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FRAGEN/168: Werkstätten werden aktive, mutige und kooperative Partner sein (LHZ)


Lebenshilfe Zeitung, Nr. 3 - September 2010

DAS INTERVIEW
Bernd Reinicke spricht über Inklusion beim Übergang von der Schule zum Beruf

Werkstätten werden aktive, mutige und kooperative Partner sein


Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) verfügen über vielfältige Kompetenzen und Erfahrungen im Bereich der beruflichen Bildung. Bislang wechselten junge Menschen mit geistiger Behinderung nach der Schule üblicherweise in den Berufsbildungsbereich (BBB) einer Werkstatt. Um diese "automatischen" Übergänge zu mindern und die beruflichen Perspektiven und Chancen von Menschen mit Behinderung zu erhöhen, wurden in einzelnen Bundesländern alternative Angebote zum Berufsbildungsbereich der WfbM entwickelt und eingeführt. Bereits etablierte Beispiele sind die "Kooperative berufliche Bildung und Vorbereitung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt" (KoBV) in Baden-Württemberg, "Chance 24" in Hamburg oder "Übergang Förderschule-Beruf" in Bayern. Auch andere Bundesländer beschäftigen sich derzeit mit alternativen Berufseinstiegen.


FRAGE: Herr Reinicke, sehen Sie in den alternativen Angeboten eine sinnvolle Ergänzung zum BBB der WfbM?

BERND REINICKE: Alle Angebote, die die Teilhabechancen von Schulabgängern verbessern, auch von Förderschulen mit Schwerpunkt geistige Behinderung (GB-Schulen), sind nicht nur eine sinnvolle Ergänzung. Sie sind eine notwendige Erweiterung der Teilhabemöglichkeiten. Welches Angebot für die Schüler attraktiv und geeignet ist, hängt von den jeweiligen Interessen, Fähigkeiten und dem Entwicklungspotential des Einzelnen ab.

FRAGE: Welche Chancen sehen Sie dadurch für Menschen mit Behinderung?

BERND REINICKE: Erfahrungen in der beruflichen Bildung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu machen, bietet den Schulabgängern die Möglichkeit, die Arbeitswelt in ihrer Struktur und ihren Abläufen außerhalb eines geschützten Werkstattsystems kennen zu lernen. Die Erfahrungen über Vor- und Nachteile können sehr wertvoll für die berufliche Orientierung sein. Einige Schüler werden dadurch den Weg Richtung allgemeiner Arbeitsmarkt fortführen, andere werden erkennen, dass der Berufsbildungsbereich und die WfbM bessere Rahmenbedingung und Entwicklungschancen für sie bieten.

FRAGE: Welche Gefahren und Risiken sehen Sie für Menschen mit Behinderung?

BERND REINICKE: Bei den vielen Publikationen zu den Möglichkeiten des Übergangs Schule-Beruf kann bei Menschen mit Behinderung, deren Eltern und gesetzlichen Betreuern der Eindruck entstehen, dass es ein Leichtes ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Dies kann, soweit die persönlichen Voraussetzungen und die Anforderungen des Berufsfelds nicht übereinstimmen, zu großen Enttäuschungen und Entwicklungshemmnissen bei den jungen Menschen führen.

Darüber hinaus haben Anbieter dieser Alternativmaßnahmen einen hohen Erfolgsdruck. Unter Umständen besteht die Gefahr, dass kurzfristige Erfolge einer nachhaltigen beruflichen Perspektive vorgezogen werden. Deshalb ist es sehr wichtig, dass alle Beteiligten am Übergang aus der Schule in den Beruf an realistischen und auf langfristige Teilhabe ausgerichteten Zukunftsbilder arbeiten, die durch geeignete Bildungsleistungen verfolgt werden.

FRAGE: Wie erleben Sie die praktische Umsetzung dieser alternativen Angebote? Haben Sie Verbesserungsvorschläge?

