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FRAGEN/162: Hubert Hüppe über sein neues Amt als Behindertenbeauftragter (LHZ)


Lebenshilfe Zeitung, Nr. 1 - März 2010

DAS INTERVIEW
Das ist mein Traumberuf

Hubert Hüppe über sein neues Amt als Behindertenbeauftragter


Hubert Hüppe (53) aus Werne (Nordrhein-Westfalen) ist der neue Beauftragte der Budesregierung für die Belange behinderter Menschen. Vorher war er Bundestagsabgeordneter und fast sieben Jahre lang behindertenpolitische Sprecher der Unionsfraktion. Bei den Wahlen 2009 schaffte er nicht mehr den Sprung in den Bundestag. Hüppe ist Vater eines behinderten Sohnes und seit 2005 kooptiertes Mitglied im Bundesvorstand der Lebenshilfe.


Frage: Ist für Sie mit der Ernennung zum Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen ein Traum in Erfüllung gegangen?

HUBERT HÜPPE: Das ist in der Tat mein Traumberuf. Wobei "Beruf" ist vielleicht das falsche Wort, da der Beauftragte ein Ehrenamt ist. Es ist eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, vor der ich großen Respekt habe.

FRAGE: Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ist seit 2009 deutsches Recht. Laut Koalitionsvertrag will die Bundesregierung das internationale Übereinkommen zum Maßstab ihres Handelns machen. Verlassen Sie sich darauf?

HUBERT HÜPPE: Ich habe ein gewisses Wächteramt und werde deshalb darauf achten, dass jedes Ministerium die UN-Konvention im Blick behält. Nicht bei jedem Gesetz liegt das gleich auf der Hand. So bat mich bei der Reform des Telekommunikationsgesetz ein gehörloser Mensch, an den Anspruch auf Gehörlosentelefone zu denken. Ich wusste damals gar nicht, dass das auf der Tagesordnung stand. Deswegen ist es für mich so wichtig, mit den Betroffenen, den Verbänden und Angehörigen vernetzt zu sein. Sie weisen mich auf Fehler oder Versäumnisse in der Politik hin, und ich versuche dann, ihre berechtigten Interessen durchzusetzen.

FRAGE: Hand aufs Herz: Wie viel Einfluss haben Sie aufs Bundeskabinett? Treffen Sie sich regelmäßig zum Gespräch mit der Kanzlerin?

HUBERT HÜPPE: Das kann ich noch nicht abschließend beurteilen. Ich werde natürlich um mein Revier kämpfen und mir Gehör verschaffen. Ich kann kritisieren, und ich kann loben. Mir ist zwar keine Gesetzeskraft gegeben, ich kann auch kein Veto einlegen und darf nicht mehr wie früher als Abgeordneter im Bundestag reden. Dafür bin ich keiner Kabinettsdisziplin, keinem Fraktionszwang unterworfen. Ich habe mehr Freiheit.

Was die Kanzlerin betrifft, so kann ich sagen, dass Sie ein Gespür für Menschen mit Behinderung hat. Sie war ja auch beim Fest zu 50 Jahre Lebenshilfe in der Berliner Kulturbrauerei dabei. Ein Gespräch habe ich jedoch noch nicht mit ihr vereinbart. Ich werde auf sie zugehen, wenn es ein Problem zu lösen gilt.

FRAGE: Gibt es ein Land auf dieser Welt, das dem Ideal der UN-Konvention schon sehr nahe kommt und Vorbild für Deutschland sein könnte?

HUBERT HÜPPE: Bei dem gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Schülern sind viele Länder schon wesentlich weiter und beim Persönlichen Budget kann Schweden ein Vorbild sein. Aber, bei aller Kritik am einrichtungsgeprägten Deutschland, wir haben auch hier zumindest nach den Gesetzen schon einen hohen Standard erreicht. Das Problem ist mehr die Umsetzung. Oft werden die Betroffenen von einer Stelle zur anderen geschickt oder es werden Anträge abgewiesen, obwohl ein Anspruch besteht. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sogar manche Behörden darauf spekulieren, dass die Menschen aufgeben. Ich teile auf jeden Fall nicht die Meinung derer, die behaupten, die UN-Konvention werde bereits von Deutschland erfüllt. Im Laufe meiner Amtszeit werde ich bestimmt den einen oder anderen Blick über den Tellerrand werfen und bin schon sehr gespannt auf den Weltkongress Inclusion International in Berlin, der von der Lebenshilfe mit vorbereitet wird.

FRAGE: Wie müssen sich Einrichtungen der Behindertenhilfe im Sinne der Konvention weiterentwickeln?

