisher geholfen haben, wieder darum bemühen, dass es weitergehen kann.

Frage: Welche Probleme sind aus Ihrer Sicht noch zu lösen?

Ulrike Spieß: Unser Hauptproblem: Was passiert, wenn Dorothea die Übernahme in ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis nicht erreicht? Bleibt dann als einziger Weg nur die Werkstatt? Oder finden wir eine Möglichkeit, wie eine unterstützte Beschäftigung weiter finanziert werden kann? Wenn mehr Selbstbestimmung angestrebt wird, dann muss es möglich gemacht werden, dass der Betroffene sich je nach Interesse bzw. Befindlichkeit zwischen der Werkstatt oder einer unterstützten Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt entscheiden kann - und das nicht begrenzt für zwei Jahre Ausbildung, sondern für ein Arbeitsleben.

Frage: Was wünschen Sie sich von Ämtern, Gesetzgebung, Verbänden?

Ulrike Spieß: Von den Ämtern wünschen wir uns besonders, dass sie mehr von den Kunden aus denken. Wir haben Ansprechpartner erlebt, die sich sehr engagiert haben und mit denen wir viel erreicht haben. Bei anderen aber waren wir uns nicht sicher, ob sie unser Anliegen - den Antrag auf Persönliches Budget - einfach nur verschleppen oder die Hürden so hoch errichten wollten, dass wir aufgeben würden.

Von der Gesetzgebung wünschen wir uns, dass sie möglichst bald einen gesetzlichen Rahmen schafft, der die Wahl zwischen der Arbeit in einer Werkstatt und einer unterstützten Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ohne zeitliche oder finanzielle Einschränkung möglicht macht.

Frage: Ihre Tipps für andere Eltern?

Ulrike Spieß: Gerade Eltern behinderter Kinder stehen in der Gefahr, zu viele Schonräume für ihre Kinder zu errichten. Wir sollten so viel Normalität wie möglich anstreben und könnten unseren Kindern oft mehr zutrauen als wir es tun.

Deshalb sollten wir zusammen mit Gleichgesinnten Neues wagen. Je mehr Betroffene sich etwa für diesen Weg des Persönlichen Budgets entscheiden, desto "normaler" wird er. Als einen gedanklichen Anstoß dazu möchte ich noch einen Ausspruch von Robert Kennedy zitieren: "Viele sehen die Dinge wie sie sind und fragen, warum. Ich träume von Dingen, die es niemals gab, und frage, warum eigentlich nicht." (Das Gespräch führte Gertrud Genvo.)

Die Fragen stellte Gertrud Genvo.


Umfangreiches Material zum Persönlichen Budget sind auf einer neuen Webseite der Bundesvereinigung Lebenshilfe unter www.pb-lebenshilfe.de zu finden. Damit soll die Beratungsarbeit vor Ort unterstützt werden: Es gibt zum einen Basisinformationen zum Persönlichen Budget, zum anderen Informationen für Budgetmehmer, Angehörige oder Mitarbeiter in Einrichtungen. Sie finden auf der Webseite auch Mustervereinbarungen, Praxisbeispiele und Erfahrungsberichte.


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Quelle:
Lebenshilfe Zeitung, Nr. 2/2009, 30. Jg., Juni 2009, S. 15
Herausgeber: Bundesvereinigung Lebenshilfe
für Menschen mit geistiger Behinderung
Bundesgeschäftsstelle, Raiffeisenstr. 18, 35043 Marburg
Telefon: 06421/491-0, Fax: 06421/491-167
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Internet: www.lebenshilfe.de

Die Lebenshilfe-Zeitung mit Magazin erscheint
jährlich viermal (März, Juni, September, Dezember).


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juli 2009