BERND REINICKE: Die intensiven Bemühungen, mehr Übergänge von Schülern aus GB-Schulen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt, z. B. durch Praktika in Betrieben, zu schaffen, sind deutlich wahrnehmbar. Die Anzahl der Praktikumsplätze und die nachhaltigen Übergangschancen sind abhängig von der Region und deren Arbeitsmarktsituation. Leider beschränken zum Teil sehr enges Zuständigkeitsdenken der beteiligten Akteure die Möglichkeiten. Solange staatliche Schulämter nur Finanzmittel verwalten und nicht die Übergangskonzepte der Bildungs- und Sozialministerien umsetzen, kann sich der Inklusionsgedanke nicht zugunsten der betroffenen Menschen entwickeln. In Brandenburg werden z.B. allgemeine Förderschulen mit dem Hinweis auf eine Regelbeschulung der Schüler mit Handicap geschlossen. Bedauerlicherweise wird der sonderpädagogische Mehrbedarf der Schüler an den Regelschulen dann nicht annähernd durch eine adäquate Assistenz im erforderlichen Umfang gedeckt.

Mittel- und langfristig wird entscheidend sein, wie der Übergang Schule-Beruf bereits in der Schule mit einer adäquaten Schulpolitik vorbereitet wird. Es ist wichtig, die Durchlässigkeit zwischen verschiedenen Bildungsangeboten zu erhöhen, Hürden abzubauen und Entwicklungspotentiale von Menschen mit Behinderung zielgerichtet zu fördern. Die Idee der inklusiven Bildung sowie der inklusiven Teilhabe am Arbeitsleben hat nur dann eine Chance, wenn alle beteiligten Akteure, auch die zuständigen Ministerien, über ihre Grenzen hinaus Verantwortung übernehmen und vorleben.

FRAGE: Wie wirken sich die Alternativen auf den Berufsbildungsbereich und die Werkstätten aus?

BERND REINICKE: Dort, wo Übergänge durch alternative Maßnahmen gelingen wird der Erfolg mit Genugtuung aufgenommen. Ich gehe bei den derzeitigen Strukturen jedoch nicht davon aus, dass sich die Zahl der zu betreuenden Menschen mit Behinderungen in den anerkannten Werkstätten durch die alternativen Angebote dauerhaft verringern wird. Dies liegt jedoch keineswegs an einer mangelnden Bereitschaft der WfbM, Übergänge vorzubereiten und zu unterstützen. Die Werkstätten werden sich dem begonnenen Prozess der Inklusion stellen und dabei aktive, mutige und kooperative Partner sein.

FRAGE: Welche Aufgaben kommen in diesem Zusammenhang der Lebenshilfe zu?

BERND REINICKE: Ausgehend von der traditionellen Struktur und Mitgliedschaft der Lebenshilfe sehe ich die derzeitige Situation der Lebenshilfe etwas ambivalent. Zum einen haben wir als Fachverband die Verpflichtung, die Inklusion maßgeblich zu fördern und deren Möglichkeiten für jeden einzelnen auszuschöpfen. Zum anderen gibt es gerade aus der Elternschaft eine nicht unerhebliche Anzahl von Angehörigen, die skeptisch mit Blick auf das Schutz- und Fürsorgebedürfnis von sehr schwer behinderten Menschen schauen und Sorge um die personenorientierte Unterstützung ihres Angehörigen haben. Insofern muss es darum gehen, alle Bemühungen im Zusammenhang mit der Vorbereitung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt, dort, wo es möglich ist, zu unterstützen.

Gleichzeitig darf nicht aus den Augen verloren werden, dass dies nur eine Form der Teilhabe am Arbeitsleben ist. Für die Mehrzahl der Menschen mit Behinderung werden die Werkstätten ein sehr guter und verlässlicher Partner der beruflichen Bildung und Teilhabe am Arbeitsleben bleiben. Die hohe Qualität und die erfolgreiche Arbeit der WfbM gilt es, von den örtlichen Lebenshilfen, den Landesverbänden und der Bundesvereinigung der Lebenshilfe transparent und deutlich zu machen. Die Schaffung und Weiterentwicklung der Teilhabeeinrichtung Anerkannte Werkstatt wird nach wie vor zu den Hauptaufgaben von Lebenshilfen im Bundesgebiet gehören!

Die Fragen stellte Jörg Hinderberger, Referent Arbeit der Bundesvereinigung Lebenshilfe.

Bernd Reinicke ist Geschäftsführer der Lebenshilfe Oberhavel-Nord, Vorsitzender des Ausschusses Arbeit der Bundesvereinigung Lebenshilfe und Vorsitzender der LAG:WfbM Brandenburg.


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Quelle:
Lebenshilfe Zeitung, Nr. 3/2010, 31. Jg., September 2010, S. 12
Herausgeber: Bundesvereinigung Lebenshilfe
für Menschen mit geistiger Behinderung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. November 2010