HUBERT HÜPPE: Jede Einrichtung sollte sich selbstkritisch überprüfen, jeder Mitarbeiter sich hinterfragen. Die Einrichtung ist für die Menschen da, nicht umgekehrt. Die UN-Konvention hat eine enorme Kraft entwickelt. Damit hatte ich selbst gar nicht gerechnet. Jetzt erlebe ich, wie Betroffene dank der Konvention viel selbstbewusster auftreten. Natürlich können wir nicht von heute auf morgen alle Menschen mit Behinderung "zwangsevakuieren" und dann sagen: "Die Inklusion ist umgesetzt." Aber die Einrichtungen müssen sich bewegen. Keine Frage. Schon heute gibt es nicht wenige, die sich auf den Weg gemacht haben. Die anderen werden folgen müssen oder sich am Markt nicht mehr behaupten können.

Die Lebenshilfe Gießen zeigt mit ihrer Sophie-Scholl-Schule, dass man Schulen für gemeinsames Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung öffnen kann. Trotzdem gibt es im Verband kritische Stimmen zur "Schule für alle". Ich nehme diese Menschen und ihren Standpunkt ernst. Sie mahnen ein System an, in dem die besonderen Bedürfnisse ihrer Kinder tatsächlich berücksichtigt werden. Sie sehen Schulen, in denen Integration lediglich als größtmögliche Anpassung der Kinder mit Behinderung realisiert wird. Ich möchte mit diesen Menschen ins Gespräch kommen und sie davon überzeugen, dass Inklusion etwas anderes meint. Wir wollen mit der Inklusion die erfolgreiche Arbeit der Lebenshilfe-Gründergeneration fortsetzen, die die Kinder überhaupt erst in die Schulen geholt hat. Die jungen Eltern heute können darauf bereits aufbauen.

FRAGE: Nach einem von "Gemeinsam leben, gemeinsam lernen" und dem Sozialverband Deutschland in Auftrag gegebenen Rechtsgutachten wären die Bundesländer aufgrund der Konvention verpflichtet, die "Schule für alle" umgehend und flächendeckend einzuführen. Ist das zu schaffen?

HUBERT HÜPPE: Dass Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam aufwachsen, dieselbe Krippe, denselben Kindergarten und dieselbe Schule besuchen, ist Voraussetzung dafür, dass behinderte Menschen auch als Erwachsene am Leben in der Gesellschaft teilhaben können. Solange wir getrennt voneinander leben, bleiben wir uns fremd. Die Frage ist also nicht ob, sondern wie das zu schaffen ist. Wir müssen das Rad aber nicht neu erfinden: Ob in Kanada, Skandinavien, Tirol oder auch bei uns in Deutschland, Konzepte und Vorbilder gibt es genug.

FRAGE: Sie sind dreifacher Vater. Ihr jüngster Sohn hat Spina bifida. Wie bringen Sie Familienleben und Politik unter einen Hut?

HUBERT HÜPPE: Ich vermisse meine Familie sehr, wenn ich in Berlin oder auf Dienstreise bin. Und natürlich ist die Zeit immer knapp. Ohne meine Frau, die zu Hause alles managt, könnte ich so nicht leben. Sie war dabei selbst immer ehrenamtlich, heute vor allem behindertenpolitisch tätig. Dafür verbringe ich die Zeit, die ich zu Hause bin, sehr intensiv mit meiner Familie. Kinder brauchen Aufmerksamkeit und Unterstützung. Ich kann aber dabei nicht sagen, dass unser Sohn mit Behinderung uns mehr Sorgen macht als seine nicht behinderten Geschwister. Mittlerweile sind die Zwillinge 18 und der Jüngste 15, so dass auch wieder mehr Freiräume da sind.

FRAGE: Bürokratische Hürden kennen Sie aus eigener Erfahrung. Was werden Sie unternehmen, damit Familien mit behinderten Angehörigen zügig und problemlos ihre rechtmäßigen Leistungen erhalten und nicht erst vor Gericht darum kämpfen müssen?

HUBERT HÜPPE: Tatsächlich ist es oft so, dass der Anspruch berechtigt ist, aber nicht leicht, die Leistung dann auch zu bekommen. Ich habe vor, das Dickicht zu durchforsten. Am besten wäre, es läge alles in einer Hand. Wir haben ja bereits die Servicestellen, die jedoch kaum einer kennt, weil sie mal in der einen, mal in der anderen Behörde vor sich hin dümpeln. Ich würde mir wünschen, alle beteiligten Kostenträger gäben von ihren Budgets für Beratung einen gewissen Prozentsatz in einen Topf, und mit diesem Geld könnte man einheitliche Servicestellen mit gut geschultem Personal aufbauen.

FRAGE: Wie groß ist angesichts der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise der Spielraum für eine innovative Behindertenpolitik, für eine Reform der Eingliederungshilfe, ein vom Bund finanziertes Teilhabegeld?

