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FRAGEN/166: Ilja Seifert - Ein Verfechter des Nutzen-für-alle-Prinzips (LHZ)


Lebenshilfe Zeitung, Nr. 3 - September 2010

LHZ-SERIE: POLITIKER IN BERLIN

Zu Gast bei Ilja Seifert

Ein Verfechter des Nutzen-für-alle-Prinzips


Nacheinander befragen wir die behindertenpolitischen Sprecherinnen und Sprecher der fünf Fraktionen im Deutschen Bundestag. Immer ein Tandem aus einem Reporter mit und einem ohne Behinderung führt das Gespräch. Nico Altmann, Jonny Chambilla und Peter Pankow sind Schauspieler beim integrativen Theater Thikwa in Berlin. Sie haben sich gemeldet, als wir Interviewer/innen mit einer geistigen Behinderung suchten. Als Bühnenprofis können die Drei mit Lampenfieber umgehen. Die Gespräche werden immer in der Gruppe vorbereitet. Erst holen wir uns Informationen aus dem Internet, dann überlegen wir uns die Fragen.

Dr. Ilja Seifert stellt sich dieses Mal als Politiker in Berlin vor. Nico Altmann und Kerstin Heidecke haben ihn besucht. Seifert ist behindertenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE im Bundestag. Seit einem Badeunfall 1967 sitzt er im Rollstuhl.


FRAGE: Finden Sie das Leben als Mensch mit Behinderung leichter, weil Sie als Bundestagsabgeordneter gewisse Vorrechte haben? Wie arbeiten und leben Sie?

ANTWORT: Wir haben erkämpft, dass ich gleiche Arbeitsbedingungen habe, wie andere Abgeordnete. Dazu gehört, dass das Gebäude weitgehend barrierefrei ist. Ich habe in der Baukommission mitgearbeitet und so Einfluss nehmen können. Das war manchmal nicht einfach, weil die Architekten ihre eigenen Ideen haben. Wichtig ist etwa, dass das Rednerpult im Plenum höhenverstellbar ist.

Wie jeder andere Abgeordnete habe ich die Möglichkeit den Fahrdienst in Anspruch zu nehmen. Und ich habe eine persönliche Arbeitsassistenz.

FRAGE: Wie sind Ihre Erfahrungen im Rollstuhl - gibt es Konflikte deswegen in Ihrer Partei oder im Bundestag?

ANTWORT: Man muss immer wieder daran erinnern, dass zum Beispiel eine Rampe auf die Bühne führen muss. Da habe ich viele Mitstreiter. Wir haben in unserer Partei eine eigene Arbeitsgemeinschaft Behindertenpolitik.

FRAGE: Was ist beim Unfall passiert, der die Querschnittslähmung zur Folge hatte? Wie erleben Sie die Unterschiede zwischen Ihrem Leben davor und dem Leben im Rollstuhl?

ANTWORT: Das ist solange her. Ich lebe seit meinem 16. Lebensjahr im Rollstuhl. Statt über mich, würde ich lieber über die UN-Konvention reden.

FRAGE: Wir haben Ihr Gedicht "Die Liebe" gelesen. Dürfen wir Sie fragen, wie es bei Ihnen ist mit der Liebe und Beziehungen - und welchen Einfluss die Behinderung darauf hat?

ANTWORT: Haben Sie in meinem Gedicht das Wort "Behinderung" gelesen? Nein, Liebe hat mit Behinderung nichts zu tun. Ich denke, dass jetzt in der Behindertenbewegung eine sexuelle Befreiung stattfindet.

Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung haben die gleichen Bedürfnisse. Ich halte es für sehr wichtig, dass man Möglichkeiten schafft, dass jeder nach seinen Neigungen Lust und Liebe leben kann.

FRAGE: Sie sind sehr engagiert beispielsweise in Behindertenverbänden. Haben Sie Umgang mit Menschen mit anderen Behinderungen oder auch mit Suchtkranken oder Obdachlosen?

ANTWORT: Ich bin Vorsitzender des Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland. Das ist kein Zufall. Ich lege Wert darauf, dass jeder - unabhängig von der Art der Behinderung - das Recht hat, seinen Wohnort selbst zu bestimmen. Jeder soll arbeiten oder sich selbst verwirklichen können, Partnerschaft und Freundschaften haben. Und Suchtkranke sind eben auch psychisch beeinträchtigt. Ich habe keinerlei Berührungsängste.

FRAGE: Welche Hoffnungen und politischen Forderungen verbinden Sie mit der UN-Behindertenrechts-Konvention?

ANTWORT: Sie ist ein außerordentlich kostbares Dokument. Eine zentrale Aussage ist, dass nicht die Menschen mit Beeinträchtigungen sich der Umwelt anpassen müssen, sondern dass alles so gebaut und organisiert werden muss, dass jeder Mensch damit zurechtkommt, ob behindert oder nicht.

Adressat der Konvention sind die Regierungen in den Ländern, die dafür sorgen müssen, dass alle am öffentlichen Leben teilhaben können - damit behinderte Menschen sich nicht mehr irgendwie reindrängeln müssen. Ich bin ein Verfechter des Nutzen-für-alle-Prinzips. Zwei kleine Beispiele: Die Einhebelmischbatterie im Bad, eigentlich konzipiert für contergangeschädigte Menschen, finden fast alle Nutzer praktisch. Und Hörbücher, ursprünglich eine Hilfe für blinde und sehgeschädigte Menschen, haben inzwischen viele Fans.