HUBERT HÜPPE: UN-Konvention und Reformen müssen nicht teurer sein. Im Moment liegen keine Zahlen vor, die dies belegen. Auch kann Geld an vielen Stellen sinnvoll umgeschichtet werden. In meinem Heimatkreis beispielsweise werden Kinder aus allen zehn Städten in einen Sonderkindergarten transportiert.

Ganz wichtig ist mir, dass ältere Menschen mit geistiger Behinderung in der Eingliederungshilfe bleiben und nicht in reine Pflegeeinrichtungen kommen.

Auch darf der Anspruch auf Nachteilsausgleich nicht einkommensabhängig sein. Das Kindergeld wird ja auch vermögensunabhängig gezahlt. Das würde viel Bürokratie einsparen und wirkt nicht leistungshemmend. Ein solches Teilhabegeld kann jetzt aber nicht einfach der Bund übernehmen.

FRAGE: Sie bezeichnen die Einführung der Unterstützten Beschäftigung (UB) als Verbesserung des Einstiegs ins Arbeitsleben. Es ist jedoch unklar, ob behinderte Frauen und Männer, die vor dem neuen Gesetz in eine Werkstatt aufgenommen wurden, in den Genuss der UB kommen dürfen. Können Sie da etwas tun?

HUBERT HÜPPE: Grundsätzlich wollen wir auch bei Thema Arbeit mehr gemeinsame Lebenswelten schaffen. Deswegen habe ich mich für die rechtliche Absicherung von Außenarbeitsplätzen eingesetzt. Nach dem Gesetz sollte die Unterstützte Beschäftigung auch für schon bisherige Werkstattangehörige gelten. Sollten da Probleme sein, werde ich das prüfen. Darüber hinaus setze ich mich für ein Persönliches Budget für Arbeit und einen Kombi-Lohn für Menschen mit Behinderung ein.

FRAGE: Die Politik sieht im Persönlichen Budget den Königsweg zum selbstbestimmten Leben behinderter Menschen. Nach den bislang aktuellsten Zahlen des Statistischen Bundesamtes gibt es von Bundesland zu Bundesland riesige Unterschiede bei der Umsetzung. In Rheinland-Pfalz waren Ende 2008 4599 Budgetnehmer registriert, in Bayern 106, in Brandenburg gerade mal drei. Wie kommt das?

HUBERT HÜPPE: Noch immer ist das Persönliche Budget zu unbekannt. Außerdem trauen die Betroffenen sich nicht und halten es für zu kompliziert. In der Tat ist das Budget mit zu vielen Vorschriften verbunden, was nicht nur die Betroffenen abhält, sondern auch die jeweiligen Sachbearbeiter der Kostenträger. Das Persönliche Budget muss einfacher werden, damit es besser angenommen wird. Wir brauchen weniger Kontrolle, entscheidend muss das Ergebnis sein. Die unterschiedlichen Zahlen in den Bundesländern sind wenig aussagekräftig. Echte trägerübergreifende Budgets sind leider überall selten.

FRAGE: Wie beurteilen Sie die für 2011 angekündigte Reduzierung des Wehrdienstes und damit auch die des Zivildienstes auf sechs Monate?

HUBERT HÜPPE: Das ist natürlich zu kurz. In dieser Zeit kann ein Zivildienstleistender keine persönliche Beziehung zu einem behinderten Menschen aufbauen. Und es geht ja auch noch Urlaub ab. Ich wäre dafür, mit Hilfe von attraktiven Fortbildungsangeboten oder Freiwilligen Diensten die jungen Männer für eine längere Zivildienstzeit zu gewinnen.

FRAGE: Welche Rolle werden ethische Fragen in Ihrem neuen Amt spielen?

HUBERT HÜPPE: Wir brauchen für alles, was wir tun, eine ethische Grundlage. Die Würde des Menschen lässt keine unterschiedlichen Qualitätsmaßstäbe zu. Sie ist unteilbar, auch für Menschen mit Behinderung. Hier weiß ich die Lebenshilfe und ihren Bundesvorsitzenden Robert Antretter an meiner Seite. Mit meiner Kranzniederlegung am Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus' wollte ich gleich ein Zeichen für die Opfer der sogenannten "Euthanasie" - richtig wäre der Begriff "organisierter Mord an Menschen mit Behinderung" - setzen. Meines Wissens bin ich der erste Beauftragte der Bundesregierung, der dies getan hat.

FRAGE: Verraten Sie uns zum Schluss noch Ihr Lebensmotto?

HUBERT HÜPPE: Mein Motto im Amt lautet: Teilhabe ist Menschenrecht!

Das Interview führten Peer Brocke und Kerstin Heidecke.


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Quelle:
Lebenshilfe Zeitung, Nr. 1/2010, 31. Jg., März 2010, S. 5
Herausgeber: Bundesvereinigung Lebenshilfe
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. März 2010