FRAGE: Wie denken Sie über das Thema Inklusive Schule?

ANTWORT: Ich bin ein großer Anhänger der Inklusiven Schule. Davon sind wir aber noch weit entfernt. Inklusive Schule braucht individuelle Lernziele, wesentlich kleinere Lerngruppen, barrierefreie Gebäude und persönliche Assistenz. Hinzu kommt, dass die Lehrer die unterschiedlichen Fähigkeiten erkennen und fördern, lernen müssen.

Der juristische Kampf um den Einzug eines Kindes in die Regelschule - wie von einzelnen Eltern schon praktiziert - ist wichtig. Aber ich befürchte, es ist nicht der Weg, auf dem wir zum Ziel kommen. Schon gar nicht, solange die Kleinstaaterei im Bildungswesen gesamtstaatliche Lösungen verhindert.

FRAGE: Obwohl viele behinderte Menschen etwas leisten, haben Sie oft ein geringes Einkommen - mehr finanzieller Spielraum wäre auch mehr Selbstbestimmung. Kann man daran etwas ändern? Welche Pläne hat DIE LINKE?

ANTWORT: Sicherlich kann man daran etwas ändern - wenn man will. Ich halte das für sehr ungerecht, dass Menschen mit Behinderungen oft so ein geringes Einkommen haben. DIE LINKE wird sich dafür einsetzen, dass Menschen mit Behinderungen im Durchschnitt mindestens soviel Einkommen haben, wie Menschen ohne Behinderungen.

FRAGE: Wie war das Leben für Sie in der DDR? Wie war ihr Verhältnis zur Freiheit? Wofür haben Sie sich als Mitglied der SED eingesetzt?

ANTWORT: Ich fühlte mich nicht eingeengt. Da ich wegen meiner Behinderung Rentner war, konnte ich auch nach West-Berlin fahren.

Ich habe den Staat gemocht mit allen seinen Macken. Wir haben damals in Arbeitsgruppen das Telebussystem erkämpft, und einen Behindertenführer herausgegeben für Ostberlin mit barrierearmen Restaurants oder Museen. Ich hatte den Eindruck, ich habe Möglichkeiten, etwas zu tun. Ich hielt die DDR für den besseren deutschen Staat. Ich weiß heute mehr über Dinge in der DDR, die ich nicht gut finde.

Andererseits habe ich damals in einem halben Jahr nicht soviel über Geld nachgedacht wie heute in einer Woche. Oder darüber, ob ich meine Wohnung behalten kann, oder nicht. Damals war es allerdings ein Problem, überhaupt eine Wohnung zu bekommen.

FRAGE: Was hielten Sie von Mauer und Schießbefehl? Und wie beurteilen Sie heute rückblickend Ihre Tätigkeit als Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi?

ANTWORT: Das kann ich hier nur ganz kurz beantworten: Die Mauer war ein Fehler. Wenn Menschen sterben, weil sie ein Land verlassen möchten, ist das immer zu verurteilen.

FRAGE: Wie haben Sie die Wende erlebt? Gab es Veränderungen im Umgang mit behinderten Menschen und sind diese für Sie selbst spürbar gewesen? Was bedeutete Ihnen die Gründung der Lebenshilfe in der DDR?

ANTWORT: Wir haben in der Wendezeit einen Behindertenverband der DDR gegründet Ich habe die Gründung der Lebenshilfe in der DDR ein bißchen als Spaltung der Behindertenbewegung empfunden. Diese Aufspaltung in "Behinderungsarten" finde ich schwierig. Assistenz brauchen wir alle, nur eben unterschiedliche.

Bereits in der DDR gab es ein Gesetz, das vorschrieb, dass zehn Prozent der neu gebauten Wohnungen rollstuhlgerecht sein sollen. Es gab schon Formen der Einbeziehung von Behinderten, etwa beim Bau des Palastes der Republik. Deshalb bedauere ich auch seinen Abriss.

FRAGE: Sie haben einen Traum: Alle Ihre politischen Vorstellungen und Ziele im Hinblick auf Menschen mit Behinderung sind umgesetzt. Wie sieht die Gesellschaft dann aus?

ANTWORT: Es ist dann wesentlich leichter, verrückt zu sein - im Sinne von anders. Anders ist normal. Es wird dann so sein, dass man den Mut hat, Dinge auszuprobieren und zu denken, die man noch nicht ausprobiert hat. Jeder kann sich dann soweit wie möglich entfalten, niemand ist beeinträchtigt. Die Gesellschaft ist komplett barrierefrei. Es gibt keine Schranken.

Jeder darf die Erfüllung seiner Wünsche anstreben - nach Partnerschaft, nach Anerkennung, nach sozialer Sicherheit. Jeder soll soziale Kontakte haben, wo er zeigen kann, was er zu leisten imstande ist - und dass man nicht gezeigt bekommt, was man nicht kann. Es wird natürlich auch in so einer Gesellschaft noch Leid geben, Liebeskummer oder Eifersucht. Ganz wichtig wäre mir, dass es dann gelingt Konflikte friedlich auszutragen.


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Quelle:
Lebenshilfe Zeitung, Nr. 3/2010, 31. Jg., September 2010, S. 3
Herausgeber: Bundesvereinigung Lebenshilfe
für Menschen mit geistiger Behinderung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2010